Juncker und die Macht: vom Flirt zur Langzeitbeziehung

Tageblatt: 25 Jahre Regierung - das ist wie silberne Hochzeit mit der Macht. Ist die Liebe noch immer so stark wie am ersten Tag?

Jean-Claude Juncker: Eigentlich war die Liebe am ersten Tag nicht besonders groß. Ich bin vor 25 Jahren in die Regierung gekommen mit der zum damaligen Zeitpunkt realistisch erscheinenden Erwartung, dass ich 18 Monate in der Regierung verbleiben und dann etwas anderes tun würde. Denn die Regierung Werner-Flesch hatte mit außergewöhnlich großen Problemen zu tun. Unter anderem, wenn nicht gar exklusiv, mit der Restrukturierung der Stahlindustrie. Sie musste Indexmodulationen vornehmen, Steuern anheben, auch die Solidaritätssteuer, um die Folgen der Stahlindustrierestrukturierung zu begleiten. Es war eine Regierung, die extrem unpopulär war. Hätte es damals Meinungsumfragen gegeben, hätte sie in der öffentlichen Meinung kaum Unterstützung bekommen.

Ich dachte damals, es wäre nach anderthalb Jahren vorbei. Es war also eher ein Flirten mit dem Regierungsamt als eine definitive Vorstellung, das könnte ein längere Zeit dauern. Mit diesem Gefühl von Provisorium lebe ich heute noch. Als ich in die Regierung kam, sagte mir Pierre Werner, wenn man Minister sei, müsse man morgens beim Rasieren daran denken, dass man das am nächsten Morgen schon nicht mehr sein könnte. Man muss sich stets eine intellektuelle und mentale Freiheit erhalten, um zu jedem Moment aufhören zu können. Man darf nicht zum Gefangenen dieses Amtes werden.

Tageblatt: Auch nach 25 Jahren Regierungstätigkeit keine Routine?

Jean-Claude Juncker: Ich mag das Wort Routine nicht. Das klingt nach Desinteresse an der Sache. Aber die langjährigen Erfahrungen sind außerordentlich wertvoll. Sie sind arbeitserleichternd. Erfahrung erspart einem viel Aufgeregtheit. Sie erspart die Nervosität, die manchmal das politische Leben durchquert. Man ist ruhiger, gefasster.

Tageblatt: Wo sammelt ein luxemburgischer Politiker die meiste und die wertvollste Erfahrung?

Jean-Claude Juncker: Es gibt für mich zwei Orte. Die wertvollsten Erfahrungen und Check-Übungen sind die Gespräche mit den Menschen auf der Straße. Wir leben in einem System enormer direkter sozialer Kontrolle, weil die Luxemburger ihren Premier auf der Straße anhalten und ihm sagen können, was geht und was nicht geht. Dieser direkte, unverfälschte Kontakt ist für mich sehr wertvoll. Es gibt wenige Regierungschefs, die dieses direkte Bürgergespräch noch haben.

Zweitens, die Erfahrungen, die man bei europäischen Verhandlungen gewinnt, schärfen den Sinn für Lösungswege auf eine unwahrscheinliche Art und Weise. Das kann zu Hause zur Lösung der Konflikte helfen.

Tageblatt: Der Vorwurf, Sie hätten keinen Kontakt zur Luxemburger Realität, weil Sie sich zu oft im Ausland aufhalten und nur unter Ihresgleichen verkehren, ist haltlos?

Jean-Claude Juncker: Meine Kontakte im Ausland sind nicht nur politischer Natur. Ich habe mir ein breiteres Meinungsspektrum als Netzwerk in Europa zugelegt. Ich bin im Schnitt ein Tag pro Woche im Ausland. Es gibt Minister, die öfters im Ausland sind.

Ich führe viele Gespräche hier zu Hause. Mein Telefon erlaubt mir, Entscheidungsträger und andere Leute regelmäßig zu hören und mit ihnen zu reden. Ich habe einen Freundeskreis, der mich über das informiert, was die unmittelbare Aktualität und die Sorgen der Leute betrifft.

Tageblatt: Noch mal zurück zu den 25 Jahren Regierungstätigkeit. Was hat sich in dieser Zeit im politischen Geschäft geändert?

Jean-Claude Juncker: In den ersten Jahren in der Regierung war die Politik dramatischer. In dem Sinne, dass wir es mit einer sektoriellen Krise, die der Stahlindustrie, zu tun hatten, die eigentlich die Überlebensfrage für eine ganze Region und streckenweise für das ganze Land stellte. Als ich 1982 Staatssekretär wurde, machte die Industrie noch rund 30 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus. Heute sind es rund neun Prozent. Der Finanzsektor stellte damals neun Prozent des BIP dar, heute sind es 30 Prozent. Das ist ein gewaltiger Wandel. Die Fragestellung war damals dramatisch, weil man nicht wusste, welches Feuer man zuerst löschen sollte. Brandherde, die durch den dramatischen Rückgang in der Stahlindustrie entstanden.

Heute ist die Politik nicht leichter, weil man eigentlich vielfältigere Phänomene pausenlos und parallel in der Zeit erklären muss. Vor 25 Jahren gab es nur eine Rede: die über die Notwendigkeit der Restrukturierung der Stahlindustrie. Das hat alles aufgefressen, was es an politischer Rhetorik gab. Heute muss man über 100 Sachen reden. Und eigentlich müsste man, um ein Phänomen zu erklären, die anderen 99 mit erklären, damit das eine voll erklärbar wird.

Ich nehme als Beispiel Europa. Man müsste täglich erklären, dass nach dem Fall der Berliner Mauer in Europa und an ihrer Peripherie 23 neue Staaten entstanden sind, die man in eine kontinentale Logik einbauen musste. Woraus sich ein totaler Paradigmenwechsel der Politik ergeben hat. Wir, die in einem Europa der sechs aufwuchsen, finden uns in einem Europa der 27 wieder.

Das alles immer wieder zu erklären, die Vielschichtigkeit der Probleme aufblitzen zu lassen, sprengt die Grenzen der politischen Pädagogik.

Tageblatt: Nicht der einzelne Politiker, sondern die Komplexität der Politik sind an der Politikverdrossenheit schuld?

Jean-Claude Juncker: Die Politikverdrossenheit speist sich aus zwei Quellen. Ein nicht immer richtiges Verhalten der Politiker, wobei ich es nicht für ein falsches Verhalten der Politiker halte, wenn sie nicht das sagen, was die Leute gerne hören. Man muss zuhören, was gesagt wird, aber man muss nicht nachplappern, was gesagt wird. Ich bin nicht der Papagei auf der Schulter des Großherzogs. Ich bin dazu da, um das zu sagen, was ich denke. Ein falsches Verhalten ist es, wenn man überhaupt nicht zuhört; ein falsches Verhalten ist, wenn man systematisch das Gegenteil sagt von dem, was man hört; falsches Verhalten ist, wenn man sich neben den Prioritäten der Leute bewegt. Das kann zu Politikverdrossenheit führen. Wobei nicht alle Fragen, die die Menschen für wichtig halten, auch wichtig sind. Und dann muss man den Menschen das sagen.

Mit Politikverdrossenheit hat auch zu tun, dass viele Menschen ihren Rückzug ins Privatleben so organisiert haben, dass sie keinen Blick mehr für die Sorgen der anderen haben. Wenn die Politik dann von den Sorgen der anderen spricht, führt das in den Augen derer, die diese Probleme nicht haben, zu Politikverdrossenheit, weil sie der Ansicht sind, die Politik würde sich nicht mit ihren Problemen beschäftigen. Besteht politische Intelligenz etwa darin, klug zu formulieren, was die Leute denken? Oder besteht politische Weisheit nicht darin, im Wissen dessen, was die Leute gerne hören möchten, politische Reden so zu halten, dass man sie in eine andere, weil richtigere Richtung mitnehmen kann? Ich weiß genau, was man sagen muss, um größere Mehrheiten zu bekommen. Aber meist sind diese Sachen falsch.

Tageblatt: Angesichts Ihrer guten Umfrageergebnisse dürfte es Ihnen schwerfallen, noch besser zu den Menschen zu sprechen ...

Jean-Claude Juncker: Es ist ja bekannt, dass ich über Meinungsumfragen keine besonders gute Meinung habe. Weil sie die Wahl der Politiker fehlleiten. Man darf Politik nicht mit Blick auf Meinungsumfragen machen. Demokratie ist nicht Demoskopie.

Tageblatt: Sie werden öfters hart kritisiert. Hat man nach 25 Jahren ein dickeres Fell?

Jean-Claude Juncker: Ich habe ein dickes Fell. Und zweitens mache ich immer wieder den Fehler, denen die mich kritisieren, zu Recht oder zu Unrecht, zu zeigen, dass ich mich mit ihrer Kritik beschäftige. Obwohl ich als arrogant gelte, habe ich keinen arroganten Umgang mit der Meinung der anderen.

Ich bin bekanntlich ein intensiver Zeitungsleser. Was geschrieben wird, beschäftigt mich. Deshalb gibt es welche, besonders in Ihrer Zeitung, die wissen, dass sie mich echt nervös machen können, wenn pausenlos Sachen geschrieben werden, die nicht stimmen. Die sie aber für richtig halten.

Ich vertrage einen Vorwurf nicht, nämlich den, dass man den Leuten bewusst die Wahrheit nicht sagen würde. Dieser Vorwurf schleicht sich durch die Leitartikel des Tageblatt mit einer impertinenten Permanenz, die mir auf den Wecker geht.

Tageblatt: In wenigen Tagen wird das Gesetz über die Tripartite 30 Jahre alt. Sie hatten quasi von Anfang an mit dieser Dreierkonferenz zu tun. Welche Zukunft soll die Tripartite haben?

Jean-Claude Juncker: Ich möchte, dass man in der Tripartite das sieht, was sie von Anfang an sein sollte: eine nationale Konsensfabrik im vorparlamentarischen Kampf. In diesem Sinne ist sie auch keine Konkurrenzveranstaltung zum Parlament. Seitdem ich Regierungschef bin, wurden fast alle Tripartite-Vereinbarungen vom Parlament abgeändert. Ich habe Politik nie begriffen als ein Machtwechselspiel zwischen politischen Kräften im Parlament. Politik ist ein viel komplizierteres Produkt. Es bedarf eines Vorlaufes in Gesprächen mit den Sozialpartnern und anderen relevanten Gruppen in der Gesellschaft und es bedarf dann eines parlamentarischen Beschlusses aufgrund einer Regierungsvorlage.

Es wäre einfacher, ohne Tripartite zu regieren, in dem Sinn, dass mit einer Mehrheit im Parlament der Gesetzesentwurf schneller ins Gesetzesblatt käme. Wenn man Gespräche mit Sozialpartnern vorschaltet, dauert das etwas länger. Aber das ist moderne Demokratie. Demokratie wird nicht nur von denen gestaltet, die ein Direktmandat vom Volk haben, sondern auch von denen, die Interessen in der Gesellschaft formulieren, weil sie die Interessen derer, die sie vertreten, quasi als ein imperatives Mandat verstehen.

Der Konsenszwang hat Luxemburg sehr gut getan, weil wir oft handeln konnten, indem wir uns auf ein breites Konsens in der Gesellschaft stützen konnten.

Tageblatt: Was werden Sie 2009 tun?

Jean-Claude Juncker: Ich habe mir zur Gewohnheit gemacht, Fragen zu beantworten, wenn sie sich stellen. Ich bin überrascht darüber, immer das Gefühl vermittelt zu bekommen, einen hohen Prozentsatz an Zustimmung zu haben. Ich glaube, es geht dabei eher um Vertrauen als um Zustimmung. Dass man das nach 25 Jahren noch hat, überrascht mich. Ich bin darauf ein bisschen stolz. Und es überrascht mich auch, dass die Leute auch nach 25 Jahren meiner noch nicht müde sind.

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