"Wir haben die Folterwerkzeuge im Keller". Le Premier ministre, président de l'Eurogroupe, au sujet de la situation financière et budgétaire de la Grèce

Handelsblatt: Herr Ministerpräsident, Griechenland steht kurz vor der Pleite. Wenn das Land sein striktes Sparprogramm nicht durchsetzt, kommt es zum Staatsbankrott. Haben Sie als Vorsitzender der Eurogruppe zu lange tatenlos zugeschaut?

Jean-Claude Juncker: Ich möchte Ihrer Frage die Dramatik nehmen. Wir beschäftigen uns seit Jahren mit Griechenland, weil das Land sichtbar und scheinbar unaufhaltbar seine Wettbewerbsfähigkeit verliert.

Handelsblatt: Die Beschäftigung war aber folgenlos ...

Jean-Claude Juncker: Wir hatten lange die Vermutung, dass die Zahlen, aufgrund deren Griechenland sein Defizit berechnet hat, zu optimistisch waren. Als sich herausstellte, dass die Zahlen tatsächlich fehlerhaft waren, haben wir sofort gehandelt.

Handelsblatt: Reichlich spät ...

Jean-Claude Juncker: Was hätten Sie mir gesagt, wenn ich vor zwei Jahren behauptet hätte, Griechenland hätte ein massives Korruptionsproblem, wie es ja mittlerweile auch der griechische Premierminister bestätigt hat? Es hätte einen Aufschrei gegeben, dass man so unter Mitgliedstaaten der Euro-Zone nicht miteinander umgehen dürfe.

Handelsblatt: Aber Sie selbst haben im Jahr 2004 noch eine Verschärfung der Regeln abgelehnt, nach denen die europäische Statistikbehörde Eurostat die Daten der Länder überprüft.

Jean-Claude Juncker: Ja, und ich bin ja auch zur Selbstkritik fähig. Ich rede dann nur etwas leiser. Wir haben unrecht gehabt, als wir das Ansinnen von Eurostat nach mehr Kompetenzen abgelehnt haben. Ich werde die europäische Kommission auf jeden Fall unterstützen, einen neuen Anlauf in diese Richtung zu unternehmen.

Handelsblatt: Griechenland und die Folgen schwächen den Euro. Viele Ökonomen prognostizieren einen Zerfall der Währungsunion. Ein realistisches Szenario?

Jean-Claude Juncker: Das ist für mich nicht eine absurde Idee. Seit wir den Euro ins Leben gerufen haben, muss ich damit leben, dass einige Kritiker jeden Vorfall nutzen, um ihn im Nachhinein abzuschießen. Im Ernst: Ich glaube nicht, dass Wettbewerbsunterschiede für sich genommen zu einer Schwäche des Euros führen. Solche Unterschiede gibt es ja auch im Dollar-Raum. Tatsache ist allerdings, dass sich die Divergenzen tendenziell zu sehr verbreitert haben.

Handelsblatt: Was lässt sich dagegen tun?

Jean-Claude Juncker: Wir brauchen eine europäische Wirtschaftsregierung im Sinne einer verstärkten Koordinierung der Wirtschaftspolitik vor allem in der Euro-Zone. Der Fall Griechenland zeigt das zur Genüge. Es muss darum gehen, nationale Maßnahmen in der Wirtschaftspolitik besser auf ihre Folgen für die Eurogruppe und für die 27 EU-Mitgliedstaaten abzustimmen.

Handelsblatt: Wie soll das funktionieren?

Jean-Claude Juncker: Die Eurogruppe wird im März eine Erklärung zu den Wettbewerbsdivergenzen in der Euro-Zone abgeben. Und dann wird sie wirtschaftspolitische Empfehlungen an jedes Land aussprechen. Jede Regierung wird sagen müssen, in welchem Zeitraum sie ihre nationalen Wettbewerbsungleichgewichte zu beseitigen gedenkt. Das werden wir dann in der Euro-Gruppe auch überprüfen.

Handelsblatt: Brauchen wir einen EU-Wirtschaftsminister?

Jean-Claude Juncker: Nein, aber eine Eurogruppe, die das Thema Wirtschaftsregierung ernst nimmt. Niemand darf national vorpreschen, ohne vorher die Konsequenzen dieser Politik mit den Partnern der Euro-Zone abgesprochen zu haben.

Handelsblatt: Das würde dann auch für Deutschland gelten. Verhält sich Deutschland in der Krise eigentlich angemessen?

Jean-Claude Juncker: Deutschland stellt nicht das größte Problem dar. Und wird es auch nicht werden.

Handelsblatt: Wie schmeichelhaft!

Jean-Claude Juncker: Dennoch muss sich auch Deutschland fragen, ob es nicht eine weitere Stärkung der Binnennachfrage braucht.

Handelsblatt: Also ein neues Konjunkturprogramm?

Jean-Claude Juncker: Ich habe meine eigene Frage nicht beantwortet. Hätte ich sie so beantwortet, wie Sie es jetzt interpretieren, gibt es ja auch jenseits von Konjunkturprogrammen Ideen.

Handelsblatt: Zum Beispiel?

Jean-Claude Juncker: Man denke nur an die Tarifpolitik.

Handelsblatt: In Deutschland gibt es die Tarifautonomie, wie soll der Staat denn darauf Einfluss nehmen?

Jean-Claude Juncker: Wir sind in der Eurogruppe gemeinsam der Auffassung, dass der öffentliche Dienst die Rolle des Trendsetters bei der Lohnfindung innehat.

Handelsblatt: Die Banken spielen auch im Fall Griechenland eine unrühmliche Rolle. Die Investmentbanken halfen bei der Defizitkosmetik, die anderen Geschäftsbanken wollen jetzt keine Anleihen mehr zeichnen. Wie lange lässt sich die Politik das eigentlich noch gefallen?

Jean-Claude Juncker: Ich halte nichts von Vorverurteilungen, obwohl ich die Vorgänge sehr skeptisch betrachte. Die Operationen zur Bilanzkosmetik mögen legal gewesen sein. Die Frage ist aber, ob sie auch gerechtfertigt gewesen sind. Wir werden über die Auswirkungen des Verhaltens der Banken reden müssen. Die Banken müssen die Auswirkungen ihres Handelns auf die Allgemeinheit stärker beachten. Aber klar ist auch, dass die griechische Tragödie nicht von den Banken verursacht wurde, sondern von dem Land selbst.

Handelsblatt: Nun aber spekulieren die Märkte gegen Griechenland und verschlimmern die Krise. Fühlen Sie sich von den Märkten erpresst?

Jean-Claude Juncker: Die Politik ist nur so weit erpressbar, wie sie sich erpressen lässt. Wir müssen das Primat der Politik wieder stärken. Sie muss die Finanzmärkte stoppen können. Die Märkte dürfen nicht so tun, als gebe es in Griechenland keine Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung, die im Übrigen eine Bringpflicht der Griechen darstellen und keine Option sind. Sollten die Griechen sich an die sehr stringenten Vorgaben halten und die Märkte dennoch gegen Griechenland spekulieren, werden wir die Märkte da nicht einfach durchmarschieren lassen.

Handelsblatt: Und wie wollen Sie die daran hindern?

Jean-Claude Juncker: Das möchte ich jetzt hier nicht näher bestimmen. Aber Sie können sicher sein: Wir haben die Folterwerkzeuge im Keller, und wir zeigen sie, wenn es nötig ist. Das Problem ist, wenn alle wissen, dass es einen Schrank voller Maßnahmen in der Euro-Zone gibt, sieht keiner mehr die Notwendigkeit, seine Haushaltspolitik ambitioniert zu betreiben. Ich kann Sie deswegen nur wissen lassen, dass es Instrumente gibt. Ich darf aber nicht so konkret werden, dass meine Antwort zu einem Nachlassen der Sparbemühungen in Griechenland führen würde.

Handelsblatt: So werden Sie die Finanzmärkte aber niemals beruhigen. Die Spekulation gegen Griechenland wird weitergehen.

Jean-Claude Juncker: Dann müssen wir das Instrument zur Not doch noch zeigen.

Handelsblatt: Sie haben jetzt die Gelegenheit dazu ...

Jean-Claude Juncker: Nein. Wenn ich jetzt die Möglichkeiten erörtern würde, über die wir in der Eurogruppe gesprochen haben, würde jede Möglichkeit in der Öffentlichkeit so gegrillt, dass sie am Ende nichts mehr taugen würde. Aber wir spielen hier mit dem Feuer. Klar ist nämlich auch, dass es nach Vertragslage nicht zu einem Bail-out kommen wird.

Handelsblatt: Ist Griechenland der Anlass, dass in der Eurogruppe die Regeln geändert werden müssen?

Jean-Claude Juncker: In der Eurogruppe muss allen und derzeit vor allem Griechenland klar sein, dass jedes Mitglied ein Stück seiner Souveränität verliert. Eine nationale Politik, die der gemeinsamen Währung schadet, darf es nicht geben. Griechenland muss deswegen ultraklar sein, dass es alle Anstrengungen unternehmen muss, um sein Defizit in den Griff zu bekommen. Wenn wir das griechische Problem gelöst haben, müssen wir uns einen Werkzeugkasten zulegen, um ähnliche Probleme in der Zukunft zu vermeiden.

Handelsblatt: Brauchen wir dafür einen Europäischen Währungsfonds?

Jean-Claude Juncker: Ich bin sehr dafür, dass wir ein Instrument gegen akute Krisen bekommen. Das darf allerdings nicht dazu führen, dass Mitgliedstaaten sich nicht mehr anstrengen, aus einer selbstverschuldeten Haushaltsmisere herauszukommen. Ich habe vor einigen Jahren ja einmal Eurobonds vorgeschlagen. Es gibt auch andere Lösungen. Kurzfristig helfen die für die Causa Griechenland aber nicht.

Handelsblatt: Soll der Internationale Währungsfonds eigentlich helfen?

Jean-Claude Juncker: Ich halte ein Engagement des IWF, das über die technische Hilfe hinausgeht, für nicht notwendig.

Handelsblatt: Also bilaterale Hilfen?

Jean-Claude Juncker: Sie können jetzt alle Möglichkeiten abfragen, ich werde Ihnen keine Antwort geben.

Handelsblatt: Auf jeden Fall wird es teuer. Wie sollen die anderen Staaten da von ihren Defiziten wieder runter?

Jean-Claude Juncker: Die hohen Defizite sind durch die Konjunkturprogramme und Stützungsaktionen entstanden. Diese Eingriffe des Staates waren in der Finanz- und Wirtschaftskrise ohne Alternative. Jetzt müssen wir uns aus dieser Spirale wieder hinausbewegen. Noch aber sind die eigenen Wachstumskräfte in der Wirtschaft zu fragil. Es kann nicht Sache der Politik sein, die ersten Wachstumspflänzchen gleich zu zertrampeln. Aber vom nächsten Jahr an müssen wir sparen.

Handelsblatt: Es ließe sich auch über höhere Inflation eine Entlastung organisieren ...

Jean-Claude Juncker: Wir haben in Europa mit viel Mühe eine Kultur aufgebaut, die Inflation in einem Korridor bis zwei Prozent zu halten. Ich bin strikt dagegen, das jetzt aufzuweichen. Wenn wir vier Prozent zulassen, sind wir schnell bei fünf oder sieben Prozent. Ich halte jede Debatte über eine Entschuldung durch mehr Inflation für absolut schädlich.

Handelsblatt: Die Debatte wird aber geführt: IWF-Chefvolkswirt Blanchard fordert, vier Prozent Inflation zuzulassen.

Jean-Claude Juncker: Der Vorschlag ist nicht zielführend. Wir würden die mühsam aufgebaute Stabilitätskultur in der Euro-Zone gefährden. Inflation würde die Wettbewerbsunterschiede in der Euro-Zone noch mehr verstärken. Wir bekämen ein heilloses Durcheinander. Deshalb kann ich nur unterstreichen, was Bundesbank-Präsident Axel Weber zu dem Thema bereits gesagt hat.

Handelsblatt: Dann sollte ja auch der nächste Kandidat für die EZB-Spitze ein ausgewiesener Stabilitätsvertreter sein. Wer soll denn Trichet im nächsten Jahr beerben?

Jean-Claude Juncker: Die Debatte darüber ist verfrüht. Notenbanker, die für Stabilität stehen, gibt es genügend.

Handelsblatt: Vor allem in Deutschland!

Jean-Claude Juncker: Auch in Deutschland. Aber nicht nur. Der deutsche Bundesbankchef Weber ist ein hervorragender Zentralbanker und wäre zweifelsohne ein hervorragender EZB-Präsident. Auch der italienische Notenbankchef Mario Draghi ist ein hervorragender Notenbankchef. Ich halte nichts von einem Schaulaufen zwischen diesen beiden ausgezeichneten Zentralbankern.

Handelsblatt: Gibt es noch weitere Kandidaten?

Jean-Claude Juncker: Wie gesagt, ich halte nichts von einem Schaulaufen, und deswegen schicke ich jetzt auch keinen dritten Kandidaten ins Rennen.

Handelsblatt: Ihre Vorbehalte gegen einen deutschen Kandidaten sind also verschwunden?

Jean-Claude Juncker: Ich bin verstimmt darüber, dass man in Deutschland denkt, ich hätte mich gegen Herrn Weber ausgesprochen. Ich habe mich lediglich dagegen ausgesprochen, in der Wahl eines portugiesischen EZB-Vizepräsidenten eine Vorentscheidung für einen deutschen EZB-Präsidenten zu sehen.

Handelsblatt: Also keine Präferenzen?

Jean-Claude Juncker: Im Maastrichter Vertrag steht, dass das Spitzenpersonal der EZB nach professionellen Kriterien ausgewählt werden soll. Daran halte ich mich. Ich glaube nicht, dass man sich in Berlin über diese Forderung wundern muss.

Handelsblatt: Können zwei Südeuropäer, also der Italiener Draghi und der Portugiese Constantio, an der Spitze der EZB stehen?

Jean-Claude Juncker: Ja, in der Tat, genauso sehe ich das. Ein ausgewiesener Stabilitätspolitiker aus Südeuropa kann doch nicht nur deshalb abgelehnt werden, weil er aus Südeuropa stammt. Das würde doch von einem sehr kleinteiligen provinziellen europapolitischen Verständnis zeugen.

Handelsblatt: Die Bundesregierung meint, dass das Direktorium der EZB geografisch einigermaßen ausgewogen besetzt werden sollte.

Jean-Claude Juncker: Mag sein. Ich halte aber nichts davon, das EZB-Direktorium nach geopolitischen Gesichtspunkten zu besetzen. Das ist im Maastrichter Vertrag so nicht vorgesehen.

Handelsblatt: Hat bei der Berufung Constantios zum EZB-Vize geopolitisches Kalkül eine Rolle gespielt?

Jean-Claude Juncker: Ich habe diese Vermutung. Und deshalb habe ich die einschlägigen Artikel des Maastrichter Vertrags noch einmal in Erinnerung gerufen.

Dernière mise à jour