Vorfahrt für Europa. Nicolas Schmit au sujet du traité établissant une Constitution pour l´Europe

Stefan Kunzmann: Vor etwa einem Jahr haben Franzosen und Niederländer per Volksentscheid gegen den EU-Verfassungsvertrag gestimmt. Hat sich der Zustand Europas seither gebessert?

Nicolas Schmit: Europa befindet sich in einer Identitätskrise. Aus dieser sind wir zwar noch nicht heraus, andererseits haben wir bewiesen, dass Europa nicht völlig lahm gelegt ist. Zum Beispiel in der neuen Art von Krise, die sich im Bereich der Immigration an den europäischen Außengrenzen abspielt. Hier wird gemeinsam dem betroffenen Land, in diesem Fall Spanien, geholfen. Ein anderes Beispiel ist die Politik gegenüber Iran.

Stefan Kunzmann: Der EU-Verfassungsvertrag soll unter der Bezeichnung "Grundvertrag" in den noch ausstehenden Ländern ratifiziert werden. Ist es derselbe Inhalt, nur mit neuer Verpackung?

Nicolas Schmit: Namen sind Schall und Rauch. Es war sicher nicht der Name der Verfassung, der zu den Resultaten in Frankreich und den Niederlanden geführt hat. Vielleicht nahm Le Pen in Frankreich daran Anstoß. Aber die Debatte ging um etwas ganz anderes.

Man sollte jetzt nicht den Anschein erwecken, mit einer Namensänderung das Problem lösen zu können, um damit automatisch ein Referendum zu gewinnen. Das Problem liegt viel tiefer und hat eigentlich auch mit der Verfassung an sich recht wenig zu tun. Es geht um die zukünftige Ausrichtung Europas. Zahlreiche Menschen stimmten gegen den Vertrag, nicht weil sie glaubten, es gebe zu viel Europa, sondern weil sie das Gefühl hatten, dass Europa nicht das ist, was sie erwarteten - der Schutz vor einer Globalisierung, die wenig Rücksicht auf soziale Rechte nimmt.

Stefan Kunzmann: Ein Grund, die EU-Verfassung abzulehnen, war die Bolkestein-Direktive. Steigen nach der Abschwächung der Dienstleistungsrichtlinie die Chancen auf eine Zustimmung?

Nicolas Schmit: Sicher war die Debatte über die Bolkestein-Direktive ein wichtiges Element, das jedoch von den Verfassungsgegnern etwas missbraucht wurde. Auf der anderen Seite zeigte die Diskussion auch, dass Europa über Demokratieressourcen verfügt, wie es von vielen Menschen nicht erwartet worden war. Aus der Opposition gegen die Direktive heraus entstand eine europaweite soziale Bewegung, zumindest in den alten Mitgliedstaaten. Dies zeigt, dass es in Europa eine öffentliche Meinung gibt. Darauf reagierte das Europaparlament, ohne das es nicht zu einer Abänderung der Direktive gekommen wäre. Europa ist also heute viel demokratischer, als man angenommen hat. Auf diesem Verständnis eines demokratischen Europas, in dem die Bürger ein Wort mitzureden haben und in dem die Wahlen zum Europaparlament nicht nur ein Nicht-Event sind, muss man aufbauen, um die Glaubwürdigkeit Europas wiederherzustellen und das Vertrauen der Bürger wiederzuerlangen.

Stefan Kunzmann: Bewirkte das Nein der Franzosen und Niederländer auch etwas Positives?

Nicolas Schmit: Vorher wurde es versäumt, auf die Fragen der Bürger näher einzugehen. In Luxemburg zum Beispiel löste das Referendum vielleicht zum ersten Mal überhaupt eine seriöse Debatte über Europa aus. Vorher war dies nie der Fall gewesen, auch nicht während der Pseudo-Europawahlkampagne 2004, die in Luxemburg im Schatten der nationalen Parlamentswahl stand. Die Bürger hatten die Gelegenheit darüber zu diskutieren, was sie von Europa erwarten. Wir müssen nun diese kontroverse Diskussion weiterführen.

Stefan Kunzmann: Wird die Reflexionsphase über den Verfassungsvertrag also noch länger andauern?

Nicolas Schmit: Die Reflexion über die europäische Zukunft darf nie vorbei sein. Sie ist kein Prozess, der irgendwann einmal abgeschlossen ist, sondern permanent. Auch was den Verfassungsvertrag anbelangt, brauchen wir mehr Zeit. Solange in Frankreich und den Niederlanden noch nicht gewählt worden ist,...

Stefan Kunzmann: In beiden Ländern finden nächstes Jahr Präsidentschafts- bzw. Parlamentswahlen statt...

Nicolas Schmit: ... können sich diese Regierungen dort noch nicht festlegen.

Stefan Kunzmann: Andere Ratifizierungen stehen noch aus. Großbritannien, Polen und Tschechien gelten dabei als Problemkinder.

Nicolas Schmit: Dass sich die Briten schwer tun den Vertrag zu ratifizieren, wussten wir schon lange. Wir müssen jedenfalls darüber nachdenken, wie aus der jetzigen Situation herauszukommen ist. Der Verfassungstext kann wohl nicht genau in derselben Form wieder zur Abstimmung vorgelegt werden. Wir müssen ihn ergänzen und vielleicht anders strukturieren.

Stefan Kunzmann: Ist es realistisch, dass er bis 2009 unter Dach und Fach ist?

Nicolas Schmit: Für die Zielvorgabe 2009 spricht, dass in dem Jahr Europawahlen stattfinden. Im Grunde haben wir etwa zwei Jahre, um die richtige Lösung zu finden. Die Welt verändert sich in einem rasanten Tempo und auch der Erweiterungsprozess schreitet voran. Schließlich warten Länder wie Kroatien auf eine Antwort und brauchen eine Perspektive.

Stefan Kunzmann: Die Erweiterung war auch ein Thema beim Referendum In Frankreich.

Nicolas Schmit: Auch das ist missbraucht worden. Dies betraf nicht nur die damals geschürte Angst vor einem türkischen Beitritt, sondern auch vor dem "polnischen Klempner". Eine Erweiterung nach der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens 2007 kann es nicht geben ohne eine seriöse Vertiefung und ohne sich die Frage zu stellen, wie wir als erweiterte Union funktionieren können. Erst dann kann man über eine Erweiterung diskutieren, die aber an klare Kriterien gebunden ist.

Stefan Kunzmann: EU-Musterknabe Luxemburg ist unter den Schlusslichtern bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in nationales Recht. Sie sollen Druck auf Ihre Ministerkollegen ausüben, um den Rückstand aufzuholen.

Nicolas Schmit: Bei der Umsetzung der Direktiven sind wir schon seit einigen Jahren im Rückstand. Das ist Besorgnis erregend. Ich versuche nicht nur meine Ministerkollegen davon zu überzeugen, etwas aufs Tempo zu drücken. Auch in meinem Bereich Immigration gibt es Verspätungen. Deshalb bedarf es eines Gesinnungswandels. Von den Ministern bis zu den Verwaltungen sollte sich das Bewusstsein durchsetzen, die europäischen Pflichten innerhalb der festgelegten Fristen zu erfüllen. Lange wurde das Überschreiten der Fristen als Kavaliersdelikt betrachtet. Die Umsetzung von Direktiven sollte jedoch eine Priorität sein und keine lästige Arbeit, die man so nebenbei erledigt. Mein bestes Druckmittel ist, dass es jetzt teuer wird, wenn wir uns nicht an die Gerichtsurteile halten.

Stefan Kunzmann: Es gab elf Verurteilungen und 48 Verwarnungen, well die Fristen nicht eingehalten wurden.

Nicolas Schmit: Bislang ist noch nichts geschehen. Wir haben also noch Zeit, uns an die Urteile zu halten. Ab nächstem Jahr wird die EU-Kommission den Druck auf die in Verzug geratenen Mitgliedstaaten noch verschärfen. Es drohen hohe Geldstrafen. Dessen muss sich jeder Minister bewusst sein. Außerdem sollte man sich schon Gedanken über die Umsetzung der Richtlinien in luxemburgisches Recht machen, während diese auf europäischer Ebene ausgearbeitet werden.

Stefan Kunzmann: Mehr als zwei Drittel der im Luxemburger Parlament beschlossenen Gesetze gehen auf europäische Vorlagen zurück. Herrscht bei der Brüsseler Kommission ein legislativer Übereifer?

Nicolas Schmit: Es gibt eine gewisse Tendenz der Überreglementierung in Europa. Die Kommission hat sich verpflichtet, dieser Situation entgegenzuwirken. Daher stellt sich die Frage, ob nicht im Sinne einer stärkeren Subsidiarität die nationalen Parlamente schon früher in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden sollen. Dazu brauchen sie aber auch die nötigen Mittel.

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