"Die wirkliche europäische Krise." Contribution écrite de Jean-Claude Juncker au sujet de l'Europe

Die europäische Union wird - auch zu Zeiten da sie noch nicht unter diesem Namen firmierte - von kleinen und grossen Krisen begleitet.

Nicht jede als "Krise" diagnostizierte Unstimmigkeit in der EWG, der EG und der EU war eine wirkliche Krise. Während der innenpolitische Meinungsstreit in den Nationalstaaten sehr oft und zu Recht als demokratischer Ideenwettbewerb gewertet wird, werden die Sachdispute und Inhaltkontroversen die es in der EU zwangsläufig geben muss relativ schnell zur Existenzkrise hochstilisiert. So als ob die EU ein demokratiearmer Raum zu sein hätte in der gegensätzliche Auffassungen sich nicht äussern dürften.

Aber es gibt auch europäische Krisen die wirkliche Krisen sind. Und in einer solchen befinden wir uns im Augenblick.

Die Krise ist nicht dort wo man sie gemeinhin vermutet, nämlich im Kreise der Staats- und Regierungschefs. Letztere haben sich immerhin im Juni 2004 auf einen europäischen Verfassungsvertrag geeinigt und damit Wegweisungen für die Zukunft formuliert. Sicher: im Vorfeld des Verfassungskompromisses haben die Regierungen sich wie die Berseker gestritten und nicht jede der von ihnen gestalteten Schnittmengen wird dem Anspruch gehobener Staatskunst gerecht. Aber sie haben sich zu verständigen gewusst und somit die europäische "Staatskrise" vermieden.

Die wirkliche Krise ist eine andere. Sie ist eine europäische Gesellschaftskrise die von den Gesellschaften selbst und von der Politik im Besonderen erst nach und nach begriffen wird.

Warum kommen wir in Europa nicht weiter, jedenfalls nicht schnell genug weiter? Weil es zwischen den Völkern Europas und innerhalb der Völker Europas eine ungelöste Grundsatzfrage gibt: wir wissen nicht wie viel Europa wir wollen, wir wissen nicht wie viel Europa wir brauchen.

Früher, in den ersten Jahrzehnten nach dem Fiasko des Zweiten Weltkrieges, war die Gemengelage einfacher: alle Europäer wollten mehr Europa. Die Völker wollten rasen, die Politik aber verschrieb sich Schritttempo.

Heute, im ersten Jahrzehnt nach den ersten Nachkriegsjahrzehnten, ist die Lage unübersichtlicher geworden: nicht mehr alle Europäer wollen mehr Europa, sondern viele Europäer denken wir hätten heute schon Europa zuviel. Die Politik weiss nicht mehr wohin. Bringt sie mehr Europa auf den Weg, so verliert sie den Sukkurs derer denen das Europa von heute schon zu weit geht. Dreht sie das europäische Rad behutsam und zentimeterweise zurück, so erntet sie die bissige Kritik derer denen mehr Europa unabdingbar notwendig erscheint. Somit geht jede europäische Entscheidung in einem Meer entrüsteter Enttäuschungen unter.

Die Politik verfügt nicht über die konsensstärkende Inspiration die es bräuchte, um beide Teile unserer Gesellschaften - mehr Europa hier, weniger Europa dort - zusammenzuführen und zusammenzufügen. Sie bleibt gefragt wenn es darum geht die europäische Integrationsfahne nicht im Wind hängen zu lassen, sondern sie - wenn es sein muss - gegen den Zeitgeist hoch zu halten. Gefragter aber noch sind Intellektuelle, Kulturschaffende, Philosophen, Schriftsteller: jene also von denen man annehmen möchte, sie wären der Zukunft zugewandte Europa- und Weltbürger. Warum sind sie so seltsam still? Und wann weicht ihre Sprachlosigkeit der pro-europäischen Rede?

Die pro-europäische Rede, die von der sogenannten Zivilgesellschaft glaubwürdiger vorgetragen werden kann als von der Politik, könnte an einigen über jeden Zweifel erhabenen Schlüsselelementen andocken.

Die europäische Integration hat unserem von Menschenhand so oft geschundenen Kontinent den Frieden gebracht. Darauf müssen wir stolz sein.

Das europäische Einigungswerk hat es in Summe erlaubt, Europa eine einheitliche Währung an die Hand zu geben die es ihr und ihren Mitgliedsstaaten erlaubt, ihre Hände im weltweiten Geschehen zu haben. Darauf können wir stolz sein.

Die EU stösst weltweit auf bewunderndes Interesse. Es gibt auf anderen Kontinenten eine starke Nachfrage nach Europa: in Afrika, in Asien, ja selbst in Amerika. Darauf sollten wir stolz sein.

Die Welt wird nicht besser durch weniger Europa. Nur mehr Europa wird den Problemen Europas und der Welt gerecht. Wahrscheinlich ist die Politik zu sehr Gefangener nationaler Räume um sich glaubhaft erklären zu können. Aber die anderen - die, die die Zivilgesellschaft ausmachen - sollten ihre Erklärungsaufgabe wahrnehmen. Es wird auf sie gewartet.

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