"Der Bürger steht über dem Rat und dem Parlament"

Interview: Pierre Leyers/ Christoph Bumb (Luxemburger Wort)

LW:  Herr Bettel, in den vergangenen Wochen wurde viel über die Personalie Juncker diskutiert. Wird es auf dem Gipfel letztlich zu einer Kampfabstimmung kommen?

Bettel: Wenn der britische Premier für sein Land eine Abstimmung beantragt, ist das sein gutes Recht. Es scheint für mich aber eine isolierte Haltung zu sein. Und auch das Ergebnis einer solchen Abstimmung wird deutlich sein. Wenn es dazu kommen wird, geschieht das jedenfalls nicht auf unsere Initiative hin. Luxemburgs Position ist klar: Wir haben uns bereits vor den Wahlen dafür ausgesprochen, dass der demokratische Prozess respektiert werden soll. Die EVP ist als stärkste Fraktion aus den Wahlen hervorgegangen und Jean-Claude Juncker war ihr Spitzenkandidat. Das rechtfertigt, dass wir ihn gemeinsam mit der großen Mehrheit unserer europäischen Partner als legitimen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlagen.

LW: Wie stellen sich die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Rat Ihrer Meinung nach dar?

Bettel:  Ich sage es vielleicht klarer als andere meiner Kollegen: Wir verhandeln, aber wenn es dabei zu keinem Ergebnis kommt, wird am Ende mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt. Wer eine solche Abstimmung verlangt und diese verliert, kann danach aber nicht erwarten, dass man noch ewig weiter verhandelt.

LW: Ist der luxemburgische Regierungschef in dieser Frage nicht aber etwas befangen, wenn es um das Schicksal seines Vorgängers geht?

Bettel: Ich denke nicht, dass ich in dieser Frage verdächtig bin. Ich bin Regierungschef, aber auch Mitglied einer liberalen Fraktion und habe meinen Parteifreund Guy Verhofstadt bei den Europawahlen unterstützt. Und dennoch mache ich in dieser Frage Werbung für den Oppositionschef in Luxemburg. Das sollte man nicht vergessen. Ich setze mich nicht für Jean-Claude Juncker ein, weil er Luxemburger ist. Es geht vielmehr darum, die Glaubwürdigkeit der europäischen Institutionen zu bewahren. Wenn wir das Ergebnis der Wahlen nicht respektieren, missachten wir damit auch die europäischen Bürger.

LW: Ist Jean-Claude Juncker für Sie der beste Mann für diesen Job? 

Bettel: Wenn man der Meinung ist, dass es noch andere, kompetente Kandidaten gibt, dann muss man das vor den Wahlen und vor der Nominierung von Spitzenkandidaten sagen. Ob er der Richtige für den Job ist oder nicht - Jean-Claude Juncker hat mit Sicherheit große Verdienste. Und er hat eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Voraussetzung für den Job: Er glaubt an das europäische Projekt und will die EU zum Erfolg führen. Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass er ein guter und starker Präsident der Europäischen Kommission sein wird.

LW: Gibt es denn im Prinzip noch bessere Kandidaten?

Bettel: Ist er der beste, gibt es einen besseren Kandidaten? Diese Frage stellt sich für mich ehrlich gesagt nicht.

LW: Sie haben am Tag nach den Europawahlen vor einer "institutionellen Krise" gewarnt? Ist diese Krise nicht schon da? 

Bettel: Die Krise wird es nicht geben, wenn wir am Freitag eine klare Antwort geben. Und wenn das durch eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit geschieht - Et alors? Ich lasse mich aber nicht von einem Mitglied erpressen, wenn alle anderen mit mir einverstanden sind.

LW: Sie haben bisher nur von David Cameron gesprochen. Ist er der einzige "Blockierer"? Was ist mit Ungarns Premier Viktor Orban? 

Bettel: Auch wenn es nicht einer, sondern zwei sein sollten, würde das nichts an meiner eben dargelegten Argumentation ändern.

LW:  Ist es nicht dennoch problematisch, wenn ein Kommissionspräsident nicht einstimmig vorgeschlagen wird und damit von Beginn an umstritten ist?

Bettel: Ich will jetzt keinem der bisherigen Kommissionspräsidenten auf die Füße treten, aber in der Vergangenheit wollten viele Staats- und Regierungschefs lieber einen schwachen als einen starken Kommissionschef. Und diejenigen machen sich jetzt Sorgen, weil Jean-Claude Jtincker sicherlich kein schwaches Männlein ist, mit dem man umspringen kann, wie man will. Wie gesagt, ich will damit jetzt keinem der vergangenen Amtsinhaber zu nahe treten. Unabhängig davon brauchen wir in der aktuellen Situation jemanden, der erfahren und gewillt ist, die Probleme Europas anzupacken und dabei auch versucht, eine institutionelle Krise zwischen Rat und Parlament zu verhindern. Und ich denke, dass Jean-Claude Juncker derjenige ist, der genau das tun wird.

LW: Liegen die Differenzen denn vor allem an der Person Juncker oder sind sie nicht vielleicht doch eher inhaltlicher Natur?

Bettel: Man kann die Personalien nicht komplett vom Programm trennen. Eines geht aber nicht, nämlich, dass man eine Unterstützung Junckers an gewisse inhaltliche Maximalforderungen knüpft. Die kommende Kommission braucht ein gutes Programm mit klaren politischen Prioritäten. Diese müssen aber im europäischen Geist des Kompromisses zwischen allen Ländern und auch zwischen Rat und Parlament definiert werden.

LW: Inhaltlich stellt sich doch die Grundsatzfrage: Soll Europa weiter sparen oder mehr in Wachstum investieren? Wie sieht der Regierungschef von Luxemburg das?

Bettel: Ich denke nicht, dass die beiden Forderungen inkompatibel sind. Im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes haben wir uns klare Regeln gegeben und Ziele gesetzt. Damit wollen wir neue Finanz- oder Verschuldungskrisen verhindern. Wie genau und in welchem Tempo wir unsere Ziele erreichen, da bin ich bereit, Kompromisse einzugehen. Es bringt jedenfalls nichts, ganze Volkswirtschaften kaputt zu sparen. Das Ziel einer nachhaltigen Finanzpolitik im Euroraum muss aber bestehen bleiben. Dass wir den Stabilitätspakt jetzt aufweichen, wäre allerdings ein falsches Zeichen.

LW: Abgesehen von der Debatte um die Person des künftigen Kommissionschefs geht es vor allem um die inhaltliche Ausrichtung der EU. Wie sehen Sie diese Weichenstellung? 

Bettel: Wir müssen den Bürgern Europa besser erklären. Das Schlechte an Europa wird viel zu sehr betont, das Gute aber übersehen. Europäische Regeln mögen über die Krümmung der Banane handeln, sie legen aber auch fest, welche Standards bei Lebensmitteln eingehalten werden müssen, um die Gesundheit der Verbraucher zu schützen. Immigration wird als Bedrohung für lokale Arbeitsplätze dargestellt - dabei wird geflissentlich übersehen, welche Vorteile die Reisefreiheit bringt. Die Tatsache, dass ein EU -Bürger in jedem anderen EU -Land im Krankenhaus medizinisch betreut wird, dass er dort heiraten kann, dass dort seine Scheidung anerkannt wird - all diese Rechte, die wir seit Jahrzehnten genießen, sind zur Selbstverständlichkeit geworden. Wir Politiker sind an diesem Missverhältnis schuld - alles was funktioniert, ist unser Verdienst. Geht etwas schief, liegt die Schuld in Brüssel. Vor den großen Weichenstellungen sollten wir zuerst Europa in das richtige Licht rücken.

LW: Stichwort: Demokratiedefizit in der EU. Lässt sich außer der anstehenden Wahl des Kommissionspräsidenten vielleicht noch mehr tun, um dieses Manko zu beheben? 

Bettel: Der Schritt, den wir jetzt mit der Nominierung des Spitzenkandidaten wagen, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Eine Kehrtwende wäre so, als würden wir die Bürger für unmündig halten. Es wäre das falsche Signal. Wenn wir Europa den Bürgern näher bringen wollen, sehe ich mehrere Möglichkeiten. Eine Idee wäre, dass die Bürger bei den Europawahlen unter den Spitzenkandidaten den künftigen Kommissar ihres Landes wählen können. Mit einer weiteren Idee bin ich mir bewusst, dass ich nicht mit allen Regierungschefs auf gleicher Linie liege. Ich finde, dass in jedem Land neben der Wahl der Europa -Abgeordneten auch die Möglichkeit bestehen soll, mit einer Zweitstimme direkt einen europäischen Spitzenkandidaten für den Posten des Kommissionschefs zu wählen. Ich wünsche mir ein demokratischeres Europa. Ein Europa von den Bürgern und mit den Bürgern. Eine solche Direktwahl würde die Debatte über Europa voranbringen.

LW: Ein solches System würde doch Kandidaten aus großen Ländern bevorzugen?

Bettel: Und wenn schon! Dann liegt es an den Kandidaten aus kleineren Ländern, zu zeigen, dass sie besser sind.

LW: Mit der quasi automatischen Nominierung des Spitzenkandidaten bei den Europawahlen haben die Staats und Regierungschefs aber doch ein wichtiges Privileg bei Personalentscheidungen aufgegeben... 

Bettel: Das Europaparlament hat Jean-Claude Juncker keinen Dienst erwiesen, als es ihn gleich am Tag nach den Wahlen als Kandidaten vorschlug. Die Initiative für diese Nominierung liegt beim Europäischen Rat, nicht beim Parlament. Ich will nicht spekulieren, könnte mir aber vorstellen, dass der Rat Juncker bei seinem Treffen am 27. Mai direkt eine Rolle zugedacht hätte, wäre das Parlament nichtvorgeprescht. Es ist klar über seine Befugnisse hinaus gegangen. Davon aber abgesehen, ist es der Bürger, der entscheidet. Das hat er getan, indem er Jean-Claude Juncker in 28 Ländern der EU bestätigte. Der Bürger steht über dem Parlament und über dem Rat. Das gilt es zu respektieren.





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