Jean-Claude Juncker: "Friedensdiskurs bleibt zentrale europäische Rede, die zu halten ist". Le Premier ministre au sujet du 50e anniversaire des traités de Rome

Joseph Lorent: Mit welchen Gefühlen und Erwartungen gehen Sie morgen Sonntag nach Berlin zum informellen Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs, mit dem zugleich der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge gefeiert wird?

Jean-Claude Juncker: Mit einer guten Portion kontinentalem Stolz, weil ich der Meinung bin, dass der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge eine Gelegenheit ist, um sich vor Augen zu fuhren, was im letzten halben Jahrhundert alles möglich war und vorher nicht. In den 50 Jahren vor den Römischen Verträgen liegen zwei Weltkriege, wohingegen es danach keine Form kriegerischer Auseinandersetzungen mehr zwischen den Unterzeichnerstaaten Deutschland und Frankreich gegeben hat. Stolz bin ich auch, weil es uns gelang, außer Frieden und Stabilität den größten Binnen- und Agrarmarkt der Welt herzustellen. Stolz bin ich außerdem, dass wir es im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts fertig brachten, diesem Binnenmarkt eine einheitliche Währung mit auf den Weg zu geben. Nirgendwo auf der Welt wäre es möglich gewesen, 13 nationale Währungen zu einer einheitlichen Währung zu fusionieren. Nicht notwendigerweise Zweifel hege ich, doch stelle ich mir Fragen über die Weiterführung von dem, was ich immer noch als europäisches Abenteuer ansehe. Ich kenne nämlich die Zweifel und Schwierigkeiten der Menschen, genau so wie ich auch Ablehnung gegen wichtige Errungenschaften der EU, wie beispielsweise die Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa, spüre. Nach Berlin gehe ich jedoch auch mit einer guten Portion Zuversicht, weil ich trotz aller Rückschläge, Krisenerscheinungen und Infragestellungen immer noch an das europäische Genie glaube.

Joseph Lorent: Sind Sie optimistisch oder skeptisch, was die so genannte Berliner Erklärung betrifft, die der Europäischen Union neue Impulse auch und besonders in der öffentlichen Meinung geben soll?

Jean-Claude Juncker: An sich wird die Berliner Erklärung eine feierliche Erklärung sein, in der wir zusammen die Leistungen der letzten 50 Jahre unterstreichen und zusammen die vor der Europäischen Union liegenden großen Herausforderungen beschreiben. Die Berliner Erklärung ist nicht als Lösung für den Verfassungsstreit gedacht.

Joseph Lorent: Eine persönliche Zwischenfrage: Was bedeuten für Sie, der etwas mehr als zwei Jahre alt war, als auf dem Kapitol in der Ewigen Stadt die Unterzeichnung stattfand, die Römischen Verträge?

Jean-Claude Juncker: Für mich bedeuten die Römischen Verträge die Einläutung eines Epochenwandels auf dem europäischen Kontinent. Dies weil nach dem Zweiten Weltkrieg in sich aufeinanderfolgenden Etappen zum allerersten Mal in der europäischen Geschichte der ewige Nachkriegssatz "Nie wieder Krieg!" zu einem politischen Programm gemacht wurde, das es nicht bei der Nachkriegstrauer beließ. Wenn ich mich mit der Entstehungsgeschichte der Römischen Verträge beschäftige, sage ich mir oft, dass die heute Regierenden eigentlich den Vergleich mit der Tugendhaftigkeit, der Noblesse und der Weitsicht jener, die damals die Verantwortung für sich und ihre Völker übernahmen, nicht aushalten. Je mehr ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird mir, welche schwächelnden bis schwachen Nachfolger wir eigentlich sind. Es bedurfte nämlich unendlich mehr Mutes, um zwölf Jahre nach dem Krieg jene Menschen, die aus den Konzentrationslagern und von der Front zurückkehrten, die den wirtschaftlichen Niedergang Europas miterlebten und die mit dem Wiederaufbau beschäftigt waren, auf die europäische Zukunftspiste zu bringen, als es heute Mut braucht, um Europäer, die den vollen Genuss des Erreichten ganz einfach nicht wahrhaben, ein bisschen geschichtsfaul und zukunftsträge geworden sind, auf der breiten Straße zu halten. Für mich sind der 50. Jahrestag und auch die Feier in Berlin eigentlich ein großer Dank der heutigen Generation an die Generation unserer Eltern. Sie taten das Wesentliche, während wir an kleinen Renovierungsarbeiten verzweifeln.

Joseph Lorent: Für die Lösung der schwierigen Situation, in der sich die Europäische Union nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Debatte über den Verfassungsvertrag befindet, gibt es sicherlich kein Patentrezept. Welcher konkreten Vorgehensweise bedarf es Ihrer Meinung nach, um wieder auf die richtige Spur zu kommen?

Jean-Claude Juncker: Die Europäische Union braucht einen neuen Vertrag, nicht etwa weil es neuer Grundsteine bedarf, sondern weil neue Arrangements und neue zukunftsorientierte Ambitionen nötig sind. Mit dem gegenwärtigen Vertragswerk können wir auf Dauer die europäische Zukunft einfach nicht sicherstellen. Es ist die Aufgabe der EU-Staats- und Regierungschefs, um nach Möglichkeit noch vor den Europawahlen von Juni 2009 einen neuen Vertrag in ratifizierter Form herbeizuführen. Wenn man, wie die Luxemburger, per Referendum dem vorliegenden Verfassungsvertrag ein breites Ja gegeben hat, dann hat man die glaubwürdige Forderung zu stellen, dass der neue Vertrag Substanzelemente von dem durch die Franzosen und die Niederländer abgelehnten Vertrag enthalten muss. Daher müssen die verschiedenen in Europa bestehenden Sensibilitäten sich aufeinander zu bewegen, allerdings nicht auf eine Art, dass jene, die den Verfassungsvertrag nicht wollten, sich auf der ganzen Linie durchsetzen, wohingegen jene, die Ja sagten, auf der ganzen Linie nachgeben müssten.

Joseph Lorent: Es zeigt sich immer deutlicher, dass wir es in der EU insofern mit einem Generationenkonflikt zu tun haben, als die jüngeren Generationen die gegenwärtige Friedenssituation in Europa als Selbstverständlichkeit ansehen und den Urgedanken der europäischen Gründerväter nicht mehr richtig wahrnehmen. Wie kann man hier einen Mentalitätswandel herbeiführen?

Jean-Claude Juncker: Mir ist schon bewusst, dass der Friedensdiskurs, den auch ich von Zeit zu Zeit intensiv halte, junge Menschen nicht mehr im selben Maß erreicht wie die vorhergehenden Generationen. Naiv ist der Gedanke, dass der Frieden in Europa definitiv gesichert sei. Erinnern wir uns doch daran, dass vor ein paar Jahren auf dem Balkan noch Frauen vergewaltigt, Kinder umgebracht und Menschen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit in Konzentrationslager eingesperrt wurden. Es ist wirklich erstaunlich, wie ein weniger als zehn Jahre zurückliegendes Ereignis wie ein Vorfall behandelt wird, der sich nicht mehr wiederholen könnte. Ergo halte ich, auch wenn dies hin und wieder dem einen oder anderen Zuhörer penetrant auf die Nerven geht, den Friedensdiskurs noch immer für die zentrale europäische Rede, die zu halten ist. Ich will nicht, dass es noch einmal eine Generation gibt, die einer Generation folgt, die in den Krieg ziehen musste! Je mehr ich mich mit dem Europäischen beschäftige, desto stärker rückt es in mein eigenes Bewusstsein, dass diese Generation die Aufgabe hat, die europäischen Dinge dingfest zu machen. Dies weil jene, die in 30 oder 40 Jahren auf dem europäischen Kontinent regieren werden, einfach die Erinnerungskraft nicht mehr besitzen, da sie keine Väter oder Großväter haben, die ihnen erzählen können, wie es in den Schützengräben aussieht. Es ist richtig, dass die Jugend sich weniger durch die Notwendigkeit des europäischen Aufbaus und der damit einhergehenden Erfordernis, national manchmal kürzer zu treten, damit der Kontinent insgesamt einen größeren Schritt tun kann, angesprochen fühlt. Allerdings sind die Jungen nicht allein mit diesem Gefühl. Zwar ist die eigentliche europäische Krise, wie man annehmen könnte, durch das doppelte Nein der Franzosen und Niederländer ausgelöst worden, doch ist dies nicht die Ursache. Verursacht wird die Krise vielmehr durch den un-überwindbar erscheinenden Graben zwischen jener Hälfte der europäischen Bevölkerung, die lieber mehr Europa hätte, und der anderen Hälfte, die meint, wir hätten heute schon zuviel Europa. Es ist Aufgabe der Politik, diesen Widerspruch aufzuheben. Sie ist aber dieser Aufgabe nicht gewachsen, weil der äußere Druck (sprich: die Sowjetunion) und die Hungersnot aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr da sind. Indem scheinbar alles gut funktioniert, haben wir das Interesse am anderen verloren. Alle Länder erliegen immer wieder der Gefahr, sich auf sich selber zurückzuziehen, ohne nach dem anderen zu schauen. Einerseits kann die Tatsache, dass es Menschen gibt, die meinen, wir hätten den Integrationsprozess zu weit getrieben, mich zwar ärgern, doch muss ich mich andererseits auch darum bemühen, dieses Gefühl zu verstehen. Oft kommt dieses Gefühl nämlich daher, dass wir im Eifer des europäischen Integrationsprozesses uns als EU in Zuständigkeitsfelder einmischten, die bei ihrer Ausgestaltung eigentlich viel besser bei den Nationalstaaten aufgehoben sind. So sehr ich auch für eine Vertiefung der Integration bin, wo sie gebraucht wird und selbst der größte Nationalstaat allein nichts bewirken könnte, so sehr bin ich aber auch dafür, dass der Nationalstaat wieder in seine Rechte zurückgeführt wird, die man ihm nie hätte nehmen dürfen. Wenn die aus meiner Sicht zufriedenstellend im bislang gescheiterten Verfassungsvertrag geregelte Frage der Kompetenzordnung in einem neuen Vertrag so deutlich hervorgehoben werden kann, dass die Ängstlichkeit im Umgang mit der europäischen Sache verschwindet, dann könnten wir, zusammen mit der notwendigen Ausgestaltung der sozialen Dimension Europas, wieder so etwas wie eine Konsensschnittmenge herstellen. Diese würde uns wieder erlauben, Integration dort zu wagen, wo ihr Fehlen sich gegen die Nationalstaaten auswirkt, und Integration dort sein zu lassen, wo ein übertriebener Integrationsdrall die nationalen Identitäten in ihrem normalen Sein und Wachsen stört.

Joseph Lorent: Befindet die EU sich nicht allgemein in einer Identitätskrise, da einzelne Mitgliedstaaten mehr oder weniger offen dazu tendieren, die Union als eine Art fortgeschrittene Freihandelszone anzusehen und nicht unbedingt auf eine Fortsetzung des Integrationsprozesses hin zu einer Solidar- und Wertegemeinschaft erpicht sind?

Jean-Claude Juncker: In der vorstehenden Frage leuchtet ein immanenter Konflikt auf, der sich in der gesamten Vorgeschichte und in der Integrationsgeschichte der Europäischen Union selbst gezeigt hat. Seit den 50er-Jahren tobt dieser Kampf zwischen jenen, die aus rein wirtschaftlichen Motiven aus Europa eine mehr oder weniger gehobene Freihandelszone machen wollen, und jenen, die sich eine politische Union, d. h. eine solidarische Schicksalsgemeinschaft, wünschen. Ich bin radikal gegen jenes Konzept, dass aus der Europäischen Union die Vereinigten Staaten von Europa machen will. Es ist auch möglich, Europa zu vertiefen, ohne dass wir Abstriche an dem vornehmen müssen, was wir selbst als Volk ausmachen. Die Vorstellung, dass Europa sich im Wirtschaftlichen ganz finden und erschöpfen würde, halte ich für zu kurz gegriffen, weil Europa vor allen anderen Sachen eine Wertegemeinschaft ist. Diese Werte sind Solidarität, Toleranz, Respekt vor dem anderen, Rücksicht, das endgültige Einschreiben gegen jede Form von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sowie die Kenntnisnahme zur Verpflichtung der Europäischen Union, sich auf der Grundlage ihres Menschen- und Weltbildes in das Geschehen der Welt einzumischen. Insofern ist Europa auch in seiner externen Rolle durch keinen anderen Akteur auf der Weltbühne zu ersetzen.

Joseph Lorent: In der Laudatio anlässlich Ihrer Einführung am vergangenen 12. März in Paris als Akademiemitglied des Institut de France wurden Sie vom Laudator mit der Aussage zitiert, dass je mehr Europa sich erweitert, je enger die Geister werden. Muss die EU sich nicht früher oder später geografische Grenzen setzen, um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu wahren?

Jean-Claude Juncker: Im Gegensatz zu einem Eindruck, den man manchmal haben könnte, gehöre ich nicht zu den Schönrednern der europäischen Entwicklung. Ich sehe durchaus auch die Defizite und benenne sie, wie z.B. den Mangel an sozialer Illusion und eine zu starke Einmischung in die Angelegenheit von Nationalstaaten. Manchmal wehre ich mich bloß dagegen, dass Europa einfach schlechtgeredet wird.

Im Zusammenhang mit der nicht ausreichend erklärten EU-Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa, die späterhin als eine gewaltige kontinentale Revolution anerkannt sein wird, stelle ich in vielen Ländern - auch in Luxemburg - eine noch nicht gefährliche Tendenz zum Rückzug auf sich selbst fest. So als seien wir über den politischgeografischen Erfolg der EU erschrocken. Offensichtlich verengen sich manchmal die Denkkanäle in einem Augenblick, wo die EU breiter wurde. Durch ihre Erweiterung beeindruckt die EU auch in Luxemburg in einem Maße, dass man fast annehmen könnte, es bestehe Ängstlichkeit vor der Gewalt der Union. Es trifft aber eher das Gegenteil zu, denn für ein kleines Land wie z. B. Luxemburg ist die gegebene Möglichkeit des Mitwirkens bei der Politikgestaltung ganz anders, wenn wir an einem europäischen Tisch sitzen, wo 27 Länder gemeinsam ihre Zukunft planen, oder nur an einem Tisch von sechs. In anderen Worten: Unser Einfluss ist größer in einem Europa, wo uns 25 zuhören müssen, als in einem Europa, wo es deren nur fünf sind. Bei allem Verständnis für die Zukunftsängstlichkeit plädiere ich dafür, doch zu berücksichtigen, dass wir durch den Euro zu einer der beiden stärksten Währungen der Welt wurden, während wir vorher ein absoluter währungspolitischer Nobody waren.

Ich bin überzeugt, dass Europa so etwas wie geografische Grenzen braucht, bin aber ebenso bescheiden, um zuzugeben, dass ich nicht weiß, wo sie genau verlaufen sollten. Die Staaten des Balkan gehören jedenfalls in die europäische Familie. Mit der Türkei verhandeln wir, weil es verheerend gewesen wäre, diese Verhandlungen nicht zu beginnen. Ansonsten hätten wir nämlich den Eindruck vermittelt, wir wollten nichts mit der islamischen Welt zu tun haben. Laut Beschluss und laut meiner Überzeugung sind diese Verhandlungen aber ergebnisoffen zu führen. Am Tag, wo wir uns dem Ende der Verhandlungen nähern, müssen sowohl die Türken als auch wir selbst darüber befinden, ob wir ein ausreichend großes Maße an gemeinsamen Elementen zusammengetragen haben, um uns in ein und derselben Europäischen Union zusammenzuschließen. Aus heutiger Sicht habe ich über den Schlusspunkt, der die Erweiterung der EU auf die Türkei obligatorisch beinhalten würde, die allergrößten Zweifel. Ich bin der Meinung, dass die Erweiterungsdiskussion vollständiger, breitgefächerter und vielschichtiger geführt werden muss als bisher. Nicht jeder, der EU-Mitglied werden will, muss Mitglied mit derselben Intensität werden. Es ist durchaus denkbar und sogar wünschenswert, dass es eine Gruppe von Ländern gibt, die alle Politiken zusammen bestreiten, aber sich in der EU auch mit solchen Ländern zusammenfinden, die nicht alle Politiken mitmachen können oder wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Europäische Union mit 35 oder 36 Staaten ohne abgestufte Mitgliedschaft funktionieren kann.

Joseph Lorent: Diesbezüglich eine Zusatzfrage: Wie steht es allgemein um die Entscheidungsfindung in einer EU mit jetzt 27 Mitgliedstaaten?

Jean-Claude Juncker: Es liegt auf der Hand, dass überall dort, wo Einstimmigkeit erfordert ist, substanzreiche Entscheidungen nur sehr schwer möglich sind. Trotzdem bin ich der Meinung, dass es in vielen Bereichen, wie z.B. in der Steuerpolitik, bei der Einstimmigkeit bleiben muss.

Joseph Lorent: Was sind die nächsten Hürden und die großen Etappen, die von der EU genommen werden sollten?

Jean-Claude Juncker: Zuerst müssen wir die Frage klären, wie wir aus der Verfassungskrise herauskommen. Das gelingt uns nur, wenn wir die neuen institutionellen Arrangements, die im bislang gescheiterten Vertrag standen, beibehalten. Zweitens müssen wir uns neu verständigen auf den Grundrechtekatalog, der das europäische Miteinander und Nebeneinander in unseren Gesellschaften und zwischen den Nationen regeln soll. Drittens müssen die benötigten neuen Kompetenzen, die im dritten Teil des vorliegenden Verfassungsvertrages stehen, auch in den neuen Vertrag übernommen werden. Rechtsgrundlagen brauchen wir auch für eine neue Energiepolitik, die uns grausamst fehlt, und für eine gemeinsame Außenpolitik. Alsdann müssen wir einzelne Kritiken an der EU, so disparat und widersprüchlich sie auch manchmal sind, auf dem Erklärungsweg begradigen. So müssen wir beispielsweise dem europäischen Handeln eine Dosis Sozialdimension beigießen, die ihm fehlt. Nachweislich bin ich schon seit zwei Jahrzehnten fundamental der Meinung, dass man die EU nicht gegen die Mehrheit der Europäer, d. h. die Arbeitnehmer, aufrichten kann. Diese müssen sich im gemeinsamen Werk erkennen und dürfen nicht weiterhin das Gefühl haben, die europäische Konstruktion würde sich an ihrer Lebenswirklichkeit vorbei bewegen. Ebenso müssen die Europäer sich als geschlossene Formation großen Zukunftsaufgaben stellen, die nicht nur europäischer Natur sind, sondern die Menschheit insgesamt betreffen. Beim Klimaschutz hat die EU eine Trendsetterfunktion zu erfüllen. Sodann muss die EU sich auf eine weitaus konzentrierter Art und Weise den Problemen der demografischen Entwicklung in einer Welt stellen, in der die Zahl der Armen ständig zunimmt, während die Zahl derjenigen, die reich bleiben, immer kleiner wird. Deshalb muss eine europäische Entwicklungspolitik mit weitaus mehr Anspruch entworfen werden, die den Menschen dort hilft, wo sie jetzt unglücklich sind. Europas große Zukunftsaufgaben sehe ich also darin, zuerst das eigene Haus in Ordnung zu bringen, und sich der Verantwortung für die Zukunft des Planeten und der Menschheit zu stellen.

Joseph Lorent: Seit Anbeginn und auch heute noch wurde und wird in Europa auf Luxemburg gehört. Wie aber sehen sie die zukünftige Rolle unseres Landes in einer immer größer werdenden Union?

Jean-Claude Juncker: Europa zeigt heute alle Symptome einer Midlifecrisis, was im Alter von 50 Jahren nicht anormal ist. In dieser Situation fällt den Gründerstaaten die Aufgabe zu, dafür zu sorgen, dass berechtigte Zukunftszweifel ausgeräumt werden und unberechtigte Identitätskrisen nicht weiterwachsen. Als Luxemburg müssen wir den Überlebenswillen, den wir als eigenständige Nation oft in unserer Geschichte unter Beweis stellten, kraftvoll mit unseren bescheidenen Mitteln in die Europäische Union übertragen. Ein Risiko, dass wir in der EU als Nation und als Bewahrer der nationalen Identität untergehen, sehe ich nicht, wenn wir mit Selbstvertrauen und mit solidarischem Blick für die Schwierigkeiten der anderen vorgehen.

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