Claude Meisch zu seiner ersten "Rentrée" als Bildungsminister

"Wir wollen keine Revolution machen"

Interview: Kim Hermes

Tageblatt: Herr Meisch, sind die Diskussionen im Schulwesen so kompliziert, wie Sie sich das vorgestellt haben?

Claude Meisch: Ich bin überzeugt, dass es bei der Vielfalt von Meinungen, die ich mir erwartet habe, zu einem Konsens kommen kann. Aber es wird Punkte geben, wo die Interessenslage der verschiedenen Akteure eine andere ist. In manchen Punkten kann ich gut mit den Lehrergewerkschaften diskutieren und auf gemeinsame Nenner kommen. Bei anderen werden die Gewerkschaften sagen müssen, dass sie da sind, um die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder zu verteidigen. Das Ministerium muss die Schule organisieren und das Beste für die Schüler herausholen. Das wird nicht immer zusammenzubringen sein und es wird den einen oder anderen Konflikt geben. Wichtig ist, dass sachlich miteinander geredet wird.

Tageblatt: Wie würden Sie den Auftrag der Schule kurz umreißen?

Claude Meisch: Er verändert sich permanent, denn die Schule lebt mitten in der Gesellschaft. Sie hat einen Auftrag von der Gesellschaft, der in Luxemburg anders ist als noch in der Vergangenheit und der vermutlich auch anders ist als in unseren Nachbarländern. Die Sprachensituation in unserem Land hat sich zum Beispiel komplett verändert. Wenn jedes zweite Kind zu Hause eine andere Sprache spricht als Luxemburgisch, können wir den Sprachenunterricht nicht so laufen lassen wie noch vor 30 Jahren. Was lange gut funktioniert hat, reicht vielleicht nicht mehr oder ist nicht mehr angemessen. Wir denken daran, die Strukturen weiter zu öffnen. Etwa andere Akteure auf der Ebene eines „Conseil national des programmes“ einzubinden. Neben Fachleuten aus der Schule auch solche aus Betrieben oder Sozialpartner. Damit die Schule erfährt, wofür sie arbeitet und was von ihr erwartet wird.

Tageblatt: Das Gebilde Schule reagiert aber auch mal empfindlich, wenn man ihm von außen etwas aufträgt.

Claude Meisch: Es sollen ja nicht alle Entscheidungen im Ministerium fallen. Wir müssen Bildungsziele setzen, sehen, welche Mittel die Schulen bekommen und wie die Ausbildung der Lehrer funktioniert. Es gibt aber noch sehr viel, was die Schulen selber machen könnten. Das System würde so reaktiver, es wäre nicht mehr der große unbewegliche Tanker. Wir könnten flexibler werden in bestimmten Regionen und bei spezifischen Herausforderungen, Problemen, aber auch Ideen, einzelne Lösungen finden. Wir setzen den Rahmen, geben die Mittel, definieren die Ziele und stärken auf der anderen Seite die Autonomie der Schulen, so dass sie sich selber entwickeln können. Es heißt aber auch, dass die Verantwortung angenommen werden muss und sich die Anforderungen an Direktionen und andere Akteure ändern.

Tageblatt: Wie weit wird denn die Luxemburger Schule den Ansprüchen, die an sie gestellt werden, gerecht?

Claude Meisch: Sie ist nicht überall stehen geblieben, aber vieles von dem, was angedacht war, ist nicht im Klassenzimmer angekommen. Wenn wir die Bilanz der Grundschulreform machen, diskutieren wir immer noch über vieles, was das Unterrichten selber angeht. Ich will nicht nur in großen Strukturreformen denken, sondern auch etwas dafür tun, damit sich das Schüler -Lehrer -Verhältnis ändert. Dass Lehrer etwa besser vorbereitet sind, besseres Material haben. Die Schule kann sich vielleicht selber besser konzipieren. Wir brauchen die Innovation nicht von hier heraus zu tragen. Es gibt sie bereits. In den Schulen und bei den Lehrern. Wir sollfen das, was von „unten nach oben“ kommt, stärker wachsen lassen. Wir sind zwar ein kleines Land, aber es gibt hier große Unterschiede. Da sollten die Schulen mehr Möglichkeiten haben, sich an ihre Begebenheiten anzupassen.

Tageblatt: Die Grundschulreform läuft ja bereits, auch wenn sie stellenweise korrigiert wurde. Allerdings ist sie noch nicht bis zum "Secondaire" durchgezogen. Wie wird es hier weitergehen?

Claude Meisch: Auch wenn wir bei einigen Sachen noch auf Grundsätzliches zurückkommen werden, bleibt die Reform, wie sie von der vorigen Regierung auf den Weg geschickt wurde, die Grundlage. Aber noch mal: Ich will nicht nur in großen Strukturreformen denken. Denn bei der Grundschulreform kam einiges, was wesentlich ist für das Unterrichten, am Ende zu kurz. Nach außen war ja auch das Bild entstanden, dass das „Secondaire“ gar nicht reformiert werden will. Das ist aber nicht so. Die Innovation ist zum Teil schon da. Vieles, was heftigst diskutiert wurde, besteht bereits. Das Tutorat etwa funktioniert in jeder zweiten Schule, weil dort Abstraktion gemacht wurde von politischen Diskussionen und auf Bedürfnisse reagiert wurde.

Tageblatt: Apropos Bedürfnisse. Die letzten Zahlen zur Orientierung nach der Grundschule waren ziemlich erschreckend.

Claude Meisch: Das ist extrem besorgniserregend. Mittlerweile sind wir bei 18 Prozent der Schüler, die ins „Modulaire“ orientiert werden. Wobei nicht jeder dieser Schüler verloren ist, denn das ist das Bild, das in der Öffentlichkeit vorherrscht (ca. 50 Prozent schaffen es zu einem Schulabschluss bzw. eine Berufsausbildung, d. Red.). Wir müssen uns mit den Ursachen beschäftigen. Eine davon ist, dass sich die Bevölkerung noch mal verändert hat. Bei der „luxemburgischen“ Bevölkerung ist diese Entwicklung hin zum „Modulaire“ kaum festzustellen. Wir kriegen immer mehr Migranten ins Schulsystem herein, aber diese Zahlen bedeuten auch, dass wir uns an die Bedürfnisse dieser Schüler nicht angepasst haben. Ich denke deshalb daran, das „Modulaire“ weiter zu differenzieren. Genauso erschreckend sind aber die sinkenden Schülerzahlen im klassischen Lyzeum. Wenn wir das auf die nächsten Jahre extrapolieren, stellt sich in der Hauptstadt und in Esch die Frage, was wir mit all jenen Gebäuden machen, die bisher klassische Lyzeen sind. In Esch werden zwei klassische Lyzeen nicht haltbar sein, wenn wir noch ein paar solcher Jahrgänge haben.

Tageblatt: Woran liegt das?

Claude Meisch: Zum einen an den Veränderungen in der Bevölkerung und an der Sprachensituation. Das „Classique“ stellt immer noch hohe Ansprüche an Sprachen und Mathematik. Die erfüllen aber immer weniger Schüler. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir darauf reagieren wollen. Und wir haben eine internationale Gemeinschaft, deren Kinder eher internationale Schulen besuchen. Unsere klassischen und technischen Lyzeen müssen ihre internationalen Angebote ausweiten. Sonst kommt es irgendwann zu einer Zweiteilung in der Gesellschaft. Diejenigen, die länger im Land sind, besuchen eine öffentliche Schule, die internationale Gemeinschaft hat ihre eigenen Privatschulen und es gibt keinen Kontakt untereinander. Das ist für die Kohäsion in einem kleinen Land alles andere als gut.

Tageblatt: Das führt zur Frage nach der Integrationsfunktion der Schule, die in einem kleinen Land, das viel von Migration profitiert, sehr wichtig ist. Dabei droht die Gefahr, dass die Schule eher trennt als verbindet, Stichwort Sprachen ...

Claude Meisch: Die Schule übernimmt eine enorme integrative Aufgabe. Wenn ich das mit anderen Ländern oder Städten, teilweise mit den schlimmsten Problemvierteln, vergleiche, liegen wir beim Ausländeranteil viel höher, aber haben nicht die gleichen Probleme wie Parallelgesellschaften u.a. Das ist auch ein Verdienst der Luxemburger Schule. Fast jeder, der hier aufgewachsen ist, ist durch unser Schulsystem gegangen. Und die zweite Generation spricht Luxemburgisch, das ist extrem wichtig. Dazu kommt auch, dass wir nicht die Sozialprobleme haben wie andere Länder. Das soll nicht heißen, dass wir keine Probleme haben. Bei manchen Schülern müssen wir uns mehr Mühe geben, etwa wenn Defizite bestehen, die durch die Biografie zu erklären sind. Es zeigt, dass auch die Grundschulreform noch nicht alles gelöst hat. Und es muss möglich werden, dass jemand, der etwa ins „Modulaire“ orientiert wurde, auch Möglichkeiten haben muss, dort wieder herauszufinden. Und schließlich müssen wir einsehen, dass der Anspruch des Arbeitsmarktes, dass jeder einen hochwertigen Abschluss hat, nicht für jeden zu erreichen ist. Es gibt auch Arbeit für die anderen und die müssen wir so ausbilden, dass sie ihren Platz in der Gesellschaft haben. Da reicht es nicht, ihnen ein Diplom zu geben.

Tageblatt: Sie haben von den verschiedenen Bildungszweigen geredet. Vielfach klang an, dass diese durchlässiger werden sollen, auch das Wort Gesamtschule fiel bereits.

Claude Meisch: Man kann dem Schüler in einem jungen Alter nicht alle Wege verbauen. Irgendwann kommt der Moment, in dem sich kruziale Fragen stellen, und wenn dann die Kurve nicht mehr zu kriegen ist, hat man jemandem das Leben versaut. Das darf das Schulsystem nicht. Aber ohne Anstrengung geht es nicht. Wir müssen auch von dem Bild weg, dass das „Classique“ alles ist. Es muss mehr auf das geachtet werden, was der Schüler kann, was er will und was seine Motivation ist. Das „Classique“ ist nicht alles und das „Technique“ ist nicht für die, die es nicht ins „Classique“ schaffen.

Tageblatt: Problematisch ist, dass mehr Lehrer gebraucht werden, aber viele das Zulassungsexamen nicht schaffen. In Grundschule und "Secondaire" arbeiten jeweils rund 1.000 "Chargés de cours"

Claude Meisch: Die Antwort kann aber nicht sein, dass wir die Zugangskriterien lockern. Was mich schockiert hat, war, dass es nicht an Nebensächlichkeiten scheiterte, sondern für die Grundschule in Didaktik und Pädagogik. Das ist das Kerngeschäft des Unterrichtens. Da können wir die Latte nicht tiefer legen. Aber irgendetwas muss schiefgelaufen sein, und das möchte ich analysiert haben. Wir müssen auch darüber nachdenken, ob es nicht vorrangig ist, dass diplomierte Lehrer, die das Staatsexamen geschafft haben, auch unterrichten. Im „Fondamental“ ist das nicht immer der Fall. Muss die Bibliothek oder die Informatik wirklich von einem diplomierten Lehrer verwaltet werden?

Tageblatt: Ein Vorwurf, lautet allerdings, dass der Staat mit den vielen "Chargés" Geld spart, weil er sie nicht wie Beamte bezahlen muss.

Claude Meisch: Ich verstehe diesen Vorwurf. Und ich kann nicht sagen, dass die Rechnung falsch ist, weil sie stimmt. Aber es liegt wirklich nicht in unserem Interesse, Menschen jahrelang im Ungewissen zu lassen und ihnen keine wirkliche Karriere anbieten zu können. Genauso wenig kann es sein, dass wir Prüfungen in Didaktik und Pädagogik fallen lassen oder die Kandidaten irgendetwas auswendig lernen lassen, damit sie durchkommen. Wir wollen ja eigenständig arbeitende und denkende Lehrer.

Tageblatt: Sicher ist aber, dass mehr Lehrer gebraucht werden.

Claude Meisch: Es werden mehr gebraucht, ja. Aber es geht nicht nur um mehr, sondern auch um die guten und qualifizierten Kräfte. Manchmal ist 50 weniger zu haben und die Schule anders zu organisieren vielleicht sinnvoller als 50 mehr vorzusehen und nicht zu wissen, ob ich sie überhaupt finde. Das habe ich zu bedenken gegeben, als es um Posten und Sparmaßnahmen ging. Wir haben in den letzten Jahren immer ca. 300 Posten zugefügt, aber das ist ein Rhythmus, den wir auf Dauer nicht durchhalten können. Es geht auch nicht darum, Posten abzubauen, sondern das Wachstum besser in den Griff zu bekommen. Statt 300 könnten etwa 250 Posten pro Jahr dazukommen, aber wir werden nicht abbauen.

Tageblatt: Eine weitere Baustelle ist der Werteunterricht, der ja allen Koalitionspartnern gemeinsam ist. Wie sieht es dort aus?

Claude Meisch: Das bleibt unumstritten. Das Regierungsprogramm ist aber auf fünf Jahre festgeschrieben und meine Ambition ist es, dass das korrekt abläuft, denn es ist ein heikles Dossier. Es geht um persönliche Überzeugungen und Werte und da gibt es verschiedene Ansichten. Von daher muss das Programm extrem gut ausgearbeitet werden. Es soll ein gemeinsames Programm werden, das jeder schätzen kann, fachlich und von der Methode her. Aber ich will keinen Mischmasch aus Moral- und Sozialunterricht und Religionsunterricht. Wir brauchen eine kohärente Vorgehensweise und einen Anspruch, der dem Fach gerecht wird. Dazu kommen andere komplexe Punkte. Erstens gibt es eine Konvention zwischen Staat und Bistum zur Organisation des Religionsunterrichts und die hat kein Auslaufdatum. Würden wir nicht gemeinsam eine Lösung finden, müssten sich die Gerichte der Sache annehmen und einen „délai raisonnable“  festlegen."

Tageblatt: Gehen Sie davon aus, dass eine Lösung gefunden wird?

Claude Meisch: Ich bin optimistisch, aber das muss im Respekt des Koalitionsabkommens passieren. Sonst wird die Abgeordnetenkammer das nicht mittragen. Ich spüre, dass auf allen Seiten der Wunsch besteht, dieses heikle Thema nicht auch noch vor die Gerichte zu bringen. Aber wir sind noch nicht ganz durch. Dazu kommt die Frage nach dem Personal, das für den Religionsunterricht zuständig ist. Wir haben im Regierungsprogramm gesagt, dass wir niemanden hängen lassen und eine berufliche Neuorientierung anbieten werden. Ich sehe viele Aufgaben, für die wir gute Leute brauchen, die Erfahrung und unterschiedliche Studien haben. Das reicht von der Schule selber über Kinderbetreuung bis hin zu außerschulischen Aktivitäten. Aber auch da werden wir die Zugangskriterien nicht komplett über den Haufen werfen.

Tageblatt: In der Schule geht es ja auch viel um die Frage bewerten und nicht bewerten. Wie lange wollen Sie sich Zeit geben, bis Sie ihre Arbeit als Minister objektiv bewerten lassen?

Claude Meisch: Als Minister wird man vom ersten Tag an bewertet und trägt vom ersten Tag an Verantwortung. Objektiv wird es, wenn man den Kontext sieht und was erreicht wurde und was aus welchen Gründen noch nicht. Wir haben in Luxemburg komplexe Prozeduren im Schulwesen, was uns weniger schnell reagieren und Akzente setzen lässt. Dieses Schuljahr wird noch nicht komplett von einer neuen Bildungspolitik geprägt sein. Da ist noch viel von vorherigen Ansätzen drin. Von guten Ansätzen und von solchen, die noch einmal überdacht werden müssen. Aber wir sind nie fertig. Wir wollen keine Revolutionen machen, sondern eine Evolution, bei der sich Politik und die anderen Akteure immer wieder infrage stellen müssen. Da können wir nie sagen „Jetzt ist alles in Ordnung“, denn wenn das eine gelöst ist, steht die nächste Baustelle vor der Tür.

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