Jean-Claude Juncker: Die EU-Verfassung nicht auseinanderreißen!. Le Premier ministre au sujet du débat constitutionnel et de l'Eurogroupe

Börsen-Zeitung: Herr Premierminister, im ersten Halbjahr 2006 übernimmt Deutschland in einer kritischen Phase die EU-Ratspräsidentschaft. Was kann Berlin leisten, um die Verfassungskrise zu beenden?

Jean-Claude Juncker: Bundeskanzlerin Angela Merkel muss zunächst einmal eines mitbringen: viel Geduld. Sie muss die Staaten anhören - bis Jahresende immerhin 18 -, die die Verfassung bereits ratifiziert haben und die ihr sagen werden, auf welche Vertragselemente sie nicht verzichten können. Sie muss in jenen Staaten die Bereitschaft zur Verfassung ausloten, die sich dazu bislang ausschweigen, und sie muss sich besonders mit Frankreich und den Niederlanden ins Benehmen setzen, die bei den Referenden mit "Nein" gestimmt haben.

Börsen-Zeitung: Was soll das bringen?

Jean-Claude Juncker: Es ist wichtig, von Paris und Den Haag zu erfahren, welche Teilelemente des Vertrages schuld daran waren, dass die Bürger die Verfassung abgelehnt haben. Angesichts dieser Exegese bin ich der Auffassung, dass man Frau Merkel keinen Gefallen tut, wenn man von allen Seiten ständig die Erwartung nährt, dass es der Kanzlerin gelingen wird, binnen sechs Monaten den Verfassungszug wieder unter Dampf zu setzen. Wenn es der Frau Merkel schon gelingt, falsche Optionen zu eliminieren und einige politische Pisten für die nachfolgenden Präsidentschaften anzulegen, wäre dies schon eine unwahrscheinliche Leistung.

Börsen-Zeitung: Wenn Sie sagen, es wäre schon eine gute Leistung, wenn es gelänge, falsche Optionen zu eliminieren. Was meinen Sie damit?

Jean-Claude Juncker: Eine falsche Option wäre, sich nur auf den ersten Teil der Verfassung zurückzuziehen. Dies ist nicht machbar, weil die Gesamtbalance gestört wird. Die kleineren Länder tragen die institutionellen Reformen im ersten Kapitel nur mit, weil sie im dritten Teil die Garantie bekommen, für Politikfelder, in denen sie wegen ihrer geringen Größe sonst international benachteiligt sind, eine europäische Dimension zu erhalten. Das ist der Fall bei der gemeinsamen Energiepolitik, in der Außen- und Sicherheitspolitik, im Kampf gegen organisierte Kriminalität, aber auch in einer gemeinsamen Einwanderungspolitik. Ein kleines oder mittelgroßes Land bleibt schließlich ein außenpolitischer Zwerg, wenn es nicht im europäischen Kontext Einfluss nehmen kann. Ich akzeptiere, dass Deutschland im Kreis der Regierungen unendlich mehr Stimmengewalt hat als Luxemburg. Das funktioniert aber nur, wenn ich meinen Bürgern erklären kann, dass auch wir künftig über Dinge abstimmen können, die bislang nicht in unserer Macht standen. Es geht um die innere Balance der EU- Verfassung. Sie darf sie nicht auseinandergerissen werden.

Börsen-Zeitung: Aber wenn Sie so argumentieren, hat die deutsche Präsidentschaft ja gar keine andere Wahl, als den vorliegenden Verfassungstext einfach so hinzunehmen und erneut zur Abstimmung zu stellen, mit der Gefahr allerdings, dass er dann abermals eine Ablehnung erfährt.

Jean-Claude Juncker: Nein, ich muss mich ja mit der Frage beschäftigen, dass die Bevölkerung in zwei Staaten mit "Nein" gestimmt hat. Und diese beiden Staaten müssen jetzt jene Punkte benennen, die man diskutieren muss um überhaupt eine Aussicht zu haben, dass sie dem Vertragstext zustimmen können.

Börsen-Zeitung: Es genügte also, nur bei diesen beiden Staaten einen neuen Anlauf zu unternehmen? Oder müssten nicht auch alle anderen einen geänderten Text neu ratifizieren?

Jean-Claude Juncker: Ich wünschte mir, dass jene Staaten, die bereits ratifiziert haben, ihn nicht noch einmal ratifizieren müssen. Das wird aber davon abhängen, welche Punkte, besonders mit Blick auf Frankreich und die Niederlande, neu formuliert werden müssen und wie dies sich mit den jeweiligen Verfassungen der Länder, die "ja" gesagt haben, vereinbaren lässt.

Börsen-Zeitung: Aber ist eine solche inhaltliche Debatte derzeit überhaupt zu stemmen, da eine Reihe von Regierungen nicht handlungsfähig ist: Frankreich und Großbritannien etwa stehen vor Wahlen...

Jean-Claude Juncker: Wie gut man das kann, weiß ich nicht. Aber man wird es müssen. Natürlich wird die inhaltliche Debatte über die EU-Verfassung während des deutschen Vorsitzes vor allem durch die Wahlen in Frankreich künstlich verkürzt. Das mag man bedauern, aber Europa ist immer die Schnittmenge zwischen noblen Ideen und taktischen Kniffen gewesen. Europapolitik kommt deshalb ohne ein Mindestmaß an pragmatischem Vorgehen nicht aus. Obwohl ich sehr wohl die Schwierigkeiten sehe, dass man vor Wahlen nicht weiß, mit wem man es ab wann zu tun hat, wehre ich mich dagegen, dass man nun die französischen Wahlen anführt, um die inhaltliche Debatte von vorneherein auszublenden. Es muss im Grunde doch umgekehrt sein: Gerade vor Wahlen sollte man sagen, was man denkt, auch in Paris.

Börsen-Zeitung: Kommt dann erst eine spätere Präsidentschaft in den Genuss, eine Lösung präsentieren zu können?

Jean-Claude Juncker: Wir haben jetzt eine Reflexionsphase. Im Anschluss daran wird die deutsche Präsidentschaft eine sogenannte Roadmap vorlegen. Die Umsetzung ist dann eine Gemeinschaftsaufgabe. Und eine nachfolgende Präsidentschaft wird die Lorbeeren einheimsen. So ist das nun mal.

Börsen-Zeitung: Wenn der Prozess sich nun aber in die Länge zieht: Wann ist es an der Zeit, Alternativpläne in Angriff zu nehmen? Ich denke da an eine weitere Stärkung der Euro-Gruppe als Kerneuropa.

Jean-Claude Juncker: Zunächst kann man die Euro-Gruppe wohl nicht dazu hernehmen, um die Verfassungsfrage zu beschleunigen und neuen europäischen Elan hervorzubringen, weil zwei Länder daraus, Frankreich und die Niederlande, mit "Nein" gestimmt haben. Im Übrigen bin ich auch kein Anhänger der These, dass wir ein Kerneuropa wissentlich und willentlich anstreben sollten. Vielmehr sollten wir alle Dinge gemeinsam mit allen 27 Staaten tun. Kerneuropa wird stets hervorgeholt als Option, wenn alles andere nicht mehr geht. Ich schließe zwar nicht aus, dass wir einmal auf diese Option zurückgreifen müssen. Aber von Anfang an so zu tun, als ob man immer zuerst mit einer Kerntruppe die politischen Ziele definiert und deren Umsetzung in Gang setzt, hielte ich für einen falschen Politikansatz. Denn ein solches Vorgehen zwingt die Europamüden nicht zu mehr Europa, sondern belässt sie in ihrem bequemen Nichtstun. Aber noch mal: Ich schließe die Kernoption als letzte Option nicht aus. Aber nur dann, wenn überhaupt nichts mehr geht. Nicht als Plan, sondern nur als Ausweg.

Börsen-Zeitung: Herr Juncker, Sie führen die Euro-Gruppe nun schon seit geraumer Zeit. Dort gilt das Prinzip "Minister plus eins" -jedes Land ist also nur mit zwei Personen vertreten. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hat nun vorgeschlagen, dieses Prinzip auch auf den Ecofin anzuwenden, um besser Debatten führen zu können. Halten Sie das für einen richtigen Ansatz?

Jean-Claude Juncker: Als ich 1997 die Schaffung der Euro-Gruppe - gegen viel Widerstand - vorgeschlagen hatte, war mir klar, dass diese sich, auch im Verhältnis zum Ecofin-Rat, sehr schnell emanzipieren wird. Die Musik spielt nun mal dort, und sie spielt dort besser und hörbarer, weil wir im kleineren Format tagen - fast wie in Gründerzeiten der EU. Hinzu kommt, dass die Gespräche informell und vertraulich geführt werden. Wenn der deutsche Finanzminister nun vorschlägt, auch im Ecofin-Rat ein ähnliches Format zu wählen, hat er zweifellos recht. Man kann nicht mit 200 Leuten im Saal wirtschaftspolitische Dinge so bereden, dass sie zielführend sind.

Börsen-Zeitung: Aber könnte man dann nicht auf die Euro-Gruppe verzichten?

Jean-Claude Juncker: Nein. Nicht alle, aber viele Entscheidungen sind eben nicht zur Vorlage für den Ecofin-Rat gedacht. Wie sich die Währungsunion die Stärkung ihrer Haushaltsüberwachung vorstellt, muss sie nicht mit den anderen Staaten diskutieren. Meine Sorge ist aber, dass die Euro-Finanzminister dem Ecofin-Rat nicht mehr mit dem nötigen Ernst begegnen. Viele Minister haben nach der Euro-Gruppe den Eindruck, dass alles Wichtige gesagt ist, und fahren nach Hause. Die Überlegung vom Kollegen Steinbrück ist deshalb berechtigt. Das ändert aber nichts daran, dass die Euro-Finanzminister über ihr intimes Innenleben nur allein und nicht mit anderen reden werden. Im Übrigen informiert der Vorsitzende der Euro-Gruppe die Ecofin-Kollegen am nächsten Morgen über die Ergebnisse der Beratungen der Euro-Finanzminister.

Börsen-Zeitung: Sie haben sich stets für eine engere Kooperation der Euro-Staaten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik eingesetzt. Wo stehen wir hier nach zwei Jahren?

Jean-Claude Juncker: Wir sind noch lange nicht am Ziel angelangt. Aber wir stehen besser da, als wir es zu Beginn erwartet haben. Wir haben den Stabilitätspakt reformiert gegen harsche Kritik der Europäischen Zentralbank und gegen das Trommelfeuer der deutschen Finanzpresse. Wir haben ihn so reformiert, dass er heute wirtschaftspolitisch besser in die Landschaft passt und haushalts- sowie finanzpolitisch bessere Ergebnisse zeitigt. Nehmen Sie den verstärkten präventiven Arm des Pakts. Die Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet, ihre Einnahmeüberschüsse stärker in den Abbau der Defizite zu stecken. Der deutsche Finanzminister geht diesen Weg entschlossen, und Deutschland wird schon bald offiziell aus dem Defizitverfahren entlassen werden. Auch Italien und Griechenland können es schaffen, so dass in der Eurozone nur Portugal mit einem übermäßigen Defizit übrig bleibt. Sollte es bei Rom und Athen trotzdem Probleme geben...

Börsen-Zeitung: ...müssen sie ihre Statistiken ändern?

Jean-Claude Juncker: Das Thema ist natürlich etwas komplizierter. Aber wir haben uns ja auch noch nicht mit der über Nacht entstandenen Erstarkung der griechischen Wirtschaft abgefunden. Fakt ist aber: Die Defizite korrigieren sich nach unten. Und in der Eurozone haben die Mitgliedstaaten zuhauf Strukturreformen durchgeführt. Das unterscheidet sich sehr von dem Bild in der europäischen Öffentlichkeit, wo den Euro-Staaten ständig Immobilismus vorgeworfen wird. Andere Länder oder aber internationale Organisationen wie der IWF, die uns von außen betrachten, staunen dagegen über den Reformwillen und die Forschritte, die wir erreicht haben. Die Strukturreformen, die wie die Haushaltskonsolidierung weitergeführt werden müssen, sind verantwortlich dafür, dass die Arbeitslosenquote in der Eurozone sinkt und dass sich die Wettbewerbsfähigkeit in einigen Regionen wie in Deutschland erheblich verbessert.

Börsen-Zeitung: Was wollen Sie denn in den nächsten beiden Jahren machen?

Jean-Claude Juncker: Wir brauchen für dauerhafte Disziplin eine weitere Verstärkung der Haushaltsüberwachung. Diese wird zurzeit vorbereitet. Und wir brauchen eine engere Koordinierung der Wirtschaftspolitiken. Hier sind wir aber davon abgekommen, allen Euro-Ländern zeitgleich dieselben Reformen zu verordnen, da dieser Ansatz die politische Leistungskraft der Euro-Staaten überfordert. Wir müssen weiter an der Außenvertretung der Eurozone arbeiten und uns Schritt für Schritt dahin bewegen, dass die Eurozone in den internationalen Finanzgremien mit einer Stimme spricht. Da sehe ich erhebliche Fortschritte im Meinungsbildungsprozess, und ich stelle fest, dass sich im französischen Wahlkampf alle potenziellen Kandidaten dementsprechend geäußert haben. Ich bleibe zudem bei meiner Haltung, dass wir einen regeren Dialog mit der EZB benötigen, ohne dies jedes Mal neu lautstark zu postulieren. Dies provoziert in der Öffentlichkeit nur eine kontroverse Debatte, die den Zielen abträglich ist.

Börsen-Zeitung: Wie hat man sich diesen Dialog vorzustellen?

Jean-Claude Juncker: Es geht nicht darum, die Unabhängigkeit der EZB infrage zu stellen, sondern um den regelmäßigen Meinungsaustausch über strategische Zukunftsfragen. Die Eurozone kann es sich nicht leisten, auf Ereignisse weltweit nur zu reagieren. Sie muss vorbereitet sein. Ich kann nicht einsehen, warum der Präsident der EZB, Jean-Claude Trichet, sich bei all seiner Unabhängigkeit dagegen wehrt, mit uns in einen permanenten Gedankenaustausch zu treten. Das kann ich nicht nachvollziehen. Im Übrigen ist die EZB gut beraten, auf die Zwischenzungenschläge im französischen Wahlkampf zu achten.

Börsen-Zeitung: Immer wieder bringen Entscheidungen des EuGH die Staatshaushalte in die Bredouille und damit auch in die Schusslinie der EZB, weil die Leitsätze beträchtliche Einnahmeausfälle nach sich ziehen. Schießen die Richter bisweilen über das Ziel hinaus?

Jean-Claude Juncker: Ich habe es mir abgewöhnt, Richterentscheidungen zu kommentieren. Wir haben einen Rechtsstaat - und die Richter sprechen Recht. Dass die Urteile nach dem Geschmack einiger Mitgliedsländer manchmal zu weit gehen, hat damit zu tun, dass die Mitgliedstaaten zusammen mit dem Europaparlament normative Festlegungen treffen, die auf dem Wege der Kompromissbildung so diffus werden, dass der richterliche Interpretationsraum immer größer wird. Die Politik staunt dann nicht schlecht, was aus ihren Entscheidungen geworden ist und wie die Richter darauf reagieren. Wären die Entscheidungen stringenter formuliert und wären wir weniger matschig und schwammig bei unserer Kompromissbildung, dann hätten die Richter weniger Spielraum, um über die gewollte Zielsetzung hinausschiessen zu können.

Börsen-Zeitung: Die jüngsten Erweiterungsrunden haben den Abstimmungsprozess in der EU erschwert. Die EU-Verfassung hängt in der Luft. Das Bild der Zerstrittenheit macht sich in der Öffentlichkeit breit. Braucht Europa einen neuen Geist, um die Gemeinschaft weiter nach vom zu bringen?

Jean-Claude Juncker: Den Menschen in Europa fehlt das richtige Europabild. Die Politik muss aufhören, Europa schlechtzureden. Wir können stolz sein auf unsere Leistungen. Den Euro hatte uns im internationalen Umfeld niemand zugetraut. Und was wäre in den letzten Jahren mit unseren nationalen Währungen geschehen, wenn wir sie nicht im Euro gebündelt hätten? Der 11. September, der Fall der Mauer, die Balkan-Krise mitten in Europa, die sich verkomplizierende geopolitische Lage. Was wäre denn passiert, wenn wir die Staaten, die nach 1989 an der direkten europäischen Peripherie gegründet wurden, sich selbst überlassen hätten, mit allen ihren Grenz- und Minderheitenproblemen? Wir müssen den Menschen besser erklären, dass wir in Substanzbereichen der europäischen Politik so gehandelt haben, wie wir mussten.

Börsen-Zeitung: Also alles eine Frage der Vermarktung?

Jean-Claude Juncker: Wir müssen besser verkaufen, dass der Euro und die Erweiterung Erfolgsstorys sind, statt immer nur herumzumeckern. Auch die Verfassung wäre ein Durchläufer durch die Parlamente geworden, wenn wir nicht über Jahre hinweg Europa insgesamt und die Verfassungsdebatte im Besonderen schlechtgeredet hätten. Statt zu begreifen, dass Innenpolitik Europapolitik ist und umgekehrt, haben viele mit Europapolitik Innenpolitik betrieben - und wundern sich nun über die abnehmende Zustimmung in der Öffentlichkeit für Europa.

Börsen-Zeitung: Aber gut zureden allein genügt doch nicht. Die Zerstrittenheit existiert nun mal. Nehmen Sie die Energiepolitik. Europa bekommt es nicht hin, eine einheitliche, unstrittige europäische Position nach außen zu präsentieren...

Jean-Claude Juncker: Daran muss man arbeiten. Die Energiepolitik ist ein neues Feld. Man entdeckt erst jetzt, dass wir eine gemeinsame Energieaußenpolitik brauchen. Nur wenn die Europäer gemeinsam auftreten, sind sie auf gleicher Augenhöhe mit den Geschäftspartnern. Dass hier nationale Interessen eine Rolle spielen, halte ich zunächst für einen normalen Vorgang. Bei dem darf es aber nicht bleiben.

Börsen-Zeitung: Ist das neu auszuhandelnde Partnerschaftsabkommen mit Russland der Lackmustest für die Gemeinsamkeit der Europäer?

Jean-Claude Juncker: Sich vorzustellen, wir könnten eine europäische Architektur schaffen, ohne das Gewicht Russlands mit einzubinden, wäre ohnehin eine abenteuerliche Vorstellung.

Dernière mise à jour