Le Premier ministre Jean-Claude Juncker au sujet de la Déclaration de Berlin et du traité constitutionnel

Thilo Kössler: 27 Staats- und Regierungschefs sitzen in Berlin zusammen auf dem Sondergipfel zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge, 27 Staats- und Regierungschefs sagen, sie wollen einen Schlussstrich unter die Krise ziehen, die mit den verpatzten Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden im Frühsommer 2005 aufgebrochen ist. 27 Staats- und Regierungschefs halten zur Stunde eine Erklärung in Händen, die "Berliner Erklärung", die einen Ausweg aus dem Schlamassel weisen und den Bürgern Europa wieder näher bringen sollen. Jean-Claude Juncker, Herr Premierminister, heute Nachmittag wird diese Berliner Erklärung der europäischen Öffentlichkeit vorgestellt. Sie kennen sie natürlich schon. Sagen Sie vorab etwas zur Bewertung. Ist da ein großer Wurf gelungen oder ist das schon wieder ein Kompromiss auf kleinstem Nenner?

Jean-Claude Juncker: Nein, es geht hier nicht um einen großen Wurf in dem Sinne, dass es nicht Sache der Berliner Erklärung sein kann, Wege aus der Verfassungskrise zu zeigen. Dies müssen wir im Juni diesen Jahres in Brüssel anlässlich des Endgipfels der Deutschen Präsidentschaft leisten. Die Berliner Erklärung hat eine völlig andere Zielsetzung. Es geht darum, uns selbst einmal vor Augen zu führen, welche Leistungen die Europäische Union in den 50 Jahren seit der Römischen Verträge erbracht hat - Frieden, Stabilität, gemeinsame Währung, die uns schützt gegen die Negativfolgen der Globalisierung, Erweiterung nach Osten in Europa, das heißt friedliche Zusammenführung europäischer Geografie und europäischer Geschichte, und dann ein Einblick in zukünftige Aufgaben, große Herausforderungen, vor der die Europäische Union steht. Aber Sinn der Veranstaltung ist nicht, einen Weg aus der Verfassungskrise zu zeigen, sondern eine Atmosphäre herzustellen, die man auch wird herstellen können, wenn jeder sich zu Gemüte führt, dass die Europäische Union insgesamt trotz aller Fehlleistungen, trotz aller Irrungen und Wirrungen ein europäischer Glücksfall für Europa und für die Welt ist.

Thilo Kössler: Welche Wirkungen erhoffen Sie sich denn durch dieser Berliner Erklärung? Sie soll ja ausstrahlen, sie soll eine Botschaft an die Bürger sein.

Jean-Claude Juncker: Wissen Sie, dieses Berliner Treffen, das wir hatten, erinnert mich sehr an Familientreffen, an Geburtstagsfeiern. Wenn Sie eingeladen werden, suchen Sie sehr oft nach Ausreden, um da nicht hinfahren zu müssen, weil Sie sich fragen: Was habe ich mit diesen Menschen, die ich sehr gut kenne, eigentlich noch zu tun, was bindet uns, was bringt uns zusammen, was hält uns zusammen? Muss ich da hin? Und wenn Sie dann so zwei, drei Stunden bei Tisch sitzen in dieser geselligen Familienrunde, dann wird Ihnen plötzlich bewusst: Doch, wir gehören zusammen. Wir haben eine gemeinsame Familiengeschichte, irgendwann haben wir uns zusammengefunden und sind zusammen geblieben. Es verbindet uns doch viel mehr, als wir eigentlich dachten. Und so ist es auch bei diesem Berliner Treffen. Jeder muss da hin, jeder kann sich auch vorstellen, dass er etwas anderes tut an dem Sonntagmorgen. Und wenn wir dann zusammen sind, entdecken wir plötzlich: Doch, doch, hier ist mehr als nur ein Treffen, hier feiern wir 50 Jahre Europäische Geschichte, die wir gemeinsam gestaltet haben. Wir denken an unsere Väter und Vorväter, die ein bisschen klüger und unternehmerischer waren als wir. Und dann sind wir froh, dass wir dort zusammensitzen. Die Familie hat noch Zukunft, das werden wir merken innerhalb dieser Berliner Erklärung.

Thilo Kössler: Trotzdem frage ich mich, wie man mit einer Erklärung das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen kann, wenn diese Erklärung unter dem Prinzip der maximalen Geheimhaltung zustande gekommen ist. Da war ja niemand beteiligt außer den Staats- und Regierungschefs.

Jean-Claude Juncker: Nun, die Kommission war beteiligt, das Europäische Parlament, das die Bürger Europas vertritt, war beim Zustandekommen dieser ...

Thilo Kössler: ... das Parlament hat sich beklagt darüber, über diese Geheimhaltung.

Jean-Claude Juncker: Einige im Parlament haben sich darüber beklagt, weil sie als Person nicht ins Bundeskanzleramt bestellt wurden. Aber der Präsident des Europäischen Parlaments und die Fraktionsvorsitzenden dürfen ja zu Recht den Anspruch auf Reflektierung des gemeinsamen Ansinnens des Parlaments stellen dürfen. Es kam mir - wie auch anderen - darauf an, dass wir nicht im Vorfeld diese Berliner Erklärung zerreden. Und es ist ja auch eigentlich nicht Sache der Diplomaten und anderer Politiker der Luxusklasse, Formulierungen vorzulegen, die so sind, dass kein Mensch sie versteht. Ich bin sehr dafür und war sehr dafür und habe das auch sehr unterstützt, dass die Kanzlerin ihre persönliche Feder zückt und da in einer Sprache sich äußert in dieser Berliner Erklärung, die auch von den Menschen verstanden werden kann. Wir können ja nicht über "Gemeinschaftsmethode" reden, wir können nicht über den "Dritten Pfeiler" reden, wir können nicht über "Gemeinschaft in der Politik" reden, das versteht ja kein Mensch, was wir damit meinen. Wir wissen selbst manchmal nicht, was wir eigentlich sagen, wenn wir etwas sagen. Deshalb kam es mir sehr darauf an bei dieser Familienfeier, bei dieser Geburtstagsfeier, in einer Sprache zu reden und sich zu äußern, die auch von meinem Vater verstanden werden kann. Und deshalb, wenn man dies jetzt in übliche EU-konforme Konsultierungsbahnen eingewiesen hätte, dann hätten sich Heerscharen von Beamten, von gut- oder schlechtgelaunten Botschaftern über diesen Text hergemacht. Und das Ergebnis wäre, wie so oft, völlig unverständlich gewesen. Und deshalb war ich sehr dafür, weil die Kanzlerin jedem sehr gut zugehört hat, dass sie das macht, und wir machen das mit. Und das ist gut so.

Thilo Kössler: Trotzdem fehlt ein Wort, dass jedermann verstanden hätte - das V-Wort. Warum kommt die Verfassung nicht vor in dieser Erklärung? Das hätte, glaube ich, jeder erwartet.

Jean-Claude Juncker: Das hätte vielleicht jeder erwartet, aber dies hätte den Blick abgelenkt von dem bisher Erreichten und der notwendigen Zustimmung. Wenn wir über Europäische Verfassungsprozesse in dieser Erklärung, indem wir zukünftige Prozesse so benennen würden, geredet hätten, dann hätten wir uns, weil es unterschiedliche Auffassungen gibt, am Tage des 50. Jahrestages der Geburt wieder auseinander bewegt. Und es kommt mir und anderen sehr darauf an, dass wir jetzt einmal festhalten, was wir hingekriegt haben. Die Europäer wissen ja nicht mehr, auch die Staats- und Regierungschefs wissen es nicht mehr, was eigentlich aus Europa geworden wäre, wenn es diese Römischen Verträge nicht gegeben hätte. Wir wissen ja nicht mehr, was Hunger ist, wir wissen ja nicht mehr, was massivste Zerstörung ist, wir wissen ja nicht mehr, was das heißt, wenn ganze Volksvermögen brutalst zerstört werden. Wir können uns ja kaum noch vorstellen, wie das ist, wenn europäische Staaten, die jetzt in der Europäischen Union zusammengeschlossen sind, sich argwöhnisch beobachten mit den Instrumenten des Misstrauens und den verheerenden Folgen einer derartigen Handlungsweise. Ich finde schon, fünfzig Jahre nach Gründung der Europäischen Union, nachdem wir es geschafft haben, nach diesem ewigen Nachkriegssatz "Nie wieder Krieg", zum allerersten Mal in Europa ein politisches Programm unter Gestalt der Römischen Verträge entwickelt zu haben und es nicht nur bei dem Gebet und der Hoffnung von Millionen zu belassen, sondern operative instrumentale Politik herzuleiten aus der Erkenntnis, dass wir so in Europa nicht mehr weitermachen können, dass wir dies gebührend feiern. Wir können stolz sein auf dieses Europa, und ich hätte gerne, dass wir dies zum Ausdruck bringen. Dann haben wir Zukunftsaufgaben, über die streiten wir - das ist so in Familien.

Thilo Kössler: Lassen Sie uns in die Zukunft gucken, Herr Premierminister. Welche Chance geben Sie der Verfassung, wenn sie noch nicht mal in dieser gemeinsamen Erklärung auftaucht? Das V-Wort ...

Jean-Claude Juncker: ... sie soll nicht in dieser gemeinsamen Erklärung auftauchen, weil - wir besinnen uns dessen, was wir gemeinsam erreicht haben. Wir werden im Juni mit dem Verfassungsgebungsprozess beginnen.

Thilo Kössler: Aber wie geht es jetzt weiter? Ist es damit getan, die Verfassung nicht mehr "Verfassung" zu nennen, sie umzutaufen in einen "Grundlagenvertrag" oder in "Das große Werk, das wir gerne gehabt hätten und leider nicht durchsetzen konnten?"

Jean-Claude Juncker: Das wird nicht reichen, aber dies wird so sein müssen. Sehen Sie, ich habe zu denen gehört, auch wenn ich das nicht überall herumposaunt habe, die sehr dagegen waren, dass man diesen Europäischen Vertrag, der jetzt in Frankreich und in den Niederlanden gescheitert ist, "Verfassungsvertrag" nennt. Der Ausdruck "Verfassung" ist an und für sich die Widerspiegelung eines nationalen Konzeptes. Die Bundesrepublik hat eine Verfassung, die Länder der Bundesrepublik haben eine Verfassung, Luxemburg hat eine Verfassung. Wenn man sagt: Wir geben uns jetzt eine Europäische Verfassung an die Hand, nährt dies den Verdacht vieler, als ob sich die Europäische Union auf dem Wege der Verstaatlichung befände. Das möchten viele nicht, denn Nationen und Länder sind keine provisorischen Erfindungen der Geschichte, sie sind auf Dauer eingerichtet. Diese Vorstellung, wir könnten irgendwann so etwas wie die "Vereinigten Staaten von Europa" haben, ist überhaupt nicht eine Vorstellung, der ich anhänge. Ich möchte die "Vereinigten Staaten von Europa" nicht, ich möchte in diesem Europa Luxemburger bleiben und in Frieden und in stabilen Verhältnissen in tiefster Solidarität mit meinen deutschen, belgischen und französischen Nachbarn, vor allen mit den deutschen und französischen Nachbarn, die sich dauernd in kontinentalen Massenschlägereien verwickelt hatten, zusammenleben können und dürfen. Ich brauche nicht die Vereinigten Staaten von Europa. Und deshalb muss man diese Namensgebung ändern, denn sie ist irreführend. Und sie lässt eine Absicht vermuten, die es so nicht gibt, weil es sie nicht geben kann. Aber wir werden eine neue Verhandlungsrunde führen, von der ich mir wünschte, sie wäre kurz bemessen, wo wir uns auf die institutionelle Neuregelung, die es im Verfassungsvertrag gegeben hat, verständigen. Wie sieht die Kommission aus, Zahl der Kommissare, wie wird im Rat und im Parlament abgestimmt, wie kommen Entscheidungen zustande? Wir werden in irgendeiner Form diesen Europäischen Grundrechtekatalog beibehalten müssen, auf den wir uns verständigt haben, weil - wir erklären der ganzen Welt, wie der Rest der Welt organisiert werden muss, und wir wären jetzt plötzlich imstande, die Regeln, die wir aufgeschrieben haben und mit denen jeder einverstanden war und die das Zusammenleben der Menschen im Lande und das Miteinander der Nationen in Europa regeln sollen, zu vergessen? Nein.

Thilo Kössler: Also der Grundrechtekatalog soll drin bleiben. Der umstrittene Teil 3 mit diesen ganzen Einzelregelungen, die so viele Missverständnisse geschaffen haben und für so viel Unmut gesorgt haben in Frankreich und den Niederlanden, dieser Teil 3 soll weg? Kann man den einfach streichen?

Jean-Claude Juncker: Also, es gibt zwischen dem Erklärungskatalaog für das französische Nein und für das niederländische Nein nur eine kleinstmögliche Schnittmenge. Die Niederländer haben aus völlig anderen Gründen nein gesagt als die Franzosen. Und es ist einfacher, nein zu sagen als kompromissbereit ja.

Thilo Kössler: Muss sie schlanker werden, die Verfassung?

Jean-Claude Juncker: Die Verfassung muss schlanker werden in ihrem dritten Teil. Dort wird man einiges absprengen müssen, was missverständlich ist, vor allem die Neufassung bestehender europäischer Politik, die bis dahin niemanden wirklich gestört hatte. Aber es gibt Substanzfortschritte im dritten Teil der Verfassung, eine neue Rechtsgrundlage für gemeinsame Energiepolitik. Jeder schreit nach gemeinsamer Energiepolitik, weil es ja lächerlich ist, dass 27 Delegationen nach Moskau reisen, um Herrn Putin die Welt im Energiebereich zu erklären. Aber wenn wir mit einer Stimme auftreten, wird auch Herr Putin zuhören müssen. Wir brauchen neue Rechtsgrundlagen, was gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik anbelangt, Mehrheitsentscheidungen, Mitspracherecht des Parlamentes, Kontrolle des europäischen Gerichtshofes. Ein neuer Vertrag wird diese Elemente beinhalten müssen, weil wir sonst keine Zustimmung mehr finden in den Ländern, die zugestimmt haben, vor allem nicht in den Ländern, die per Referendum wie Luxemburg ebenfalls zugestimmt haben.

Thilo Kössler: Was passiert mit diesem neuen Vertrag? Muss der noch mal ratifiziert werden, soll es dann ein gemeinsames europäisches Referendum an einem Tag geben, um dieses Mal die Bürger mehr zu beteiligen und nationale Aspekte heraus zu halten?

Jean-Claude Juncker: Wir haben hier in Luxemburg ein Referendum gemacht, das erste Referendum seit 1937. Und wir haben das Referendum unter schwierigsten Bedingungen Wochen nach dem französischen und dem niederländischen Nein auch mit einer doch zufriedenstellend breiten Mehrheit gewonnen. Diese Idee, dass man an einem Tag überall in Europa ein Referendum macht, halte ich für ein Spektakel. Was passiert dann, wenn jemand nein sagt? Es muss ja trotzdem jedes Volk getrennt von allen anderen ja sagen, so dass ich diesen Hokuspokus eigentlich nicht bereit bin mitzumachen.

Thilo Kössler: Aber der Ruf der Bürger wird immer lauter, beteiligt zu werden.

Jean-Claude Juncker: Der Luxemburger Bürger hat auch gerufen und er wurde gehört, weil er "Ja" gesagt hat. Und ich lasse das, was die Luxemburger positiv zum Ausdruck gebracht haben, nicht wegwischen dadurch, dass andere mit jahrelanger Verspätung auf die eigentlichen Erfordernisse der Demokratie jetzt plötzlich genau so reagieren würden wie wir. Wir haben abgestimmt, wir haben ja gesagt, und wir akzeptieren nicht, dass Substanzteile des Vertrages, dem wir per Volksbefragung jetzt zugestimmt haben, wegen minimaler Anpassung an flüchtigen Zeitgeist aus diesem Vertragswerk herausgebrochen wird.

Thilo Kössler: Das heißt, die anderen, die noch nicht unterzeichnet haben, die müssen in die Pflicht genommen werden. Sehen Sie da Bewegung?

Jean-Claude Juncker: Ich finde das ja einigermaßen verdrießlich, dass einige überhaupt nicht zur Abstimmung schreiten und den Ratifizierungsprozess nicht weiter tragen. Was ist das denn für eine Art und Weise, dass 27 Staats- und Regierungschefs unterschreiben, zwei sagen Nein, andere sagen Ja, darunter Spanien und Luxemburg per Referendum, und die anderen lehnen sich vornehm zurück und schauen denen zu, die Nein gesagt haben und denen, die Ja gesagt haben. Ich wüsste gerne, was die anderen sagen. Ich finde, dass dies quasi ein Vertrauensbruch ist, dass man ein gemeinsam verabschiedetes, unterzeichnetes Vertragswerk nicht zur Abstimmung bringt.

Thilo Kössler: Sehen Sie da Bewegung mittlerweile? In Polen hat Angela Merkel immerhin erreicht, dass die Gebrüder Kaczynski gesagt haben: Okay, das, was jetzt als Vertrag da steht, das ist zumindest mal eine Verhandlungsgrundlage. Merken Sie, dass die, die bisher nicht unterzeichnet haben, Dänemark, Irland, Großbritannien, dass hier eine Bewegung stattfindet?

Jean-Claude Juncker: Das ist sehr unterschiedlich, aber weil diese Staaten, die Sie nennen, uns mitgeteilt haben, sie würden erst endgültig reagieren, wenn im Juni der Fahrplan klar wäre, ist es müßig, darüber zu spekulieren, ob es von jetzt bis Juni da Fortschritte geben wird. Die wird es nicht geben. Die Bundeskanzlerin bemüht sich ja höchst verdienstvoll und höchst eifrig, fast selbstverleugnend um ein gutes Verhältnis zu Polen. Und ich wünschte mir sehr, dass in Polen sehr sorgsam überlegt wird, wie man mit Deutschland umgeht und wie man Deutschland in der polnischen Öffentlichkeit beschreibt. Viele in Polen haben einen völlig verquerten Blick auf Deutschland, ein völlig verzerrtes Deutschlandbild. Deutschland hat diese despektierliche Form des Umganges durch einige Polen wirklich aufgrund der seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge erzielten europäischen Erfolgsleistungen nicht verdient. Es kommt dem deutsch-polnischen Verhältnis in den nächsten 20 Jahren eine ähnliche Bedeutung zu wie dem deutsch-französischen Verhältnis in den letzten 30 Jahren. Das müssen die Polen wissen.

Thilo Kössler: Sehen Sie in der Frage der Raketentechnologie, die die Amerikaner in Polen und in Tschechien aufstellen wollen, einen möglichen neuen Spaltpilz, wie wir das im Irak erlebt haben?

Jean-Claude Juncker: Ach, ich wünschte mir nicht, dass dies ähnliche Spaltkonsequenzen hätte, wie dies in der Causa Irak der Fall war. Ich bin der Meinung, dass wir unter Alliierten und Verbündeten im Rahmen der NATO über diese Pläne reden müssen. Dies ist zwar auch eine bilaterale Frage zwischen Amerikanern, Polen und Tschechen, die sich aber auch an das Gesamtbündnis in die überlegende Pflicht nehmen und planen. Und darüber muss geredet werden.

Thilo Kössler: Aber Europa ist doch völlig außen vor in dieser Frage. Die Kanzlerin hat probiert, die NATO wieder mit ins Boot zu holen. Warum steht Europa da so abseits, wo es doch immer wieder heißt, wir brauchen eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik?

Jean-Claude Juncker: Ich sage ja nicht, dass wir in der Europäischen Union nicht darüber reden. Wir werden bei Gelegenheit, aber weil die Amerikaner mit an Bord dieser Entscheidung sind, ist die Diskussionsstruktur, die sich anbietet, halt das Atlantische Bündnis. Dort sind ja 18 der 27 Mitglieder der Europäischen Union vertreten. Dort wird dann auch die europäische Stimme hörbar gemacht werden.

Thilo Kössler: Herr Premierminister, bevor wir uns der Frage widmen, wie kann Europa bei den Bürgern wieder mehr Vertrauen zurückgewinnen, vielleicht noch mal die Frage, warum hat Europa so viel Vertrauen verloren? Es heißt, die Erweiterung hat einfach Sympathien gekostet, hat den inneren Zusammenhalt zusammenschnurren lassen, das Wir-Gefühl dezimiert. Und es gibt ein ganz großes Misstrauen gegenüber einem vermeintlichen Superstaat, der da entsteht, gegenüber einer Brüsseler Institution, die sich immer mehr Macht und Kompetenzen aneignet und den eigenen Einfluss beschneidet. Haben Sie dafür Verständnis und haben Sie einen Vorschlag, wie dem gegengesteuert werden könnte?

Jean-Claude Juncker: Ich habe dafür einiges Verständnis, weil die europäischen Staatenlenker, um es mal kategoriell neutral zu formulieren, sehr oft den Eindruck gegeben haben in den letzten Jahren, als ob es in Brüssel darum ginge, die nationale Sicht der Dinge den anderen aufzuzwingen, anstatt dass wir den Eindruck zu vermitteln versucht haben, was ja auch Wirklichkeit ist, dass wir gemeinsam am großen Werk arbeiten und dass jeder ein Stück zurückstecken muss, damit alle sich auf der Straße in die Zukunft einreihen können. Europa ist kein Superstaat, dann sollten Politiker auch nicht so über Europa reden, als ob es einer wäre. Die Europäische Union hat weniger Beamte und Bedienstete als die Stadt Köln oder die Stadt Lyon und ist weit davon entfernt, es mit einem Tausendfüßler zu tun zu haben. Da sind wir uns einig. Dabei gebe ich zu, dass die Europäische Union sich in viel zu viele Dinge einmischt. Und in dem Verfassungsvertrag haben wir auch die Kompetenzordnung neu festgelegt, was macht die Europäische Union und was machen die Nationalstaaten? Zum allerersten Mal in der europäischen Integrationsgeschichte haben wir einen feinfühligen Trennungsstrich gezogen zwischen dem, was Sache der Europäischen Union ist und was Sache der Mitgliedsstaaten bleiben kann. Ich glaube, das eigentliche Problem in Europa ist ein einfaches und deshalb sehr kompliziertes. 50 Prozent der Menschen sind der Meinung, dass wir mehr Europa brauchen, und 50 Prozent der Menschen in Europa sind der Meinung, dass wir schon Europa zu viel haben.

Thilo Kössler: Für viele Menschen kommt Europa in der Sozialpolitik viel zu kurz.

Jean-Claude Juncker: Ja, ich bin sehr der Auffassung, dass es in der logischen Verlängerung des Binnenmarktes und der Währungsunion so sein muss, dass wir auch einen Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten haben, der in keinem Mitgliedsstaat nach unten durchbohrt werden kann, damit wir hier so etwas wie soziale Wettbewerbsgleichheit haben, was ja nicht hieße, dass Slowaken und Ungarn jetzt die selben sozialen Niveaus wie Deutschland oder Luxemburg sich zu eigen machen müssen. Aber dass es einen Sockel gibt, den man respektieren muss oder den man innerhalb einer bestimmten Zeitfrist erreichen muss, das halte ich für unabdingbar.

Thilo Kössler: Aber Sozialpolitik ist gar nicht Sache der EU, sondern doch eigentlich Ländersache?

Jean-Claude Juncker: Ja, eben. Das ist Ländersache. Aber es gibt diesen nachvollziehbaren Wunsch vieler Europäer, dass über Sozialpolitik auch in Europa geredet werden muss. Das ist nicht so, und das wird auch nicht so sein, dass man die Europäische Union gegen das Lebensgefühl der arbeitenden Menschen wird weiterentwickeln können. Arbeitnehmer haben sehr oft das Gefühl, als ob diese gesamte Veranstaltung sie überhaupt nichts angeht, als ob sie nur unter den Negativauswüchsen dieser europäischen Einigung zu leiden hätten. Das nimmt man ernst, und dann muss man etwas tun in Sachen Ausbildung der sozialen Dimension der Europäischen Union, oder man lässt das sein. Und dann wird das Gesamtkonstrukt endgültig scheitern, denn die Europäische Union wird ohne die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung sich nicht weiter entwickeln können.

Thilo Kössler: Viele sagen, an dieser Verfassung macht sich der grundsätzliche Konflikt fest. Jetzt muss entschieden werden, in welche Richtung Europa gehen möchte, in die Richtung einer Freihandelszone - belassen wir es bei einem großen Wirtschaftsraum - oder geht es in Richtung einer politischen Union. Was ist Ihre Prognose, wohin fährt der Zug?

Jean-Claude Juncker: Ich habe keine Prognose. Doch, ich habe eine Prognose, die sich auf meine Grundüberzeugung stützt, dass das Konzept der goldenen Freihandelszone ein zu simples Konzept für einen absolut kompliziert gebliebenen europäischen Kontinent sein wird. Und alles muss unternommen werden, damit aus dieser Europäischen Union eine wirkliche politische Union wird, die sich aber zu größter Distanz zu dem Konzept des Nationalstaates bewegt. Ich sage noch einmal, die Europäische Union wird sich nie zu den Vereinigten Staaten von Europa weiterentwickeln, weil die Menschen das nicht wollen und weil dies auch nicht notwendig wird. Und es wird darum gehen, die richtige Schnittmenge zu finden von Politik, Substanz, Elementen, die in Richtung Europäische Union tendieren und die die Gefahr ausschließen, dass wir nolens volens zu einer europäischen Freihandelszone werden. Das reicht nicht. Das reicht als kontinentales Ferment nicht aus, das können andere auch. Wir können mehr, und wir müssen auch mehr wollen.

Thilo Kössler: Und wenn ein gewisser Teil nicht mehr Europa will, und ein anderer Teil will zu einer politischen Union verschmelzen, wird es dann unausweichlich zu einem Kerneuropa kommen, zu einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten?

Jean-Claude Juncker: Ich mag den Ausdruck Kerneuropa nicht, auch nicht den des Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten, weil ich gerne hätte, dass sich alle gemeinsam zusammen in die selbe Richtung auf den Weg machen. Stellt sich aber heraus, dass einige das nicht können oder nicht wollen, dann müssen die, deren Schnittmenge im Bereich weiterführender Integrationsfortschritte und vertiefter Ambitionen besonders groß ist, dies alleine machen ohne die anderen. Und dies wird auch im Zusammenhang zukünftiger Erweiterungen so gesehen werden müssen. Es muss so sein, dass, wenn diejenigen, die beitreten, nicht alle Politiken voll inhaltlich mit tragen können oder wollen, dass die eine andere Form der Mitgliedschaft, eine differenziertere Form der Mitgliedschaft akzeptieren werden müssen. Wir können nicht mit 31 oder 39 Mitgliedern auf niedrigem Ambitionslevel kontinentale Zukunftspolitik gestalten. Wenn diejenigen, die die Kraft dazu nicht in sich spüren oder die den Mut dazu nicht haben, dann müssen andere vormarschieren - und die Nachzügler können aufschließen an dem Tag, an dem sie vor Kraft strotzen.

Thilo Kössler: Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel es nicht schafft, den Verfassungsdisput neu anzuschieben und neue Wege aufzuzeigen, wie man aus dieser Krise kommt, ist dann die deutsche Ratspräsidentschaft zu einem Misserfolg geworden?

Jean-Claude Juncker: Die Bundeskanzlerin ist ja nicht allein zuständig für das, was im Europäischen Rat von den Staats- und Regierungschefs entschieden wird. Wenn einige partout nicht wollen, wenn einigen der Mut zur Einsicht fehlt, weil sie lieber in den stillen Wassern des Zeitgeistes segeln als sich in die sich etwas stürmerischer gestaltenden Fluten der Zukunft zu wagen, dann wird die Bundeskanzlerin dies nicht verhindern können. Es wird jedenfalls so sein, dass es nicht an der deutschen Präsidentschaft und ihrer Verantwortung festgemacht werden kann, wenn es in der Frage des Verfassungsgebungsprozesses keinen Fortschritt gibt. Die Bundeskanzlerin hat alles gemacht und ist dabei, alles zu tun, um hier Konsenselemente in genügend großer Zahl zusammenzutragen, damit die deutsche Präsidentschaft diesbezüglich ein Erfolg wird. Der Klimaschutzgipfel, den wir hatten, war ja schon ein Erfolg.

Thilo Kössler: Sind Sie in der Verfassungsfrage eher optimistisch oder eher pessimistisch?

Jean-Claude Juncker: Ich mache mir über Europa nie Illusionen, damit ich keine verliere.

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