"Zu früh für grosse Entscheidungen". Jean-Claude Juncker au sujet du Conseil européen

d’Wort: Herr Juncker, ist das Thema Türkei nach der Einigung der europäischen Außenminister vom Montag nun in Brüssel vom Tisch? Nach Ankaras Blockadehaltung war lange Zeit mit einem neuerlichen Türkei-Gipfel gerechnet worden?

Jean-Claude Juncker: Die Einigung der Außenminister, die Sie ansprechen, möchte ich ausdrücklich begrüßen. Die 25 Diplomatiechefs haben Anfang der Woche richtigerweise die Vorschläge der EU-Kommission übernommen und ihre Antworten formuliert. Damit wird das Gipfeltreffen nicht vom Thema Türkei überschattet. Das ist eine gute Sache. Die Positionierung der EU in Sachen Türkei steht. Und die Lösung ist in meinen Augen auch absolut zufriedenstellend.

d’Wort: Das Thema Türkei wird demnach in der Gipfelrunde nicht angesprochen?

Jean-Claude Juncker: Es bleibt bei dem, was die Außenminister beschlossen haben. Es sei denn, es kommt zu heftigen Reaktionen der türkischen Seite. Für ein solches Vorgehen gibt es meines Erachtens nach allerdings bis jetzt keine Anzeichen. Übrigens spricht auch nichts für eine direkte negative Reaktion Ankaras.

d’Wort: Kein Türkei-Gipfel: Welches sind denn die Schwerpunkte des Treffens der EU-Spitzen zum Abschluss des finnischen Ratsvorsitzes?

Jean-Claude Juncker: Es handelt sich hier um einen typischen Zwischengipfel am Ende einer Präsidentschaft, die ohne dramatische Beschlüsse verlief. Um nicht missverstanden zu werden: Man sollte sich endlich von der Vorstellung loslösen, dass jeder Gipfel gleichbedeutend mit bahnbrechenden Entscheidungen sein muss. Wir stehen als Europäer vor einem Arbeitsgipfel. Mit diesem Treffen geht ein Ratsvorsitz zu Ende, der von normalen europapolitischen Arbeitsgängen geprägt war. Am Europäischen Rat ist es jetzt, sich abschließend mit dem, was in den zurückliegenden sechs Monaten auf der Tagesordnung stand, zu beschäftigen.

d’Wort: Und wie steht es um eine Akzentsetzung in der Außenpolitik. Die spanische Regierung schlug kürzlich eine europäische Nahost-Initiative vor. Die Staats- und Regierungschefs sind demnach gefordert.

Jean-Claude Juncker: Die Lage in Nahost ist sicher eines der außenpolitischen Themen, mit denen sich die Staats- und Regierungschefs befassen werden. Es besteht nämlich immer eine Notwendigkeit, über die Entwicklungen in dieser Krisenregion zu reden. Das werden wir, vor allem aber auch die Außenminister bei ihrem Treffen in Brüssel tun.

d’Wort: Zurück zum finnischen Ratsvorsitz: Was war in Ihren Augen die wichtigste Initiative der Präsidentschaft?

Jean-Claude Juncker: Für mich war das der sehr gelungene Versuch, eine der wichtigsten Zukunftsfragen überhaupt auf die europäische Tagesordnung zu bringen. Gemeint ist die Energiepolitik, vor allem aber deren für Europa besonders relevante außenpolitische Dimension.

d’Wort: Sie denken da sicher an das Verhältnis mit Russland und die Gipfelgespräche mit Präsident Putin in Lahti.

Jean-Claude Juncker: Das Gespräch mit Präsident Putin war von großer Bedeutung. Er wird es uns hoffentlich erlauben, unter deutschem Ratsvorsitz einen entscheidenden Schritt in der Energiefrage voranzukommen. Die Fragmentierung der europäischen Energiemärkte ist nicht zielführend. In Lahti machten wir als EU klar, dass eine gemeinsame Energiepolitik notwendig und gewünscht ist. Das war nicht zuletzt auch ein Signal dafür, dass die Taktik, wenn es sie denn gäbe, europäische Länder in der Energiefrage gegeneinander auszuspielen, nicht aufgehen wird.

d’Wort: Europa bekam jedoch nicht in jedem Punkt die erhofften Garantien von der russischen Seite.

Jean-Claude Juncker: Auch wenn Russland am Drücker sitzt, sind die beiderseitigen Beziehungen Wechselbeziehungen zwischen Gleichen. Europa braucht Russland, Russland braucht die Europäische Union. Das wurde in Lahti deutlich untermauert.

d’Wort: Präsident Putin gerät wegen Menschenrechtsfragen verstärkt unter Druck. Ein Fall für die EU-Spitzen?

Jean-Claude Juncker: Ich sehe keine Veranlassung für ein gesondertes Russlandgespräch. Höchstens am Rande des Gipfels, auf bilateraler Ebene zwischen Regierungschefs. Als solcher muss ich mich mit Fakten auseinandersetzen. Außenpolitik ist nämlich nicht die Fortsetzung von Polemik mit anderen Mitteln.

d’Wort: Nach den Finnen übernehmen nun ab Januar 2007 die Deutschen das Ruder in der EU. Keine leichte Aufgabe. Vor allem weil es in der Verfassungsfrage bis dato wenig Bewegung gegeben hat. Der Erwartungsdruck ist demnach hoch.

Jean-Claude Juncker: Wie Kanzlerin Merkel warne auch ich davor, den deutschen Ratsvorsitz mit Erwartungen zu überfrachten. Die EU befindet sich zurzeit nicht in geschlossener Kampfaufstellung, um wichtige Entscheidungen einer endgültigen Lösung zuführen zu können. An der deutschen Seite ist es, in einer ersten Phase die Verfassungsdebatte zu reanimieren.

d’Wort: Was meinen Sie mit geschlossener Kampfaufstellung?

Jean-Claude Juncker: Im ersten Semester 2007 wird sich in der EU so manches klären. Ich denke da an die französischen Präsidentschaftswahlen, die Regierungsbildung in Österreich und in den Niederlanden sowie an den Wechsel an der Regierungsspitze in London. Wir brauchen Zeit, um entscheidungsfähig zu werden. Es ist, wie ich bereits bemerkt habe, noch zu früh für große Weichenstellungen.

d’Wort: Was erwarten Sie vor diesem Hintergrund von Kanzlerin Merkel als neuer Ratsvorsitzenden?

Jean-Claude Juncker: Was den Verfassungsvertrag anbelangt, so wird die deutsche Seite einen Substanzfragebogen erstellen und diesen an die Mitgliedstaaten weiterleiten. Das ist die Grundlage für eine Roadmap, die dem Rat dann im Juni 2007 vorgelegt werden soll.

d’Wort: Großbritannien bekommt einen neuen Premier, Frankreich einen neuen Präsidenten. Könnte das zu einer europapolitischen Wende führen?

Jean-Claude Juncker: Das europapolitische Engagement von Gordon Brown, den ich als Schatzkanzler sehr achte, ist nicht so ausgeprägt wie das eines Tony Blair. Die Kandidaten, die sich bis jetzt fürs höchste Staatsamt in Frankreich beworben haben, warteten ihrerseits mit europapolitischen Vorschlägen auf, die in anderen Ländern kaum konsensfähig sind. Deshalb gilt es abzuwarten, wo es hingehen wird.

d’Wort: Was den Verfassungsvertrag angeht, so wird immer wieder von einer "Rettung der Substanz" geredet. Was heißt das konkret? Wie kann oder soll was gerettet werden?

Jean-Claude Juncker: Zuerst möchte ich daran erinnern, dass mittlerweile 18 von 25 Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert haben. Das sollte man nicht vergessen. Nun zur Substanz: Ich halte es für oberflächlich und falsch davon auszugehen, man könnte einfach so Teile der Verfassung aus dem Werk heraustrennen. Ziel muss es sein, Gleichgewichte zwischen den drei Pfeilern zu erhalten, auf denen der Vertrag beruht. Es gibt ein Zusammenspiel von institutionellen Bestimmungen im ersten Teil und konkreten politischen Vorgaben im dritten Teil der Verfassung. Ebenso gilt es die Grundrechtecharta zu erhalten, auf die sich die europäische Union in ihrem Selbstverständnis als Wertegemeinschaft beruft. Die eigentliche Debatte, der wir uns stellen müssen, ist die über ein Substanzgleichgewicht.

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