Juncker: Im Zeichen konstruktiver Zweideutigkeit. Jean-Claude Juncker au sujet du bilan du Conseil européen

Marc Glesener: Der Gipfel zum Abschluss des finnischen Ratsvorsitzes dürfte kaum als Treffen großer, richtungweisender Beschlüsse in die Geschichte der EU eingehen. In diesem Punkt sind sich Politik und Kommentatoren eins. Gab es denn tatsächlich gar keine nennenswerten Fortschritte zu verzeichnen?

Jean-Claude Juncker: Als positiven Punkt möchte ich hervorstreichen, dass wir uns als Staats- und Regierungschefs immerhin auf die Grundzüge einer gemeinsamen Strategie in Sachen Immigration verständigen konnten. Parallel zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung nach Europa soll die legale Immigration in einer gesamteuropäischen Perspektive als Instrument genutzt werden, um unsere gravierenden demografischen Probleme in den Griff zu bekommen. Darunter verstehe ich die Lösung von Problemen, die den Arbeitsmarkt und vor allem aber auch unsere Sozialversicherungssysteme betreffen.

Marc Glesener: Bei den Themen Erweiterung und Vertiefung, sprich den notwendigen institutionellen Reformen - Stichwort Verfassung - blieb man in Brüssel allerdings weit hinter den Erwartungen zurück.

Jean-Claude Juncker: Was ich ausdrücklich bedauere. Ich bleibe bei dem Befund, dass der Gipfel - freundlich ausgedrückt ganz im Zeichen konstruktiver Zweideutigkeit stand. Für Großbritannien, Schweden und viele der neuen Mitgliedstaaten ist die Erweiterung der Union wichtiger als die Vertiefung der europäischen Integration. Im Rat gibt es nur eine Minderheit, dazu gehören die Benelux-Partner, die eine vorsichtigere Vorgehensweise anmahnen. Nach der Aufnahme Kroatiens sollte es meiner Meinung nach keine neue Erweiterungsrunden geben, bevor wir das europäische Haus in Ordnung gebracht haben. Genau das hätte meines Erachtens nach in den Schlussfolgerungen des Gipfels deutlich gemacht werden müssen. Dazu ist es allerdings nicht gekommen. Es gab dafür keine Mehrheit.

Marc Glesener: Und was sind die Argumente, die die Gegner einer vorsichtigeren Gangart in Sachen Erweiterung ins Feld führen?

Jean-Claude Juncker: Ihr Hauptargument ist die Signalwirkung in Richtung Westbalkan. Es dürfe, so wird argumentiert, nicht der Eindruck entstehen, als stelle die Union irgendwelche europäischen Perspektiven in Frage.

Marc Glesener: Aber steckt da nicht mehr dahinter? Es besteht der Verdacht, dass ausgerechnet diejenigen, die weniger Europa wollen, auf mehr Erweiterung drängen.

Jean-Claude Juncker: Ich stelle eine große Schnittmenge in der Position der Länder fest, die mehr Erweiterung und weniger Europa wollen.

Marc Glesener: Sie plädierten in Brüssel auch für eine Vertiefung der polizeilichen und juristischen Kooperation der 25. Auch in diesem Kontext bewegte sich nichts.

Jean-Claude Juncker: Dabei hätten wir auf der Grundlage des Nice-Vertrages die Möglichkeit, die von Ihnen angesprochene Zusammenarbeit zu vertiefen. Wenn wir in bestimmten Politikfeldern aufgrund qualifizierter Mehrheit im Rat entscheiden könnten. Ich bedauere, dass die Bereitschaft fehlt, diesen Weg zu gehen. Die europäischen Bürger haben ein Recht auf Freiheit und Sicherheit. Beschlüsse, die dieses Recht untermauern, sind in direktem Interesse der Menschen und könnten demnach sicherlich das Vertrauen in Europa stärken.

Marc Glesener: Kommen wir zum Verfassungsvertrag: Aufgrund einer spanisch-luxemburgischen Initiative kommt es Ende Januar zu einem Treffen der Länder, die die Verfassung gutgeheißen haben. Dieser Schritt wurde nicht zuletzt von Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac kritisiert, oder?

Jean-Claude Juncker: Über den von Ihnen angesprochenen Vorschlag wurde nicht offiziell im Rat diskutiert. Es ist aber das gute Recht der 18 Mitgliedstaaten, die mittlerweile Ja zum Verfassungsvertrag gesagt haben, darüber zu beraten, wie es in diesem Dossier weitergehen soll; wie sie sich die Zukunft vorstellen. Dagegen hatte in Brüssel auch niemand etwas einzuwenden. Auch nicht Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac, der am Rande unseres Treffens - wie andere Kollegen auch - , Verständnis für die Art der Konzertierung zeigte, die Spanien und Luxemburg in Vorschlag gebracht haben.

Marc Glesener: Apropos Randgeschehen beim Gipfel: Sie wurden in Brüssel von ausländischen Journalisten immer wieder auf die Rolle der Europäischen Zentralbank angesprochen. Thema war die Unabhängigkeit der Bank.

Jean-Claude Juncker: Ich habe dabei deutlich gemacht, dass es nicht gut ist, wenn an der Unabhängigkeit der EZB gerüttelt wird. Ich werde mich gegen solche Bestrebungen zur Wehr setzen. Das gilt auch für Initiativen, die auf eine Vertragsänderung hinauszielen, durch die die Unabhängigkeit der Bank eingeschränkt werden soll. Das ist für mich kein Thema.

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