Interview de Jean-Claude Juncker au sujet de l'avenir de l'Europe

Alexander Kähler: Dem Premierminister von Luxemburg, dem politischen Schutzherrn unserer gemeinsamen Währung als Chef der Eurogruppe, und dem diesjährigen Preisträger des internationalen Karlspreises zu Aachen, herzlich willkommen bei Phoenix.

Jean-Claude Juncker: Hallo.

Alexander Kähler: Herr Premierminister, ist es nicht beruhigend, wie viele gute Europäer es gibt, dass es so lange gedauert hat bis auch Sie diesen renommierten Preis zuerkannt bekamen? Immerhin sind Sie ja der dienstälteste Regierungschef der Europäischen Union, und haben sich um diese Union auch sehr verdient gemacht.

Jean-Claude Juncker: Ich habe mich, so schreibt man, so sagt man, um diese Europäische Union verdient gemacht. Ich mag dieses Lob sehr, ich finde es auch einigermaßen objektiv. Aber ich habe mich nicht um den Karlspreis beworben, das bewegt sich auf einen zu. Und wenn ich mir die Reihe derer, die diesen Karlspreis vor mir gekriegt haben, ansehe, werde ich eher bescheidener, obwohl es einen oder zwei gibt, von denen ich denke, ich wäre mindestens fast so gut wie die.

Alexander Kähler: Sie sind ja nicht der erste Luxemburger, der diesen Preis bekommt. 1960 war es Joseph Bech, der damalige Parlamentspräsident Ihres Landes, und dann 1986 ein Kuriosum: Nicht eine Luxemburgerin oder ein Luxemburger, sondern alle Luxemburger bekamen den Karlspreis verliehen. Insofern sind Sie ja schon zum zweiten Mal Preisträger als Luxemburger. Das luxemburger Volk wurde ausgezeichnet, sind denn die Luxemburger ein Vorbild für andere Europäer, was das Bekenntnis zu und die Freude an Europa angeht?

Jean-Claude Juncker: Ich würde die Luxemburger nicht gerne als Beispiel geben, für andere bezeichnen wollen, obwohl ich denke, einige könnten sich ein Beispiel an uns nehmen. Ich glaube, dass auch die Luxemburger europamüder geworden sind als sie dies beispielsweise 1986 waren, als dem luxemburgischen Volk der Karlspreis zuerkannt wurde. Es ist soviel passiert seit 1986 in Europa und um Europa herum, dass die Menschen ein bisschen zukunftsmüde geworden sind, weil das auch so anstrengend bei der Bewältigung war.

Es hat den Umsturz in Ost- und Mitteleuropa gegeben, es hat das völlige Ausradieren der Sowjetunion gegeben, es hat in Europa und an der direkten Peripherie Europa die Entstehung von 30 neuen Staaten gegeben. Wir haben den Euro gemacht, wir waren dabei den europäischen Binnenmarkt zu vervollständigen, wir haben die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa gemacht - ein dichtes Programm das den Menschen viel Einsichten abverlangt hat, viel Anstrengung auch abverlangt hat. Und ja, ja wir sind noch immer sehr gute Europäer, auch der europäischen Zukunft zugewandt. Aber wir sind etwas träger geworden als wir dies in unseren Spitzenzeiten einmal waren.

Alexander Kähler: Immerhin hat das luxemburgische Volk ja im vergangenen Jahr durch das Referendum die europäische Verfassung zumindest vorläufig gerettet. In zwei Ländern ist das ja abgelehnt worden.

Jean-Claude Juncker: Also wenn die Luxemburger am 10. Juli letzten Jahres als das Referendum, die Volksbefragung über die europäische Verfassung, in Luxemburg stattfand, Nein gesagt hätte, dann würde niemand mehr von der europäischen Verfassung oder vom europäischen neuen Vertragswerk reden können. Wir haben diesen Vertrag nicht gerettet, aber wir haben die Hoffnung am Leben gehalten, dass es in Europa weiter geht. Und es wird auch, egal was passiert, nie so sein können, dass das wozu die Luxemburger ihr Ja gegeben haben, dass dies sich jetzt dramatisch im negativen europäischen Abwärtstrend verändern würde.

Alexander Kähler: Gleichwohl ist Europa in der Krise, und das ist möglicherweise noch höflich formuliert. Zwei Gründungstaaten, ich habe es schon erwähnt, der EU haben die Verfassung abgelehnt. Die Regierungen sind in wichtigen Fragen tief zerstritten. Nach dem EU-Gipfel zum Abschluss der luxemburgischen Präsidentschaft vor einem Jahr zitiert Sie die Stuttgarter Zeitung mit dem Satz: „Meine Europabegeisterung hat heute einen tiefen Knacks bekommen.“ Kommt Europa vom Kurs ab?

Jean-Claude Juncker: Meine Europabegeisterung war am anderen Morgen wieder integral. Insofern hat die Stuttgarter Zeitung, oder die Stuttgarter Nachrichten, ich weiss nicht mehr recht, eine vorläufige, nur halbwahre, falsche Meldung verbreitet.

Was ist eigentlich in Europa los? Man muss sich dies einmal nüchtern anschauen, ohne gute Noten oder schlechte Noten, Punkte so oder so zu verteilen. Wissen Sie, früher, als wir noch jung und klein und schöner waren, in den 50ger, 60ger und 70ger Jahren, wollten alle in Europa mehr Europa - die Regierungen, die Völker auch. Die Völker haben damals den Regierungen den Vorwurf gemacht, die Regierungen würden nicht schnell genug weitermachen. Die Völker wollten viel schneller weiter schreiten.

Heute ist das anders. Heute gibt es 50% der Menschen in Europa, die möchten mehr Europa haben, und dazu gehöre ich. Sie hoffentlich auch, wenn nicht, werde ich Sie noch in der nächsten halben Stunde davon überzeugen. Und es gibt 50% der Menschen die finden, wir haben heute schon Europa genug.

Es ist irrsinnig kompliziert geworden die europäische Schnittmenge zu finden, was die Entscheidungsdichte und die Entscheidungsinhalte anbelangt, weil die Hälfte der Bevölkerung ist immer dagegen. Und die Hälfte derer die eigentlich für mehr Europa sind, ist zur Hälfte immer unzufrieden, weil es nicht genug ist. Das ist die europäische Krise, dass dies kein Projekt mehr ist, das von allen in Europa geteilt wird, sondern nur noch von einer Hälfte und die kann man nie zufrieden stellen, weil man nie weit genug geht. Das ist das eigentliche Ambiente, in dem wir uns bewegen. Und das die Politik nicht verändern kann. Man kann keine Brücke schlagen zwischen denen, die denken, man hat Europa zu viel, und denen die denken, man hat nicht Europa genug. Da gibt es keine.

Alexander Kähler: Aber vielleicht gibt es ja Gründe für diese Krise. Sie selbst haben ja einen genannt. Von Ihnen stammt der Satz: „Man kann für Europa nichts auf den Weg bringen, wenn man die Menschen nicht liebt.“ Beherzigt das die politische Klasse in Europa zu wenig?

Jean-Claude Juncker: Beherzigen das die beiden Hälften der Bevölkerung in Europa? Das ist die andere Frage. Auch die beiden Hälften müssen sich untereinander mögen. Man kann ja nicht nur Liebesleistungen von der Politik erwarten. Man muss auch die Bereitschaft zum sich mögen von den europäischen Völkern verlangen, intern in jedem Einzelstaat und auch über die Grenzen hinweg.

Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir satt geworden sind. Nicht so sehr im materiellen Sinn, aber dass wir uns so irrsinnig schwer damit tun uns noch in die europäische Gründerzeit zurückzuversetzen.

Wissen Sie, diejenigen die am Ende des Zweiten Weltkrieges - das ist lange her aber es war gestern Abend - von den Frontabschnitten und aus den Konzentrationslagern nach Hause kamen, die hätten ja jeden Grund der Welt gehabt, zukunftsfaul zu sein. Die haben die Arme hochgekrempelt und haben aus diesem ewigen Nachkriegssatz: „Nie wieder Krieg“ ein politisches Programm für einen ganzen Kontinent gemacht und haben wirklich etwas auf die Wege gebracht, und etwas erhalten, was wir nicht gefährden dürfen.

Wenn ich die Larmoyanz unserer Tage vergleiche mit der Aufbruchstimmung damals, die ich ja nur noch halb mitgekriegt habe, weil ich bin Ende 1954, Anfang 1955 geboren. Ich habe also so gegen 1960 die Welt zur Kenntnis genommen, und die mich auch viel später noch, dann bin ich fast beschämt. Als alles vorbei war, als nichts mehr ging, als alles kaputt war, als die Menschen am Ende waren, und die Länder eigentlich nicht mehr substantiell bestanden, haben die Menschen sich aufgemacht um etwas Großartiges zu schaffen. Und wir sind ja nur die fahlen Erben, eigentlich, des Lebenswerkes derer, die Hitler die Jugend gestohlen hatte. Und wir beklagen uns über die Mühsal der Zeit, anstatt unsere Arbeit zu tun.

Und wir müssen auch, meine Generation, unserer Generation, dies leisten, was die Geschichte von uns erwartet, nämlich die europäischen Dinge dingfest zu machen. Die, die im Jahre 2030, 2040 Europa regieren werden, unsere Gesellschaften animieren werden, die werden doch von Hitler und Stalin so wenig wissen, wir wir beide von Wilhelm II und Clemenceau. Wir müssen dies jetzt tun.

Alexander Kähler: Also das eine klingt etwas deprimiert. In den Zeitungsinterviews vor einigen Tagen haben Sie gesagt, in Europa herrsche derzeit mehr Erschöpfung als Begeisterung. Haben Sie sich damit auch selbst gemeint?

Jean-Claude Juncker: Also es täte mir Leid, wenn ich einen erschöpften Eindruck hier machen würde.

Alexander Kähler: Was die Europabegeisterung angeht.

Jean-Claude Juncker: Nein, ich finde, dass die Europabegeisterung eben nicht mehr die ist, die es früher mal gab. Das hat auch irgendetwas Normales eigentlich an sich und für sich, dass nach Jahrzehnten größter Mühsal auch, die Kräfte ein bisschen erschlaffen. Aber wir dürfen halt nicht zulassen, dass wir uns vom Weg abbringen lassen. Wir müssen echt etwas tun, auch unsere Generation, damit dieser europäische Traum weiter geträumt werden kann. Nicht nur für uns, auch für viele Menschen in der Welt, die auf Europa blicken, hoffnungsvoll auf Europa blicken. Europa ist nicht mit sich selbst fertig, wenn es mit sich selbst fertig ist. Wir haben auch einen Auftrag in der Welt zu erfüllen, eine Bringpflicht der Welt gegenüber. Und dafür müssen wir die Menschen neu begeistern.

Man kann, wie ich weiß, Europa nicht nur damit begründen, dass dies ein Friedensprojekt wäre. Es ist ein Friedensprojekt, aber jüngere Menschen können mit dem Thema nicht alles anfangen, weil Frieden zur Selbstverständlichkeit herangereift ist, oder sollte ich sagen verkommen ist, ich sage lieber herangereift ist. Wir müssen Europa auch wirtschaftlich begründen. Wir müssen Europa völkerverständigungsmässig begründen, und wir müssen Europa als Auftrag für den Rest der Welt neu begründen und neu formulieren.

Alexander Kähler: Welche Rolle kommt in diesem Zusammenhang eigentlich Deutschland zu. Wir haben ja seit dem letzten Spätherbst eine Bundeskanzlerin, Angela Merkel, die auch einen Neustaat, der Neustaat der Berliner Europapolitik versucht hat, auch in Abgrenzung zu ihrem Vorgänger. Jetzt heisst es sogar, Angela Merkel würde in Europa in eine Führungsrolle wachsen. Ist das richtig?

Jean-Claude Juncker: Deutsche Bundeskanzler können sich der natürlichen Führungsrolle, die für sie bereit steht, nie entziehen. Deutschland ist das größte Mitgliedsland der Europäischen Union, von den meisten Nachbarn umgeben, wie kein anderes Land auch auf die Freundschaft anderer angewiesen, wie auch alle anderen Länder auf das Wohlwollen der Bundesrepublik Deutschland angewiesen sind.

Es gehört zur guten deutschen Tradition, dass alle Bundeskanzler, im Übrigen ohne Ausnahme, entweder von Anfang an oder ab irgendwann, sehr europaintegrierend tätig waren. Auch der Vorgänger von Frau Merkel, Gerhard Schröder. Und Frau Merkel ist eine in sich selbst ruhende europäische Persönlichkeit, das Europäische ist ihr nicht fremd. Sie hat sich das in vielen Jahren angeeignet. Ich habe sie immer wieder getroffen, auch als sie noch Oppositionschefin war.

Ich halte es für einen Glücksfall europäischer Nachkriegsgeschichte, dass alle deutschen Bundeskanzler immer auch, und ohne Ausnahme, Europakanzler waren.

Alexander Kähler: Wer in Europa führt, auch wenn es Ihm natürlich zuwächst, bei dem sollte zu Hause eigentlich alles in Ordnung sein. Sie sind ja gleichzeitig neben dem Premierminister von Luxemburg, in Personalunion Finanzminister. Haben Sie Vertrauen in die aktuelle Finanz- und Fiskalpolitik in Deutschland?

Jean-Claude Juncker: Ja.

Alexander Kähler: Auch dass man versucht die Staatsverschuldung in Deutschland, zum Beispiel, vor allen Dingen durch Steuererhöhungen abzubauen?

Jean-Claude Juncker: Ich sehe sowohl bei der Bundeskanzlerin als auch beim Bundesfinanzminister, meinem Kollegen Steinbrück, den festen Willen die deutsche Kassenlage wieder in einen Zustand zu befördern, dass sie wieder den Auflagen des europäischen Wachstums- und Stabilitätspaktes entspricht. Dies wird die deutsche Finanzpolitik auch bis Ende 2007 geleistet haben. Es ist Sache der deutschen Innenpolitik, und der Ausgestaltung deutscher Politik, Inhalte wie man dieses Ziel zu erreichen gedenkt. Dass dies teilweise über den Weg von Umänderungen im Steuerbereich passiert, ist souveräne Entscheidung der Deutschen. Im Übrigen sehe ich nicht, wie man es anders machen könnte.

Alexander Kähler: In Deutschland hat sich ja nach den Turbulenzen des vergangenen Jahres die politische Lage wieder etwas beruhigt. Wie handlungsfähig ist Europa eigentlich derzeit? Oder will es vielleicht gar nicht handlungsfähig sein? Wenn Sie sich die politische Situation in Frankreich ansehen, im Vereinigten Königreich, in Italien, oder in Polen, das sind ja die Länder die zusammen mit Deutschland die Korsettstangen der Europäischen Union sein sollten.

Jean-Claude Juncker: Wenn in dem Korsett nur die Stangen stecken würden, dann wäre dieses Korsettgefüge nur ein vorübergehender Körperschutz. Es braucht mehr Stangen in dem Korsett, als nur die Stangen die Sie, indem Sie ihre Nationalität bezeichneten, hier aufgeführt haben. Aber dass dies besonders tragende Korsettstangen sein müssen, steht außer Frage.

Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, die Europäische Union ist ja nicht das was die Amerikaner unter Vereinten Staaten verstehen. Wir möchten ja nicht die Vereinten Staaten von Europa haben. Nationalstaaten sind kein Provisorium der Geschichte, sondern bleibende Elemente europäischer kontinentaler Ordnung.

Und dann gibt es noch die Europäische Union, die den Nationalstaaten ihre Schärfe nimmt, und ihnen neue kollektive Spitzen gibt, damit die Nationalstaaten besser gemeinsam handeln können. Aber das heißt auch, dass wir uns immer mit dem Problem a) beschäftigen und b) herumplagen müssen, dass es in einigen Ländern unklare Regierungsverhältnisse gibt, oder unklare politische Verhältnisse.

Dies ist in Italien teilweise der Fall, obwohl Italien jetzt eine neue Regierung hat. Aber man weiß nicht wie stabil diese Regierungslage ist. Über das Thema Frankreich möchte ich mich als Freund der Franzosen lieber ausschweigen in diesem Gespräch.

Deutschland ist eigentlich die festgefügteste politische Ordnung unter den Grossen in der Europäischen Union. Und Deutschland wird ab 1. Januar 2007 den Vorsitz in der Europäischen Union übernehmen. Und ich sehe diesen Vorsitz, von dem ich mir denke, dass er ein gestaltlicher sein wird, mit großem Vertrauen entgegen.

Alexander Kähler: Diese innenpolitischen Probleme dieser Länder, die ich aufgezählt habe, die scheinen ja aber zu Lasten der europäischen Integration zu gehen. Kommt denn der Nationalismus in Europa wieder in Mode?

Jean-Claude Juncker: Nun stellen Sie sich einmal eine Sekunde vor, oder zwei oder fünf, es gäbe diese innenpolitischen Probleme in diesen Ländern nicht, oder vielleicht noch größer, und es gäbe die Europäische Union nicht. Wie würde es dann auf unserem Kontinent aussehen? Dann wären ja diese Länder, die mit diesen Problemen zu tun haben, man kann ja Großbritannien mühelos hinzufügen, die wären so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass Politikgestaltung eigentlich immer auf Kosten der Nachbarn stattfinden würde. Wer nur aus Gründen der Suche nach nationaler Kohäsion, nationale Kohäsion findet man schneller auf Kosten der anderen, als in sich selbst. Insofern ist die Europäische Union eigentlich ein abmilderndes Element dieser krisenhaften innenpolitischen Erscheinung die es immer wieder, und in zunehmender Zahl in Europa gibt.

Aber es gibt so etwas wie die Renaissance des Nationalstaates, das sehe ich schon. Das hat im Übrigen auch damit zu tun, dass die Europäische Union sehr oft den Eindruck gegeben hat, dass es den Nationalstaat nicht mehr gäbe. Als ob man so etwas wie die nationalen Regierungen, nationale Parlament überhaupt nicht mehr bräuchte, sondern als ob Europa genügte. Die europäische Planierraupe, die alles platt walzt was es an Nationalstaatlichem, und an Regierungs- und Parlamentszeitigem noch gibt. Das führt zu Auflehnung und zu einem sich Zurückbesinnen auf das essentiell Nationale, was nicht notwendigerweise ein zu verdammender Prozess ist, aber den man eingrenzen muss. Nationalismus oder das sich besinnen auf nationale Interessen ist nicht per se schlecht, aber es darf nie auf Kosten der anderen gehen.

Alexander Kähler: Ja, aber es kommt ja nicht von ungefähr, wenn ein Mitglied der Kommission in Brüssel, in Anspielung auf das einstige Bollwerk zwischen Deutschland und Frankreich, vor politischen Maginot-Linien warnt. Möglicherweise in Anspielung auf die Äußerung von Frankreichs Regierungschef Dominique de Villepin, der vom ökonomischen Patriotismus spricht.

Jean-Claude Juncker: Ich mag den Ausdruck ökonomischer Patriotismus nicht sehr Aber ich mag sehr die Einstellung die es in einzelnen Regierungen gibt, auch in meiner, die darin besteht, über den Lauf der Zeit, und über das was sich in der Wirtschaft tut, Fragen zu stellen.

Man darf ja nicht vergessen, dass die politisch legitimierten Kräfte in den Nationalstaaten, und in der Europäischen Union auch rechenschaftspflichtig gegenüber denen sind, die sie in ihre Ämter gewählt haben. Und nicht nur denen gegenüber die sie gewählt haben, sondern dem ganzen Volk gegenüber.

Und dann muss man sich auch manchmal mit den Fragen, die die Politik formuliert beschäftigen. Das klingt dann nach ökonomischem Patriotismus, oder nationalem Protektionismus. Aber wenn das Schicksal von zehntausenden Menschen auf dem Spiel steht, beispielsweise von Stahlarbeitern, dann muss zum Beispiel ein luxemburgischer Regierungschef, vor allem wenn die luxemburgische Regierung auch noch Hauptaktionär in einer Stahlgesellschaft ist, doch einige Fragen stellen dürfen. Also ich bin sehr dagegen, dass einige im Wirtschaftsbetrieb so tun, als ob sie die Helden und wir die Idioten wären. Das ist eine etwas gemischtere Veranstaltung.

Alexander Kähler: Wir empfinden diese sogenannte Globalisierung, wie wir sie nennen, ja als bedrohlich. Die Abwehrreflexe, Sie haben es gesagt, verstärken sich. Sie selbst haben ja sogar ein gewisses Verständnis für diese Abwehrreflexe. Sie sagen flotte Sprüche zur Deregulierung und Flexibilisierung, empfinden viele Arbeitnehmer geradezu als Kriegsvokabular. Aber wenn wir nicht zu dieser, nennen wir es jetzt Globalisierung, kommen, diesem internationalen Wettbewerb, wenn wir uns da anpassen, dann kommt doch die Globalisierung zu uns, und wird uns sagen was wir zu tun haben.

Jean-Claude Juncker: Also wir haben die Globalisierung zu den anderen getragen, bevor die Globalisierung, die von anderen getragen wurde, zu uns kam. Und wir sind jetzt ein bisschen überrascht, dass andere in der Welt, die auch Lust auf Sonne haben, sich auch auf unseren Märkten ein bisschen breiter machen. Ich kann nicht erkennen, wieso das im Prinzip schlecht sein soll. Ich bin nur dagegen, dezidiert dagegen, dass eine Globalisierung um sich greift, die ohne Regel und ohne Scheu und ohne Zurückhaltung sich einfach über unsere Industrienationen hermachen würde.

Ich gebrauche das Bild von den Heuschrecken nicht gerne. Aber gäbe es sie, und es gibt sie, dann würde ich mich doch immer Heuschrecken in den Weg stellen wollen, indem ich darauf aufmerksam mache, dass es so etwas gibt, wie normale Menschen. Die stehen morgens auf und gehen zur Arbeit, die arbeiten auf 3 Schichten, arbeiten morgens, mittags und nachts.

Und es kann doch nicht so sein, in dieser globalisierten Welt, dass Hedgefonds die in New York angesiedelt sind, Pensionfonds die in London angesiedelt sind, auf Grund ihrer kurzfristigen Gewinnerwartung über das Schicksal von zehntausenden von Familien in unseren alten und neuen Industrieregionen bestimmen. Das ist doch nicht die Welt die wir gewollt haben, das ist doch nicht das Europa das wir haben wollen. Wir brauchen auch den normativen Zugriff der politischen Gestaltungsgewalt. Und die politische Gestaltungsgewalt ist eine demokratisch legitimierte Gewalt. Und ich bin sehr dagegen, dass man die Politik ins ordnungspolitische Abseits drückt, und eigentlich nur den freien Kräften des Marktes das Spiel überlassen will.

Alexander Kähler: Aber gerade in der Ordnungspolitik tut sich Europa ja auch schwer, da einen einheitlichen Rahmen zu geben.

Jean-Claude Juncker: Ja, weil auch unterschiedliche Kulturen aufeinander stoßen. Hat jemals jemand behauptet, die europäische Einigung wäre ein einfacher Prozess? Es ist schon schwierig Ostdeutschland und Westdeutschland zu einer Einheit zusammenzuführen. Es ist schon schwierig die verschiedenen föderalen Befindlichkeiten der Bundesrepublik in einem großen Ganzen sich so resümieren zu lassen, dass sich daraus eine Politik aus einem Guss entwickeln kann.

Wieso denkt man eigentlich, oder denken Deutsche die sehen, wie Bundesrat und Bundestag sich manchmal schwer taten in der verflossenen Legislaturperiode, dass die Dinge in Europa einfacher wären?

Wir sind 25 Staaten, mit 25 Regierungen, über 100 politischen Parteien, die an diesen 25 Regierungen beteiligt sind. Jetzt mit den 12 italienischen Koalitionsparteien sind es sogar mehr als 100. Ja denkt man, man könne Demokratie in Europa abschaffen? Und wieso denkt man immer, wenn wir in Europa nicht zu Potte kommen, wir wären in einer europäischen Krise? Ich habe die Krise vorhin beschrieben, ich beschwichtige das nicht. Aber die Tatsache, dass wir uns nicht immer sofort einigen können, hat auch etwas mit demokratischer Debatte zu tun.

Alexander Kähler: Es soll ja aber auch bei den, wenn Sie es schon ansprechen, bei den 25 Staaten gar nicht bleiben. In einer solchen Stimmungslage hat die Erweiterung der Europäischen Union ja keine besonders gute Konjunktur. Werden denn Rumänien und Bulgarien, die jetzt zum 1. Januar 2007 wahrscheinlich aufgenommen werden, für lange Zeit die letzten neuen Mitglieder der Europäischen Union sein?

Jean-Claude Juncker: Ich vermag das nicht abzusehen. Ich bin nicht der Meinung, dass wir jetzt weitere Erweiterungsrunden im Galopp hinter uns bringen sollten. Nein. Mit Ausnahme Kroatiens, das für mich, falls es die Beitrittsbedingungen erfüllt, ohne jeden Zweifel zur europäischen Kernfamilie gehört, denke ich mir, dass weitere Beitritte sich auf einem Zeithorizont abspielen, der sich nicht dadurch auszeichnet, dass man ihn als sofortigen bezeichnen könnte.

Alexander Kähler: Ist die Diskussion über die Finalität Europas damit beendet?

Jean-Claude Juncker: Die Finalität Europas wurde mehr als nur versuchsweise in dem europäischen Verfassungsvertrag als Fragestellung und als Antwortgebung relativ offensiv angegangen. Wir wollen nicht die Vereinten Staaten von Europa, sondern mehr an Europa dadurch dass wir essentielle Souveränitätsattribute die Nationen allein nicht mehr ausfüllen und ausführen können, auf europäische Ebene zum Gewinn des Ganzen, zum Gewinn jedes einzelnen, zusammenführen.

Wir haben in diesem Verfassungsvertrag klar festgelegt, was die Europäische Union tun soll, nämlich das was sie besser kann als die Nationalstaaten, und dass die Nationalstaaten den größeren Kompetenzraum haben. Die Verfassung hat eigentlich den Anspruch einiger in der Europäischen Union, alles alleine in eigener Regie machen zu können, definitiv als zu beendigenden Versuch erklärt.

Also ich finde schon, dass wir der Beantwortung der Finalitätsfrage, obwohl man sie nie wird vollumfänglich beantworten können, durch diesen europäischen Verfassungsvertrag, der leider Gottes in Paris und in Den Haag abgelehnt wurde, viel näher gekommen sind. Viel näher jedenfalls als wir jemals an dieser Frage Beantwortung waren.

Alexander Kähler: Sie haben ja jetzt vorgeschlagen, nach einer gewissen Schamfrist dieses Verfassungsvertrag, in den Niederlanden und in Frankreich noch einmal zur Abstimmung vorzulegen. Nicolas Sarkozy, der französische Innenminister, der möglicherweise seine politische Zukunft noch vor sich hat in Frankreich, lehnt aber genau das ab. Er könne sich nicht vorstellen, nochmals den gleichen Verfassungstext, zumindestens in Frankreich, der Bevölkerung vorzulegen. Wird die Verfassung noch ratifiziert, und wenn Ja, wann?

Jean-Claude Juncker: Ich bin der Meinung, dass wir diesen Verfassungsvertrag brauchen. Wir sollten ihn nicht unbedingt Verfassungsvertrag, sondern europäischen Grundvertrag nennen.

Ich bin nicht der Meinung, aus luxemburgischer Sicht heraus, dass alles was wir in den Vertragsentwurf aufgeschrieben haben, auch in dem dann endgültig ratifizierten Vertrag stehen muss. Aber die Substanz dessen, was wir in die europäische Zukunft hineingeschrieben haben, das muss auch in einem, wie auch immer gearteten, neuen Vertragswerk wieder zu finden sein. Das weiß auch Herr Sarkozy, und er wird es im Übrigen auch nicht verhindern können.

Alexander Kähler: Noch einmal zum Anfang. Beherzigen wir Europa zu wenig? Von Ihnen ist es als überliefert, wer an Europa zweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen?

Jean-Claude Juncker: Ja, ich glaube dass der Satz stimmt. Wann immer ich dies tue, es gehört ja nicht zu meinen Lieblingsfreizeitbeschäftigungen, aber wann immer ich einen Soldatenfriedhof in Europa besuche, dann stelle ich mir über die Notwendigkeit des europäischen Einigungsprozesses während des Gräberganges, und nach der Abfahrt von dem Friedhof überhaupt keine Frage mehr. Wer wie hier in Luxemburg, tausende amerikanische Soldatengräber besuchen kann, und auch viele deutschen Soldatengräber, auch diese jungen deutschen Soldaten was hatten die denn mit dem ganzen Blödsinn zu tun? 18, 19 Jahre, 17 Jahre, 16 Jahre, was soll denn das? Sollen wir einfach dadurch dass wir kein europäisches Risiko eingehen, wieder dieses Risiko eingehen, dass eines Tages wieder derartiges passiert? Ein Blick auf das Alter der Soldaten, die gefallen sind, müsste reichen, damit man sich jeden Tag aufs Neue für die europäische Einigung begeistert.

Alexander Kähler: Mit 28 Jahren bin ich in die Regierung gekommen, sagen Sie, „Seither habe ich weniger Freude an den Dingen des Lebens, an denen sich andere Menschen erfreuen.“

Bevor Sie sich auf eine Harley Davidson schwingen, und durch die gewundenen Flusstäler des Großherzogtums sausen, was bleibt für Sie noch zu tun?

Jean-Claude Juncker: Es gibt ja vieles was einem nicht so gefällt, aber es gibt immer wieder Momente wo es einem gut geht, wo man Freude an dem hat, was man tut. Zum Beispiel jetzt, wo ich mich mit Ihnen ja sehr locker und sehr angenehm unterhalten kann. Jemand der 10 oder 12 Stunden am Tag arbeitet, oder halt 8, der hat ja die halbe Stunde nicht in seinem Tageswerk, die ich jetzt mit Ihnen hatte. Also lohnt sich das immer wieder mit jemandem über Europa zu reden, und für Europa sich zu engagieren, die europäische Begeisterung wieder anzufachen, das Feuer nicht erlöschen zu lassen. Und das mit Ihnen tun zu können, ja das war mir eine angenehme Freude. Deshalb mache ich das, was ich tue auch sehr gerne.

Alexander Kähler: Soweit Jean-Claude Juncker, Premierminister von Luxemburg, dieses Jahr Karlspreisträger. Herzlichen Dank, dass Sie bei Phoenix waren.

Jean-Claude Juncker: Bitte sehr.

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