Mady Delvaux-Stehres: "Der lange Weg der Kompetenzen". La ministre de l'Éducation nationale au sujet des réformes dans le domaine de l'éducation

Dani Schumacher: Frau Delvaux, die OECD hat in ihrem jüngsten Bericht Reformen im Bildungsbereich angemahnt. Was wollen Sie konkret tun?

Mady Delvaux-Stehres: Die Feststellung der OECD an sich ist nicht neu. Wir wissen seit langem, dass Reformen im Bildungsbereich kommen müssen. Neu ist nur, dass sich die Experten diesmal explizit dem Thema Bildung widmen, obwohl der Ansatz der OECD ein ökonomischer ist. Und Bildung hat auch etwas mit Wettbewerbsfähigkeit zu tun. Luxemburg hat keine Bodenschätze, deshalb sind die Fähigkeiten der Bürger unser eigentliches Kapital. Wir müssen in die Qualifikation der Menschen investieren, um mit den Fortschritten der Wissengesellschaft Schritt halten zu können. Im Klartext heißt dies: Wir müssen versuchen, dass jeder Einzelne eine bessere Ausbildung erhält.

Dani Schumacher: Heißt das, dass jeder ein Diplom haben muss?

Mady Delvaux-Stehres: Wenn ich fordere, dass alle eine bessere Ausbildung haben müssen, will ich damit aber nicht unbedingt sagen, dass man den Schülern ihr Diplom "hinterherschmeißen" soll. Sicher, es müssen so viele Jugendliche wie möglich ein Abschlusszeugnis erlangen. Allerdings müssen auch die Kompetenzen, die ein Diplom letztendlich bescheinigt, verbessert werden.

Dani Schumacher: Damit wären wir auch schon beim Thema Kompetenzen...

Mady Delvaux-Stehres: Genau. Ein Diplom muss letztendlich zu einer Art Garantie werden, dass der betreffende Schüler bestimmte, genau definierte Fähigkeiten besitzt. Die Ermittlung der Kompetenzen beschränkt sich allerdmgs nicht nur auf die Abschlussdiplome. Die Kompetenzen müssen auf sämtlichen Etappen des Bildungswegs ermittelt werden. Das beginnt im Kindergarten und endet bei den Abschlussklassen. Wenn das System voll etabliert ist, werden wir z.B. genau wissen, über welche Englischkenntnisse ein Primaner verfügt oder wie gut oder wie schlecht ein Kind im zweiten Schuljahr deutsch lesen und schreiben kann. Die bisherigen Zensuren sagen nur wenig über die reellen Fähigkeiten der Schüler aus. Das System der Kompetenzen, das andere Länder längst in Angriff genommen haben, stellt eine riesige Umstellung in der Bildungspolitik dar, die Jahre in Anspruch nehmen wird.

Dani Schumacher: Wie wollen Sie in der Praxis die Kompetenzen genau festlegen?

Mady Delvaux-Stehres: Man muss zunächst detaillierte Mindeststandards festschreiben. Dabei geht es sowohl um das Wissen an sich als auch um die Fähigkeit, dieses Wissen auf andere Situationen zu übertragen. Beim Lesen geht es z.B. nicht nur um die exakte Verbindung einzelner Buchstaben, sondern die Kleinen müssen auch früh lernen, den gelesenen Text zu hinterfragen. Wir wollen ein "vernetztes" Wissen erreichen. Dabei wird allerdings das Basiswissen nicht in Frage gestellt. Das Einmaleins muss auch in Zukunft jedes Kind beherrschen.

Meiner Meinung nach ist deshalb der Gegensatz Wissen/Kompetenz einfach artifiziell. Man muss sich bewusst sein, dass die Basiskompetenzen nicht alles umfassen können, was derzeit auf dem Programm steht. Die aktuellen Programme sind überlastet. Wir müssen uns deshalb auf das Wesentliche konzentrieren. Die Basiskompetenzen dürfen nur das Wissen umfassen, das für das schulische Weiterkommen und die berufliche Zukunft unabdingbar ist. Daneben wird es dann noch Wissensbereiche geben, die man kennen sollte, die aber nicht bei allen schülern vertieft werden.

Dani Schumacher: Und welche Rolle wird der Sprachunterricht dabei spielen?

Mady Delvaux-Stehres: Das Hauptproblem in Luxemburg besteht darin, dass wir nicht in unserer Muttersprache unterrichten. Der Zugang zum Wissen geschieht über die deutsche und die französische Sprache. Deshalb sind hier bestimmte Fähigkeiten unerlässlich. Denn wer die Unterrichtssprache nicht beherrscht, wird auch in dem jeweiligen Fach Probleme haben. Deshalb werden wir als erstes die Sprachkompetenzen definieren. Sprachen und Mathematik. Dann die wissenschaftlichen Kompetenzen. Ziel ist es, Kompetenzen für alle Bereiche des Schulsystems festzulegen. Zur Zeit arbeiten wir an den Kompetenzen für die Vorschule und den Primärschulunterricht. Die Arbeitsgruppen für die ersten drei Jahre im klassischen und im technischen Sekundarunterricht wurden Ende Juli eingesetzt.

Wichtig ist vor allem der Übergang vom Primär- in den Sekundarunterricht. Die Vorschläge werden voraussichtlich bis zum September vorliegen. Dann muss noch das Material ausgearbeitet werden und die Weiterbildung der Lehrer angepasst werden. Ich hoffe, dass wir dann ab 2008 mit den Kompetenzen durchstarten können.

Dani Schumacher: Und wie wollen Sie die Kompetenzen überprüfen?

Mady Delvaux-Stehres: Bei der Überprüfung inspirieren wir uns an ausländischen Bewertungstests. Wir betreten aber kein völliges Neuland. Die "épreuves standardisées", die im zweiten und im vierten Schuljahr zur Anwendung kommen, basieren schon auf dem System der Kompetenzen. Es gibt eine gewisse Analogie zu den Pisa-Tests.

Dani Schumacher: Worum geht es eigentlich bei der Neudefinition der "tâche" der Lehrer?

Mady Delvaux-Stehres: Mir geht es in erster Linie darum, die Arbeit der Lehrer an die Anforderungen der heutigen Zeit anzupassen. Vor dem Hintergrund der Diskussion um die Kompetenzen kommt in Zukunft der Teamarbeit bei der Lehrerschaft eine immer wichtigere Rolle zu. Das bedeutet sicherlich eine gewaltige Umstellung. Ich bin mir auch bewusst, dass das nicht einfach sein wird.

Dani Schumacher: Wann kommt die Reform des Schulgesetzes von 1912?

Mady Delvaux-Stehres: Im Moment gibt es politische Hindernisse. So stellt sich die Frage, ob u.a. die Nominierungen der Lehrer in den Aufgabenbereich der Gemeinden oder des Staates fallen. So lange diese Grundsatzfrage nicht geklärt ist, kann man auch das Gesetz nicht in Angriff nehmen. Mein Ziel ist es, noch in diesem Herbst eine neue Version des Textes zu präsentieren. Dann könnte das Gesetzesprojekt im Frühjahr 2007 hinterlegt werden. Ab dann bin ich nicht mehr zuständig für den Terminkalender.

Dani Schumacher: Wie sieht es mit den Versetzungskriterien aus?

Mady Delvaux-Stehres: Ich weiß, dass es hinsichtlich der Versetzungskriterien erhebliche Unzufriedenheit in den Schulen gibt. Dort, wo wirklich Handlungsbedarf besteht, werden wir die Kriterien anpassen. Allerdings mochte ich daraufhinweisen, dass nach der endgültigen Umstellung auf das Kompetenzsystem die Versetzungskriterien eh überflüssig werden.

Dani Schumacher: Auf welche Projekte sind Sie nach zwei Jahren im Unterrichtsministerium besonders stolz?

Mady Delvaux-Stehres: Ich bin sehr froh, dass wir das Projekt "Neie Lycée" in einem Jahr auf die Schiene gebracht haben. Wie es aussieht, entwickelt sich das Projekt recht gut. Zur Zeit ist es aber noch zu früh, um definitiv Bilanz zu ziehen. Ich bin auch sehr zufrieden, dass das Gesetz zum "Bac international" noch in diesem Jahr die parlamentarische Hürde genommen hat. Im Herbst können die ersten Klassen im "Lycée technique du centre" ihren Betrieb aufnehmen. Auch in der Diskussion um die Kompetenzen sind wir sehr gut weitergekommen.

Dani Schumacher: Was ist bislang Ihre größte Enttäuschung?

Mady Delvaux-Stehres: Als ich die Neudefinition des Aufgabenbereichs der Lehrer angeregt habe, war ich mir bewusst, dass mein Vorschlag nicht überall auf Gegenliebe stoßen würde. Als die ganze Diskussion dann aber so ausgelegt wurde, als ob es nur lediglich darum gehen würde, meine ehemaligen Kollegen bloß zu stellen, tat das dann doch weh. Eine richtig große Enttäuschung gab es allerdmgs bislang noch nicht. Ich bin Optimist.

Dani Schumacher: Letzte Frage: Sind Sie gerne Unterrichtsministerin?

Mady Delvaux-Stehres: Ja. Hier geht es um die Zukunft der Kinder und somit um die Zukunft des ganzen Landes. Es braucht allerdings eine gewisse Bescheidenheit, denn als Unterrichtsnünister wird man nie die Früchte der eigenen Arbeit ernten, dazu ist die Bildungspolitik zu langatmig. Aber es geht sowieso nicht um die eigene Person, es geht um das System.

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