"Man soll den Chinesen Zeit lassen". Jean-Claude Juncker au sujet des relations entre le Luxembourg et la Chine

Uli Botzler: Kritiker Ihrer China-Politik werfen Ihnen vor, ein Land einseitig und zu positiv zu sehen, das keine Demokratie ist und die Menschenrechte nicht achtet. Warum soll ein Land, das 3700 Mal kleiner als China ist, unbedingt so gute politische Beziehungen zu einer kommunistisch regierten Volksrepublik pflegen?

Jean-Claude Juncker: Meine Reisen nach China gehen immer unter in einem Meer aus Kontroversen. Ich war bislang fünf Mal da, erstmals im Februar 1996, zuletzt im November 2004. Das hat seine Gründe, und die liegen auf der Hand.

Tatsache ist, dass China ein Land mit 1,3 Milliarden Menschen darstellt. Das sind 20 Prozent der Weltbevölkerung. Da kann man natürlich sagen, ein kleines Land wie Luxemburg, ein kleiner Kontinent wie Europa, der nur neun Prozent der Weltbevölkerung darstellt, braucht sich nicht mit dem Land, das 20 Prozent darstellt, zu unterhalten. Allein das Gegenüberstellen der demographischen Bedeutung von Europa mit China, das weiter wächst, zeigt, dass es abenteuerlich, ja sogar unverantwortlich ist, mit einem Fünftel der Menschheit nicht im Gespräch zu sein.

China plus Indien stellen 40 Prozent der Menschheit in ein paar Jahren dar. Indien ist eine Demokratie, mit allen Schwachstellen, die eine große Demokratie gezwungenermaßen in sich trägt. China ist keine Demokratie, aber ein offener Wirtschaftsraum, von dem ich mir denke – einzelne sagen, dass wäre eine naive Sicht komplizierter Angelegenheiten -, dass wirtschaftlicher Fortschritt auf Dauer auch mit demokratischen Fortschritt verbunden ist. Jedenfalls würde eine auf Dauer angelegte wirtschaftliche Abhängigkeit Chinas von anderen Ländern nicht zu mehr Demokratie beitragen. Nur durch Multiplikation der Kontakte, durch verstärkten Austausch mit China auf allen Ebenen können da Fortschritte erzielt werden. In der Menschenrechtsfrage sind Fortschritte zu verzeichnen.

Uli Botzler: Können Sie diese Einschätzung an Beispielen belegen?

Jean-Claude Juncker: Wir haben 1997 unter Luxemburger EU-Präsidentschaft zum ersten Mal überhaupt einen chinesisch-europäischen Menschenrechtsdialog unter Luxemburger Vorsitz angefangen. Er hat nicht alles gebracht. Trotzdem hat die Rechtsstaatlichkeit in China keinen Rückschritt erlitten in den letzten zehn Jahren, sondern ist langsam, Schritt für Schritt, vorangeschritten, wenn auch absolut nicht auf eine zufrieden stellende Art und Weise, wenn man das an westlichen Maßstäben misst. Man muss sich intensiv mit China befassen, um es in seiner historischen Tiefe und Länge zu verstehen. China ist nicht vergleichbar mit Europa – wie kaum ein anderer Teil der Welt damit vergleichbar ist.

Uli Botzler: Welche Auswirkungen haben die besonders guten luxemburgisch-chinesischen Kontakte?

Jean-Claude Juncker: Wirtschaftlich sind die Auswirkungen sehr stark. Luxemburg hat seinen Außenhandel mit China in zehn Jahren um 1000 Prozent gesteigert. Diese Steigerung ist dreimal größer als mit dem Rest der Welt. Nach den USA ist China der zweitwichtigste Handelspartner für Luxemburg außerhalb Europas. 0,8 Prozent unseres nationalen Reichtums hängen von China ab. Das hat mich nie dazu gebracht, China naiv zu betrachten, gar verklärt zu sehen. Ich bin aber beeindruckt von den gewaltigen Fortschritten, die das Land verzeichnet.

Uli Botzler: Trotzdem besteht der Vorwurf an Ihre Adresse, ein unkritischer China-Bewunderer zu sein. Es entstehe der Eindruck, heißt es, dass Luxemburg versuche, sich mit allen Mitteln das Wohlwollen der politischen Führung der Volksrepublik zu sichern, um so möglichst viele Handelsaufträge zu ergattern. Ihnen als christlich-sozialen Politiker wird vorgehalten, den schnöden Mammon über die Moral zu stehen. Welche Sicht der Dinge haben Sie?

Jean-Claude Juncker: Ich hüte mich vor der westeuropäischen Arroganz, die verlangt, dass die chinesische Demokratie sich so entwickelt, wie unsere europäische dies tut. Erstens kann man von den Chinesen nicht erwarten, dass sie in zehn Jahren das fertig bringen, was wir in 200 Jahren fertig gebracht haben. Zweitens muss man sehen, dass es in einem Land mit 1,3 Milliarden Einwohnern eine außergewöhnliche Herausforderung ist, die Menschenrechte zu wahren. So vielen Menschen das Recht auf Wohnen, auf Essen, auf Arbeit zu sichern, ist, egal für welches politische Regime, eine außerordentliche Herausforderung.

Uli Botzler: Welche Erfahrungen haben Sie mit Chinesen bei Gesprächen über Menschenrechte gemacht?

Jean-Claude Juncker: Verbale Rundumschläge vor der versammelten Luxemburger Presse erfordern wenig Mut. Es ist viel schwerer, mit den chinesischen Premierministern über diese Frage zu sprechen, als darüber zu leitartikeln. Ich habe mit den chinesischen Führern – ich bin mittlerweile beim dritten Premierminister und beim zweiten Präsidenten angekommen – wieder und wieder sehr lebhaft über Menschenrechte diskutiert. Ich habe mich nur immer geweigert, mich über solche heftigen Menschenrechtskämpfe in meinen öffentlichen Aussagen in China massiv auszulassen. Ich erinnere mich insbesondere an ein Abendessen mit einem Politiker, der, negativ gesehen, davon besonders viel verstanden hat, dem früheren Premierminister Li Peng. Einzig und allein, weil ich mit ihm über Menschenrechtsfragen sprechen wollte, hat das Abendessen statt einer Stunde viereinhalb Stunden gedauert. Es war der 26. Februar 1996 und ich erinnere mich so gut daran, weil die chinesische Militärkapelle, nachdem sie die “Heemecht“ gespielt hatte, noch sechs Luxemburger Volkslieder spielte. Da das Essen so lange dauerte, bekam ich das Musikprogramm sechsmal zu hören.

Uli Botzler: Hat Luxemburg über politische Gespräche hinaus Konkretes bewirken können?

Jean-Claude Juncker: Ein Beispiel ist die Schulung chinesischer Magistrate. Sie geht zurück auf eine Initiative der Luxemburger Regierung aus dem Jahr 1996, um sie mit unserem Rechtssystem und unserer Denkweise vertraut zu machen, ohne ihnen Lektionen zu erteilen.

Ich bin sehr kritisch mit China, ich weigere mich nur, dauernd den Chinesen Lektionen zu erteilen, wie sie ihren demokratischen Prozess in unserem Sinn zu beschleunigen oder umzugestalten haben. Man soll den Chinesen Zeit lassen, ihren Weg zu finden. Das hat nichts mit Nachsicht zu tun. Das soll auch nicht bedeuten, dass man sich nicht, wenn man in China ist, für namhafte Dissidenten einsetzen soll oder Listen hinterlassen soll mit Namen von Menschen, die in Gefangenschaft besser behandelt werden sollen oder die freigelassen werden sollen. Es gehört allerdings auch dazu, dass man anschließend nicht über die erzielten Erfolge spricht, denn ansonsten braucht man nie mehr eine Liste abzugeben.

Uli Botzler: Wie intensiv sind die Beziehungen eines so kleinen Landes wie Luxemburg mit dem Riesenreich China?

Jean-Claude Juncker: Wir haben einen regen und breiten Austausch. Das beschränkt sich nicht auf wirtschaftliche Kontakte, so wichtig der Aspekt auch ist. Eine Firma wie Paul Wurth macht beispielsweise 30 Prozent ihres Umsatzes mit China. Da kann man sich einmal ausrechnen, wie viele Arbeitsplätze das darstellt. Unsere Beziehungen sind vor allem politischer Natur. Wir haben einen regen Meinungsaustausch mit der chinesischen Führung. Wir hatten innerhalb von drei Jahren immerhin zwei Visiten eines chinesischen Premierministers in Luxemburg.

Uli Botzler: Der enorme chinesische Wirtschaftserfolg bleibt nicht ohne Folgen für Europa. Die Verlagerung von Arbeitsplätzen der Echternacher IEE-Fabrik nach China und die Klagen von Villeroy & Boch über die harte Konkurrenz aus China sind zwei Beispiele.

Wie sehen Sie die Entwicklung?

Jean-Claude Juncker: China ist ein Land, das am Vorpreschen ist. Seine Wirtschaft zählt ohne Zweifel im übernächsten Jahrzehnt zu den zwei, drei führenden Mächten der Welt.

Das China, das erwacht, das China mit seinen 5000 Hochöfen, das China mit einem Wirtschaftswachstum von elf Prozent, mit einem fünf Mal größeren Stahlverbrauch als die USA oder Europa, das China, das versucht, auf die Beine zu kommen und zwangsläufig meiner Meinung nach irgendwann zu demokratischeren Formen finden wird, ist eine feste Größe der Weltpolitik. Wenn man verpasst auf diesen Zug aufzuspringen, erweist man seinem Land keinen guten Dienst – immer unter der Bedingung, dass man auch die Sachen anspricht, die einem nicht gefallen.

Wenn wir gewartet hätten bis 2015, um mit China Kontakte aufzunehmen, hätten wir den Zug verpasst. Die anderen sind da, Europäer und Amerikaner, massiv sogar. Wir habe unsere China-Politik aber 1996 angefangen und die zeigt Erfolge, wie die Steigerung des Außenhandelsvolumens um 1000 Prozent belegt. Durch unsere Kontakte haben wir Luxemburger Betrieben oftmals behilflich sein können, wenn sie ihre Produkte da herstellen wollen, wo ihre Kunden sind. Das ist in zunehmenden Maß China, mittlerweile bereits der größte Konsummarkt weltweit. Übrigens ist der chinesische Außenhandel mit Luxemburg von China aus negativ, d.h. wir exportieren mehr nach China als China nach Luxemburg importiert.

Uli Botzler: Zwingt China Luxemburg, sich schneller anzupassen als es manchem lieb ist?

Jean-Claude Juncker: Wenn unsere Betriebe – ohne Arbeitsplätze hierzulande abzubauen, wobei man das Beispiel Villeroy & Boch nicht überdramatisieren darf -, wirtschaftlich in China aktiv werden, ist das normal. Wenn sie es nicht tun, würden andere die Geschäfte machen, denn China braucht sie. Ich habe es immer regelrecht als meine nationale Aufgabe empfunden, die Luxemburger Visitenkarte früh genug bei den zuständigen Stellen abzugeben, um die Handelsbeziehungen auszubauen, so dass wir insgesamt Gewinner sind. Im Übrigen hat uns die Globalisierung nicht gestört, solange sie einseitig von Luxemburg nach China ging. Sie stört uns jetzt, weil sie jetzt in beide Richtung reicht und Auswirkungen auf Luxemburg hat. Luxemburg hat als erstes Land Hochöfen nach China geliefert. Das hat niemanden gestört. Erst jetzt stört es, weil ein Rückfluss von Gütern aus China zu verzeichnen ist.

Ich begrüße die Entwicklung ausdrücklich, weil die Vorstellung, wir könnten den chinesischen Markt beliefern, ohne dass es zu wirtschaftlichen Austausch kommt, die Vorstellung, dass man China dauerhaft zu einem wirtschaftlichen Subkontinent von Europa machen könnte, die Vorstellung, dass man China dauerhaft in flächendeckender Armut verharren lassen kann, eine sehr gefährliche Zukunftsvision ist, wenn man die militärische Stärke des Landes bedenkt.

Uli Botzler: Ein großes Problem für Produzenten ist der mangelnde Respekt vor Urheberrechten und Patenten in China. Villeroy & Boch verlangt, Herkunftsbezeichnungen einzuführen, um chinesische Ware an dem "Made in China" erkennen zu können. Lässt sich der Kampf gegen Raubkopien so gewinnen?

Jean-Claude Juncker: Ich teile in weiten Zügen die Auffassung der betroffenen Firma. Bei meinen Unterredungen in China habe ich mit meinen Gesprächspartnern mehrfach über Urheberechte gestritten und ihnen klar gemacht, dass sie keine wirtschaftlichen Beziehungen mit Europa auf Dauer aufbauen können, wenn ständig Patentklau betrieben wird. Paul Wurth etwa hat mit Regierungsunterstützung China vor das Internationale Schiedsgericht in Stockholm gebracht. Der unlautere Ideenwettbewerb ist ein Dauerthema im Dialog mit China. Was die Herkunftsangabe für Porzellan betrifft, so will die europäische Industrie dies selbst teilweise nicht, da sie einen Teil ihrer Europaware in China herstellen lässt.

Uli Botzler: Kann der China-Boom sich wie im Fall des Anfang der 1990 er umjubelten japanischen Wirtschaftswunders als Erfolg von kurzer Dauer erweisen?

Jean-Claude Juncker: Japans jüngste Wirtschaftsgeschichte ist ganz anders gelagert. Ich kann überhaupt keine Parallelen erkennen. Es ist eine europäische Zwangsvorstellung, Asien wäre Asien. Es kann keine größeren Unterschiede geben als zwischen China und Japan, die ganz andere Wertvorstellungen, Lebenseinstellungen, Vorstellungen vom Leben nach dem Tod kennen, auch einen ganz anderen Zeitbegriff. Japaner sind auf Schnelles aus. Chinesen denken nicht in Jahren oder Jahrzehnten.

Die chinesische Philosophie, Gesellschaft, ihre Art, die wichtigen Dinge im Leben zu sehen, ist nach Jahrhunderten einzuteilen. China ist ein langer, ruhiger Fluss. Japan ist angestautes Wasser, das schlagartig herabstürzt, und dann ist keines mehr da. Genau das ist mit Japans Wirtschaft passiert. China wächst ohne Unterbrechung seit 25 Jahren wirtschaftlich stark. China wächst sogar zu schnell und sorgt für Währungsprobleme. Im Vergleich zum Euro ist der chinesische Yuan total unterbewertet, worüber ich im September mit dem chinesischen Finanzminister in Singapur sprechen werde.

Uli Botzler: Schließen Sie sich also den Prognosen an, wonach das 21. Jahrhundert insbesondere das der Chinesen sein wird?

Jean-Claude Juncker: Ich hoffe, dass das 21. Jahrhundert ein multipolares sein wird, in dem jeder seine Rolle spielen kann. Überlässt man China sich selbst, die 1,4 Milliarden Menschen, die das Land bis 2040 zählen wird, betreibt man eine "Kalte-Schulter"-Politik, dann kann China – obwohl nichts Kriegerisches oder Imperialistisches historisch gesehen in diesem Volk liegt – durchaus zu einer Macht heranwachsen, die sich nicht gebunden fühlt an die von ihr unterzeichneten internationalen Verträge. Mit diesem gewaltigen Weltelefanten nicht zu sprechen, hieße, eine Saat für einen unlösbaren Konflikt zu säen. Daher führt kein'Weg am Dialog mit China vorbei. Die damals durchaus umstrittene Entscheidung des Staatsministers Gaston Thorn, 1975 eine Botschaft in Peking zu eröffnen, war ein erster, wichtiger Schritt. Diese Beziehungen haben 1996 einen Schub nach vorn erlebt, als ich meinen ersten Besuch absolviert habe. Das war eine schwierige Reise, sieben Jahre nach dem Massaker am Tiananmen-Platz.

Uli Botzler: In den Medien tauchen immer häufiger Bilder des neuen, reichen Chinas auf. Stimmt dieses Bild eines Landes, das kapitalistische Züge annimmt?

Jean-Claude Juncker: Das ist eine Randerscheinung des plötzlichen Reichtums einer Minorität und führt auch zu großen Spannungen im Land. Die Chinesen haben begonnen, in ihren Betrieben Leute zu entlassen. Es gab 76000 örtliche Demonstrationen im Jahr 2005, über die westliche Medien nicht berichteten. Es gab Aufstände der Arbeiter und Bauern, gegen Entlassungen, gegen die Landreform, gegen Korruption. Ich will das nicht aufblasen, aber das muss man einfach wahrnehmen, wenn es um China geht. Ich wehre mich dagegen, dass gesagt wird, ich hätte ein naives und romantisches China-Bild und ich wehre mich dagegen, dass China behandelt wird, als schriebe man noch das Jahr 1951.

Uli Botzler: Unterstützt Luxemburg China mit humanitären Projekten?

Jean-Claude Juncker: Vorrangig geht es um medizinische Hilfe. Mittel aus dem "Fonds de lutte contre le trafic des stupéfiants" werden etwa für Aidsprävention im Zusammenhang mit Drogenabhängigen in Südostasien eingesetzt, u.a. für Projekte in China. Durch ein Impfprogramm in einer muslimisch geprägten Westprovinz, die ich 2002 besucht habe und in der Millionen Bewohner gegen keine Krankheit geimpft waren, konnte die Kindersterblichkeit halbiert werden.

Uli Botzler: Wann steht China wieder auf der Reiseroute des Premierministers?

Jean-Claude Juncker: Ich war zuletzt 2004 in China. Großherzog Henri stattet dem Land jetzt einen Staatsbesuch ab, so dass es nicht angebracht war, selbst in diesem Jahr eine Reise dorthin anzutreten. Ich mache meine Reisen für gewöhnlich aber in einem Zwei-Jahres-Rhythmus, weil ich der Meinung bin, dass man am Ball bleiben muss, sowohl wirtschaftlich wie gesamtpolitisch betrachtet. Deshalb haben wir jetzt auch ein Generalkonsulat für Luxemburg in Shanghai eröffnet.

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