"Gerechtigkeit auf Dauer möglich machen". Interview avec Jean-Claude Juncker

Ady Richard: Herr Premier, was verstehen Sie unter Gerechtigkeit?

Jean-Claude Juncker: Gerechtigkeit ist ein ewiges Thema der Menschheit auf allen Ebenen. Auch im Umgang mit sich selbst. Sie darf nicht zur Selbstgerechtigkeit verkommen. Gerecht muss auch der Umgang mit anderen sein. Dies setzt voraus, dass_ man in sich selbst ruht und feste Überzeugungen hat. Man muss sich die Fähigkeit erhalten, anderen zuzuhören und auf andere einzugehen. Gerechtigkeit ist also ein anstrengender Prozess, bei dem man eigene Ansichten nuancieren muss, um sie mit Ansichten anderer zu einem neuen Ganzen heranwachsen zu lassen. Wenn niemand genau sagen kann, was gerecht ist, so besteht doch ein großer Konsens darüber, was ungerecht ist.

Ady Richard: Was bedeutet Gerechtigkeit für Sie als Politiker?

Jean-Claude Juncker: Es ist ein gesellschaftspolitischer Auftrag, dem man sich stellen muss. Wohl wissend, dass Gerechtigkeit kein objektiver Begriff ist. Aufgabe von Politik ist, Verhältnisse zu schaffen, die Gerechtigkeit auf Dauer möglich machen. Aber für individuelles Glück ist sie nicht zuständig.

Ady Richard: Kann Politik heute noch Gerechtigkeit schaffen? Hat nicht die Wirtschaft längst den Primat der Politik gekippt?

Jean-Claude Juncker: Es hat noch nie eine Zeit gegeben mit einem exklusiven Primat der Politik. Politik bleibt gefordert. Sie darf die Verhältnisse nicht so sein lassen, wie sie sind. Im Gegensatz zu Brecht möchte ich sagen: Die Verhältnisse dürfen nicht so sein!

Gerechtigkeit muss immer Ziel von Politik sein. Dies ist eine politische Pflicht. Das Ziel muss mit demokratisch legitimierten Mitteln erreicht werden. Natürlich hat man es da auch mit Kräften zu tun, die sich der Gerechtigkeit in den Weg stellen.

Ady Richard: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zum Kapitalismus beschreiben?

Jean-Claude Juncker: Ich wurde am 20. Januar 1990 Präsident der CSV. Ich habe schon damals, nach dem Zerfall des Kommunismus, vor einem Schnellschluss gewarnt, der Kapitalismus würde alles richtig machen. Viele haben diesen Fehler begangen. Doch Kapitalismus in seiner spontanen, natürlichen Konsequenz produziert keine Gerechtigkeit. Kapitalismus und Liberalismus produzieren per se keine Solidarität. Gerechtigkeit und Solidarität sind stets Konsequenzen politischen Handelns. Und kein Ergebnis des Spiels der freien Kräfte des Marktes.

Ady Richard: Dies scheint aber auf europäischem Parkett nicht immer vermittelbar zu sein ...

Jean-Claude Juncker: Wir leben in Europa im Gedankendiktat eines falsch verstandenen Liberalismus, der als Neoliberalismus eigentlich nur schemenhaft richtig beschrieben wird. Liberalismus ist ja als freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung nichts was man a priori ablehnen müsste. Jeder Christdemokrat ist auch – zu einem Teil – liberal. Aber die Transposition der liberalen Freiheitsprinzipien und einer grenzenlosen Freiheit hinein in Wirtschaft und Soziales produziert Ungerechtigkeit. Sie braucht Überprüfung durch das nachhaltige Wirken der Politik.

Ady Richard: Wie verstehen Sie diesen Überprüfungsprozess von Wirtschaft und Sozialem?

Jean-Claude Juncker: Diese Arbeit ist für Politik nie abgeschlossen. Die Schaffung von gerechten Strukturen der Wirtschaft in Luxemburg, Europa und vor allem der Welt – die Weltwirtschaftsordnung bleibt nämlich fundamental ungerecht – stellt sich jederzeit neu.

Ady Richard: Was denken Sie angesichts der himmelschreienden Ungerechtigkeiten gerade in Afrika, Lateinamerika, Asien?

Jean-Claude Juncker: Solange jeden Tag 25 000 Kinder an Hunger sterben, ist die Welt nicht gerecht. Alle politischen Entscheidungen sind immer darauf zu prüfen, inwiefern sie weltweit zu absoluter Ungerechtigkeit, also zum Sterben von Menschen, führen. Die Aufgabe der Kirche, von Christen, von Christdemokraten, von anderen Politikern, die das Grundgerüst dieser Auffassungen teilen, ist nicht vollendet, solange Menschen an Hunger oder Durst sterben. Gerechtigkeit ist und bleibt ein Weltthema. Dies beinhaltet allerdings das Risiko, dass manche zuhause, nicht verstehen, warum manche Dinge weltweit gemacht werden müssen. Dennoch müssen wir diese Dinge tun.

Ady Richard: Trifft dies auch auf das angestrebte ein Prozent Entwicklungshilfe zu?

Jean-Claude Juncker: Die Luxemburger sind in ihrer großen Mehrheit bereit, Entwicklungshilfe zu leisten. Sie wären dies wahrscheinlich nicht, wenn sie dafür ihren eigenen Lebensstandard herabsetzen müssten. Und es ist in jedem Fall einfacher, Premier von Luxemburg als Premier von Mali zu sein.

Ady Richard: Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht" lautet das Thema des Katholikentages. Was bedeutet dieses "vor Gott" für Sie?

Jean-Claude Juncker: Man muss als Mensch vor Gott seinen Gerechtigkeitswillen verantworten. Gerechtigkeit vor Gott ist keine andere als jene vor den Menschen. Ich habe mich immer geweigert, meinem politischen Engagement eine überzogene religiöse Begründung zu geben.

Allerdings muss Glaube auch ein kollektives Bemühen sein. Ich mache mit Religion keinen Staat.

Ady Richard: Wie sehen Sie Ihre Mitgliedschaft in der christlich-sozialen Partei CSV?

Jean-Claude Juncker: Die CSV ist christlich orientiert. Dies bedeutet nicht Kirchenpartei. Ich verkenne nicht, dass sich aus allgemeinen christlichen Prinzipien, die auch von Nicht-Christen geteilt werden, Handlungsmaximen ableiten lassen.

Ady Richard: Was bedeutet in diesem Zusammenhang Christliche Soziallehre für Sie?

Jean-Claude Juncker: Wenn ich mir Gerechtigkeit praktisch vorstelle, bin ich mit beiden Füßen und ganzem Herzen mitten in der Christlichen Soziallehre. Und besonders, weil ich diese besser kenne, in der Katholischen Soziallehre. Ich denke da an die Würde des Menschen, besonders des arbeitenden Menschen. Es ist auch eine Einstellung zur Würde der Arbeit. Es ist auch der Versuch, auf den gesellschaftlichen Konflikt zwischen Arbeit und Kapital ausgleichend zu wirken. Bei der Suche nach Ausgleich gilt es, nicht die Schwachen zu vergessen. Die Welt war so, ist so und wird auch leider so bleiben. Die Politik muss der unterschiedlichen Belastbarkeit der Menschen Rechnung tragen.

Ady Richard: Sie sprechen am Samstag in Saarbrücken zum Thema "Europa: Welt- oder Wertemacht?" Was wird Ihre Botschaft sein?

Jean-Claude Juncker: Europa muss Wertemacht in der Welt sein. Es steht in Verantwortung. Auch als globale Friedensmacht. Es darf sich nicht mit den Verhältnissen in der Welt abfinden.

Ady Richard: Wie ist Ihre Teilnahme am Deutschen Katholikentag zu bewerten?

Jean-Claude Juncker: Ich gehe am Samstag nach Saarbrücken, weil es mitten in unserer Großregion ist. Ich habe auch Respekt vor dem Engagement von Zehntausenden von Menschen, die sich eine Woche lang mit dem Thema Gerechtigkeit beschäftigen. Dies ist außergewöhnlich in unserer Gesellschaft. Hinzu kommt, dass ich an Gott glaube. Daraus leite ich aber keinen Absolutheitsanspruch ab. Ich bin eben auch ein gläubiger Mensch und als solcher gerne mit anderen gläubigen Menschen zusammen.

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