"Juncker in Sorge um das Klima in der Europäischen Union." Jean-Claude Juncker au sujet de la situation actuelle dans l'Union européenne

Westfalenpost: Herr Juncker, auf dem turbulenten Verfassungsgipfel im Juni schrammte die EU knapp an einer Katastrophe vorbei. Drohen bei der zurzeit tagenden Regierungskonferenz, die dem Reformvertrag nur noch den Feinschliff verpassen soll, neue Gefahren?

Jean-Claude Juncker: Nachbesserungswünsche sind nicht auszuschließen, aber eine Umdeutung des Brüsseler Verhandlungsergebnisses vom Juni darf es nicht geben. Ich beobachte allerdings mit großer Sorge, dass sich das Ambiente in der Europäischen Union - insbesondere was Polen anbelangt - seit dem Brüsseler Kompromiss vom Juni nicht verbessert hat.

Westfalenpost: Was stört Sie denn an der polnischen Regierung?

Jean-Claude Juncker: Wenn ich den Zungenschlag des polnischen Premierministers im aufziehenden Wahlkampf höre, dann bin ich sehr besorgt. Vor wenigen Tagen hat er Deutschland beschuldigt, eine dominante Rolle in der EU anstreben zu wollen. Es kann nicht sein, dass - um es salopp auszudrücken - die europäische Club-Atmosphäre dadurch gestört wird, dass einige Mitglieder anderen unlautere Absichten unterstellen. Ich finde das besonders schlimm, zumal sich Deutschland seit den fünfziger Jahren sehr um die europäische Einigung bemüht und verdient gemacht hat. Die Deutschen sind die besten deutschen Nachbarn, die wir je hatten. Ich wäre sehr dankbar, wenn man das in Polen zur Kenntnis nehmen würde.

Westfalenpost: Stattdessen überwiegt in Warschau eine geradezu feindselige Haltung...

Jean-Claude Juncker: ... aber Feindseligkeit ist ein Gefühl, das man in Europa nicht haben darf. Historischer Revanchismus ist gefährlich. Wenn er sich austobt, laufen wir Gefahr, dass das wieder auseinander bricht, was wir in sechzig Jahren mühseligster Kleinarbeit in Europa zusammengefügt haben. Man sollte Europapolitik nicht im Rückspiegel machen.

Westfalenpost: Dabei könnte die positive Luxemburger Erfahrung den Polen durchaus Mut machen.

Jean-Claude Juncker: Ja sicher. Luxemburg war so lange ein unglückliches Land, wie Deutschland und Frankreich in stetiger Fehde miteinander standen. Längst haben sich Deutschland und Frankreich versöhnt, und das kleine Land Luxemburg kann sich jetzt in der EU normal und unbedrängt entwickeln. Die deutsch-französische Freundschaft erklärt ja viele Erfolge, die die Europäische Union hat einfahren können. Ohne den deutschfranzösischen Motor wäre vieles nicht möglich gewesen. Der deutschpolnischen Freundschaft kommt in den nächsten dreißig Jahren eine identisch hoch anzusiedelnde Wichtigkeit zu wie der deutschfranzösischen in den vergangenen dreißig Jahren. Das habe ich auch in wiederholten Gesprächen dem polnischen Premierminister klar zu machen versucht.

Westfalenpost: Und wie hat Jaroslaw Kaczynski darauf reagiert?

Jean-Claude Juncker: Er war ein bisschen erstaunt darüber, dass ein Land wie Luxemburg, das sehr unter der deutschen Besatzung und unter den Nazis gelitten hat, sich so freundlich über Deutschland äußern kann. Das Drama der Geschichte bleibt, dass Polen von dem europäischen Einigungswerk fünfzig Jahre lang ausgeschlossen war. Es fehlt die Erfahrung des Sich-immer-wieder-Zusammenraufens und des Sich-Verständigens. In dem Maße, wie wir in Westeuropa Souveränitätstransfers in Richtung Europäische Union vorgenommen haben, haben wir dem übereifrigen Nationalstaat die Spitze gegen die Nachbarn genommen. Polen aber hat seine volle Souveränität erst 1989/90 wieder gefunden. Deshalb habe ich ein begrenztes Verständnis dafür, dass sich Polen erkennbar schwer damit tut, jetzt den Souveränitätsverzicht zu akzeptieren. Wenn wir in Europa allerdings in alte Zustände zurückfallen, wird der europäische Weg immer unbegehbarer.

Westfalenpost: Der EU-Reformvertrag ist ein mit Fußnoten gespickter Juristen-Text und praktisch nicht leserlich. Muss das sein?

Jean-Claude Juncker: Ich war für den ursprünglichen Verfassungsvertrag, dessen Text sehr verständlich war. Ich bedauere sehr, dass der neue Reformvertrag total unlesbar ist. Aber dafür lasse ich mich nicht in Haft nehmen.

Westfalenpost: Aber wie will die EU die Herzen der Europäer gewinnen?

Jean-Claude Juncker: Jedenfalls nicht, indem man die europäische Hymne und die Fahne aus dem Reformvertrag streicht. Ich halte das für ein Gefühlsdebakel. Hymne und Flagge sind längst bei den Menschen angekommen. Ich sehe die europäische Fahne überall, und wenn die Hymne gespielt wird, erheben sich die Menschen vom Stuhl. Ansonsten muss man den Reformvertrag sachlich erklären. Er wird die Entscheidungsfindung in der EU ölen, beschleunigen und demokratischer machen. Das Europäische Parlament erhält noch mehr Rechte und zum ersten Mal wird es europäische Bürgerbegehren geben.

Westfalenpost: Fast immer wenn in Brüssel Top-Positionen neu zu besetzen sind, ist Ihr Name im Spiel. Sie sind Wunschkandidat für das neue Amt des EU-Präsidenten ab 2009. Werden Sie langsam nervös?

Jean-Claude Juncker: Nein. Und ich finde es überhaupt nicht ehrenrührig, dass ich mit europäischen Spitzenämtern in Verbindung gebracht werde. Aber diese Ämter werden erst 2009 neu bestellt. Erst dann muss man sich das gesamte Tableau anschauen - auch von der politischen Blutgruppenbildung her.

Westfalenpost: Der neue französische Präsident Nicolas Sarkozy hat sich offenbar schon auf den britischen Ex-Premier Tony Blair als EU-Präsidenten festgelegt.

Jean-Claude Juncker: Ich halte es für einen Fehler, jetzt schon Namen auf den Markt zu werfen.

Westfalenpost: Je dominanter die Persönlichkeiten in der künftigen EU-Spitze, desto größer die Gefahr gegenseitiger Blockaden und Rivalitäten?

Jean-Claude Juncker: Ich habe diese Gefahr relativ früh thematisiert. Der EU-Präsident darf auf keinen Fall den Kommissionspräsidenten in den Schatten stellen. Ich lege großen Wert darauf, dass der Kommissionspräsident die europäische Institution bleibt, die über das Initiativmonopol verfügt. Er muss der Impulsgeber der Union bleiben. Egal, wer EU-Präsident wird: Er muss wissen, dass die Europäische Union nur funktioniert, wenn die Macht geteilt wird. Es darf nicht zu einem Schönheitswettbewerb mit dem Kommissionspräsidenten und EU-Außenminister kommen.

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