"Abschied vom Mittelmass". Mady Delvauy-Stehres au sujet du système scolaire luxembourgeois

Revue: Sie haben zahlreiche Reformprojekte in Angriff genommen. Ist das hiesige Schulsystem rückständig?

Mady Delvaux-Stehres: Es ist nicht zuletzt wegen der Zweisprachigkeit enorm anspruchsvoll, aber auch sehr selektiv. Etwa 20 Prozent der Schüler erreichen keine Qualifikation. Das stellt das eigentliche Problem dar. Sicher ist es notwendig, das Bildungssystem zu verbessern.

Revue: Welche Konsequenzen wurden aus den beiden PISA-Studien gezogen?

Mady Delvaux-Stehres: Die große Erkenntnis aus den PISA-Studien war für mich, dass unsere Kinder in der Schule zwar viel lernen, das Erlernte aber nicht umsetzen und auf verschiedene Situationen anwenden können. Das Wissen muss in Handlungsfähigkeit umgewandelt werden. Darum auch die Diskussion um Bildungsstandards und um essentielle Kompetenzen. Dies beginnt schon bei der Vorschule. Darüber hinaus stellte ich fest, dass es zwei Schulwelten gibt: die Primärschulen und der postprimäre Bereich. Wir müssen den Übergang verbessern, denn der ist oft dramatisch für die Schüler.

Revue: Die Reform der Primärschulen beinhaltet die Einteilung in drei Zyklen. Zudem soll der Unterricht differenzierter werden. Wie soll das konkret aussehen?

Mady Delvaux-Stehres: Beides gehört zusammen. Ebenso ein neues Benotungssystem. Einige Schulen haben die Zyklen bereits eingeführt. Das bedeutet ein großes Engagement der Lehrer. Die Probleme liegen jedoch im Detail. Dies wird seit einem Jahr in Arbeitsgruppen diskutiert. Sie werden von Gruppen aus Eltern, Lehrern und Inspektoren begleitet, um diese Einzelheiten auszuarbeiten, so zum Beispiel die Frage, wie schnell ein Schüler durch einen Zyklus kommt. Ein Zyklus kann nach einem Jahr durchlaufen sein. Im Prinzip dauert es aber zwei Jahre, jedoch nicht mehr als drei. Theoretisch könnte man die Primärschule nach drei Jahren beenden, das kann ich mir aber nicht vorstellen. Das neue Gesetz, das zurzeit ausgearbeitet wird, soll klären, ob es eine Mindestzeit gibt. Wir wollen aber auch eine Obergrenze festlegen. Schließlich bedeutet eine Schule mehr als Lernen. Sie ist auch eine Form der Sozialisation.

Revue: Sie sprachen sich häufig gegen das Prinzip des Sitzenbleibens aus.

Mady Delvaux-Stehres: Darin ist Luxemburg bekanntlich Weltmeister. Manchmal braucht ein Kind eben länger, um etwas zu erlernen. Beim Sitzenbleiben wird jedoch das ganze Programm einfach wiederholt. Das ist erwiesenermaßen am schlechtesten für die Kinder. Diese beginnen sich dann zu langweilen. Zyklen erlauben dagegen mehr Flexibilität. Lehrer sollen mittels einer Analyse herausfinden, wo das Problem des jeweiligen Schülers liegt und wie es gelöst werden kann.

Revue: Inwiefern soll das Mitspracherecht der Eltern verstärkt werden?

Mady Delvaux-Stehres: Im bisherigen Primärschulgesetz ist die Mitsprache der Eltern nicht vorgesehen. Im neuen Gesetz sollen die Eltern dagegen einen Platz finden. Sie gehören auch zur Schule. Dafür gibt es in Luxemburg keine richtige Tradition. Eine gute Zusammenarbeit von Eltern, Lehrern und Schülern ist aber wichtig. Hier müssen wir einen Mittelweg finden. Für die Benotung sind jedoch immer noch die Lehrer zuständig. Die Eltern werden hierbei sicher nicht mitreden können.

Revue: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, die Schulen würden schlecht orientieren?

Mady Delvaux-Stehres: Zum einen geht es um die Orientierung in die einzelnen Schulzweige, zum anderen um die in verschiedene Berufe. Im letzteren Fall wollen wir die Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt und dem Hochschulministerium verbessern. Dazu brauchen wir auch bessere Informationen und Statistiken. Zwar müssen wir verstärkt in technische Berufe orientieren, aber nicht ausschließlich.

Revue: Seit diesem Schuljahr können Schüler das Neie Lycée besuchen. Ist schon eine Zwischenbilanz möglich?

Mady Delvaux-Stehres: Dafür ist es zu früh. Die Schüler scheinen zufrieden zu sein. Sie sind sehr engagiert. Allerdings sind es momentan nur Siebtklässler. Auch das Echo der Lehrer ist positiv. Der große Unterschied zu den anderen Schulen besteht darin, dass es sich beim Neie Lycée um eine Ganztagsschule handelt. Mehr Zeit in der Schule bedeutet auch eine bessere Leistung der Schüler. Es gibt auch Modelle in anderen Lyzeen, um die Schüler besser zu begleiten. Mit dem Gesetz von 2004 haben die Schulen mehr Autonomie.

Revue: Sie haben mehrmals betont, die Schule müsse Spaß machen. Bleibt dabei nicht die Leistung auf der Strecke?

Mady Delvaux-Stehres: Selbstverständlich funktioniert eine Schule nicht ganz ohne Arbeit und Leistung. Man kann sich vielleicht eine Zeit lang durchmogeln, auf Dauer kann dies nicht gelingen. Ich bin allerdings auch davon überzeugt, dass man besser arbeitet und lernt, wenn man Freude daran hat. Sehr viele Kinder bringen trotz Arbeit keine gute Leistung. Einige Kinder sind schneller, andere langsamer. Einige sind intelligenter, andere weniger. Hinzu kommt, dass den einen zu Hause geholfen wird, den anderen nicht.

Revue: Nach den neuen Versetzungskriterien kann man schlechte Noten leichter kompensieren. Leidet die Qualität?

Mady Delvaux-Stehres: Eine Schwäche sollte man kompensieren können durch Stärken in anderen Fächern. Wenn es wirklich Missbrauch geben sollte, dann müssen wir das System überprüfen. Unsere Schule verstärkt leider die Einstellung, dass 30 Punkte genügen, um durchzukommen. Von dieser schrecklichen Mittelmäßigkeit müssen wir wegkommen. Dazu bedarf es der neuen Bildungsstandards, ohne die man nicht durch die Schule kommt.

Revue: Laut PISA spiegeln sich soziale Ungleichheiten in der Schule wieder. Was wollen Sie dem entgegensetzen?

Mady Delvaux-Stehres: Ungefähr ein Viertel des Erfolges in der Schule geht auf die Schule selbst zurück. Hinzu kommen Begabung und Umfeld. Um die Ungleichheiten zu vermindern, ist die Ganztagsschule eine mögliche Antwort. Eine andere ist, dass die Lehrer den Schülern eine Strategie beibringen, wie sie selbstständig lernen können. Das betrifft auch die Diskussion über die Hausaufgaben. Ich habe nicht gesagt, dass diese bei älteren Schülern verboten seien. Aber es ist wichtig, in den ersten Jahren den Kindern Mittel zu geben, damit sie die Aufgaben allein bewältigen können. Wenn Kinder nicht die Eltern haben, die ihnen diese Strategien beibringen, dann muss dies die Schule übernehmen.

Revue: Immigrantenkinder sind unter Sitzenbleibern und Schulabbrechern überdurchschnittlich vertreten.

Mady Delvaux-Stehres: Es hängt davon ab, um welche Form der Immigration es sich handelt und um welche gesellschaftliche Schichten. So ist dies nicht zuletzt ein soziales Problem. Wenn soziale Defizite mit Sprachschwierigkeiten zusammenfallen, wird es doppelt schwierig.

Revue: Ihr Versuch den Lehrauftrag im Sekundarunterricht neu zu definieren, löste eine heftige Diskussion um die Arbeitszeiten der Lehrer aus.

Mady Delvaux-Stehres: Mir geht es um mehr als den quantitativen Aspekt. Zurzeit wird der Lehrer dadurch definiert, wie viel Zeit er mit den Schülern verbringt. Natürlich bedeutet Unterricht, Wissen zu vermitteln. Das heißt aber auch, dass sich ein Lehrer für seine Schüler interessiert und sich mit seinen Kollegen abspricht. Da die Gesellschaft sich gewandelt hat, sollten sich auch die Aufgaben der Lehrer ändern.

Revue: Werden Lehrer künftig mehr der Bewertung unterzogen?

Mady Delvaux-Stehres: Autorität wird nicht mehr von oben gegeben. Sie muss sich jederzeit neu legitimieren. Dazu gehört auch eine Evaluation. Allerdings ist nicht der einzelne Lehrer verantwortlich, sondern die ganze Schule. Daher ist es wichtig, dass an den Schulen Teams entstehen. Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Kollegen muss da sein.

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