Bilanz von Xavier Bettel nach einem Jahr an der Spitze der Regierung

"D'Scheckbuch huet ausgedingt"

Interview: Laurent Graff, Stefan Kunzmann

Revue: Herr Premierminister. Bei Ihrem Amtsantritt sagten Sie: "Ich will nicht der beliebteste Premier aller Zeiten werden, sondern das Land modernisieren." Wie sehen Sie das nach einem Jahr?

Xavier Bettel: Was ich damals gesagt habe, ist eingetroffen. Wenn man Reformen macht, bekommt man dafür nicht unbedingt Applaus. Meine Politik basiert aber nicht auf Meinungsumfragen, obwohl man nicht vergessen darf, dass 84 bis 86 Prozent der Luxemburger für Reformen sind. Es wäre dramatisch, wenn nur ein Drittel die Situation so wahrnehmen würde, wie sie ist, und die Mehrheit die Meinung vertreten würde, es müsse nichts geschehen. Das wäre ganz schlimm. Die Umfragen zeigen jedoch auch, dass wir besser erklären müssen, was wir vorhaben. Als Politiker sollte man drei Dinge befolgen: zuhören, entscheiden und erklären. Wenn eines davon nicht geschieht, gibt es ein Problem.

Revue: Es gab in der Tat einige Kommunikationspannen...

Xavier Bettel: Gerade letzte Woche habe ich zum Beispiel gelesen, dass sich Bettel und Gramegna nicht einig wären bezüglich der 0,5 Prozent. Was nie eine Position der Regierung war. Oder die Gewerkschaft spricht von etwas, was wir nie gesagt haben. Wir hatten in den letzten zwölf Monaten viele "Leaks". Dabei gehen Dokumente und Informationen an die Presse, die noch nicht spruchreif sind. Wir bekommen Kommunikationspannen vorgeworfen, für die wir nicht verantwortlich sind. Als ich zum Beispiel vor kurzem im Saarland davon sprach, dass sich in Luxemburg viele die Fragen stellten, ob eine Maut auch hierzulande eingeführt wird, hieß es plötzlich, ich hätte gesagt, ich sei für eine Maut. Das alles macht unsere Arbeit nicht einfacher. Ich muss allerdings auch sagen, dass ich nicht als Premierminister zur Welt gekommen bin. Wir sind also verbesserungsfähig.

Revue: Der Regierung wird Planlosigkeit vorgeworfen. Fehlt ihr der rote Faden?

Xavier Bettel: Es gibt einen Faden, aber nicht nur einen roten, sondern auch einen blauen und eine grünen. Vor allem aber einen Zukunftsfader Ich möchte daran erinnern, dass wir für fünf Jahre gewählt wurden und nicht für zwölf Monate. Ich kann nicht alles in einen Jahr umsetzen. Der Koalitionsvertrag ist die "Guideline" für die nächsten fünf Jahre.

Revue: Momentan sieht es aber so aus, als sei Sparen das einzige Credo. ...

Xavier Bettel:...dabei werden viele Dinge vergessen. Nochmals, was die Kommunikation betrifft: Dass zum Beispiel jede Woche ein Briefing stattfindet, in das auch andere Minister kommen, dass es im Internet ausgestrahlt und in die Gebärdensprache übersetzt wird. Anfangs hieß es noch "Wow". Nun scheint alles ganz normal. Dass wir zum Beispiel am Nationalfeiertag eine zivile Zeremonie haben. Wie gesagt, alles scheint jetzt so, als sei das nichts Besonderes.

Revue: Die Gewerkschaften gehen auf die Barrikaden, die Lehrer sind unzufrieden, die Schüler haben gestreikt - warum dann dieser heftige Widerstand?

Xavier Bettel: Wie gesagt, Reformen sind oft unpopulär. Wenn jemand glaubt, dass hier in Luxemburg alles in Ordnung sei und das Geld wie früher geradezu hereinsprudelt, dann irrt er sich. Es ist nicht mehr so wie früher. Wir können nicht mehr so vorgehen, wie es jahrelang der Fall war - bei Verhandlungen einfach das Scheckbuch zu zücken und es auch hervorzuziehen, wenn die Bürger unzufrieden sind. Das Scheckbuch hat ausgedient. Wir befinden uns nicht mehr in einer Situation, in der wir die Probleme einfach mit Geld lösen können. Sie sprechen von Sparen, aber es gibt einige Projekte, die uns nach vorne bringen und die Ausgaben beinhalten, die mehr bewirken als Ausgaben, die in der Vergangenheit getätigt wurden. Das Ziel der Regierung ist es, aus der Schuldenspirale herauszukommen - und die Schulden haben sich in den letzten Jahren verzehnfacht. Ich könnte ein Politiker sein, der sich auf gute Umfrageergebnisse verlässt, weil er nichts getan hat. Keine Veränderungen. Aber der bin ich nicht. Der Reflex ist häufig: "Reformen ja, aber nicht bei mir." Wir müssen uns gemeinsam anstrengen. Wenn wir wollen, dass Arbeitsplätze geschaffen werden, Betriebe nach Luxemburg kommen sollen und unser Sozialsystem beibehalten werden kann, dann brauchen wir Reformen. Ich stehe nicht morgens auf und überlege mir, wen ich heute wütend machen kann. Ich hoffe, dass dies die anderen Parteien verstehen und mitarbeiten, um das Land konstruktiv zu modernisieren. Und nicht nur kritisieren. Nichts machen ist keine Alternative.

Revue: Aber wie können Firmen nach Luxemburg gelockt worden? Das Image ist international nicht zuletzt durch "Lux-Leaks" angekratzt.

Xavier Bettel: Das steht fest, dass das Bild von Luxemburg nicht davon profitiert hat. Das Modell, das wir vor zehn Jahren hatten, passt nicht zum Zukunftsmodell. Wenn wir so weitermachen dann überleben wir - aber nicht mehr lange. Wir müssen den ausländischen Firmen erklären, dass es sich lohnt, bei uns zu investieren. Wir haben das Knowhow und den sozialen Frieden. Deshalb müssen wir den sozialen Zusammenhalt bewahren und vermeiden, dass Neid, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus aufkommen. Diese Regierung versucht wirklich alles, damit unser Land auf einem hohen Niveau bleibt. Und wenn Anstrengungen unternommen werden müssen, dann heißt das, dies muss kollektiv geschehen. Sicher gibt es viele, die meckern. Aber lesen Sie doch die zahlreichen Gutachten, in denen steht, dass wir keineswegs Austeritätspolitik betreiben und dass wir nicht weit genug gehen. Wenn wir diese Reformen nicht durchführen, dann müssen wir später so weit gehen, wie wir es heute nicht wollen. Das sind zum Beispiel das 13. Monatsgehalt, die Pensionen und die Sozialleistungen. Diese wollen wir aber nicht angreifen.

Revue: Waren Sie überrascht von der Heftigkeit des Widerstands?

Xavier Bettel: Die Gewerkschaften haben ihre Rolle. Sie sollten sich aber die Frage stellen, in welcher Situation wir uns befinden.

Revue: Wie sind die Gespräche mit den Gewerkschaften verlaufen?

Xavier Bettel: Die Gespräche waren sicher nicht immer einfach und es wurde zum Teil hart verhandelt. Der Sozialdialog liegt mir jedoch am Herzen und es ist für Luxemburg wichtig, dass sozialer Frieden herrscht. Die Verhandlungen sind nun abgeschlossen und das Resultat ist ein guter Kompromiss. Die Anpassungen beim Congd parental beispielsweise fügen sich nahtlos ein in die Familienpolitik der Regierung.

Revue: Die Kürzungen in den Beihilfen...

Xavier Bettel: Dabei ist alles durcheinandergeworfen worden. Viele meinten, es würde keine Mutterschaftszulage mehr geben, kein Mutterschaftsurlaub, kein Elternurlaub, kein Kindergeld. Wie schon gesagt, ist die Information wichtig. Wenn ich genau erkläre, um was es geht, ist die Akzeptanz viel größer. Es wird niemandem etwas weggenommen und nichts abgebaut.

Revue: Hat die Vorgängerregierung Entscheidungen ausgesetzt?

Xavier Bettel: Das ist unverantwortlich. Seit 2008 hieß es jedes Jahr, die Krise sei vorbei. Sie ist nicht vorbei.

Revue: Was die großen politischen und gesellschaftlichen Reformen betrifft - wird das für das kommende Jahr geplante Referendum eine Art Stimmungsbarometer?

Xavier Bettel: Es wäre schrecklich, wenn es dafür benutzt würde. Es geht um eine Wahl, welche die Gesellschaft trifft und darum, in welche Richtung wir uns in der Zukunft orientieren. Wir haben in Luxemburg kaum Erfahrung mit Referenden. Es ist wichtig, sachlich zu argumentieren, und es ist gut, dass sich eine Mehrheit der Bürger darauf freut, abstimmen zu können. Wir akzeptieren die Entscheidungen, die von den Bürgern getroffen werden. Deshalb ist es auch wichtig, alles genau zu erklären.

Revue: Das Thema Ausländerwahlrecht scheint besonders heikel zu sein.

Xavier Bettel: Hier geht es darum, die Naturalisierung zu bevorzugen. Weil aber verschiedene Länder die doppelte Nationalität nicht anerkennen und man schon eine Weile im Land lebt, soll man trotzdem an der Politik partizipieren können. Die Integration führt eben auch über die Partizipation. Schon bei den Gemeindewahlen sind wir weiter als andere Länder gegangen. Hier darf jeder, der sich einschreibt, wählen. Damals hieß es, dass portugiesische Bürgermeister und Schöffen ins Land kommen würden. Ich kann mich noch erinnern, als über Maastricht abgestimmt wurde. Schon damals wurde Angst geschürt.

Revue: Gibt es denn schon positive Resultate im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit?

Xavier Bettel: Diese ist zuletzt leicht zurückgegangen. Jeder Arbeitslose weniger bedeutet schon einen Erfolg. Die Arbeitslosigkeit betrifft vor allem jene, die nicht genügend qualifiziert sind. Sie sind schwer zu platzieren. Bildung ist ein wichtiger Faktor, nicht nur in der Schule. Das Arbeitsamt hat mit Isabelle Schloesser die richtige Person an der Spitze. Wir haben auch das Personal aufgestockt. Tatsache ist, dass wir Arbeitsplätze schaffen. Aber die internationale Konjunktur spielt dabei auch eine Rolle. Doch diejenigen, die letztendlich Arbeit schaffen, sind die Betriebe. Um diese nach Luxemburg zu locken und als Standort attraktiv zu bleiben, dürfen wir nicht in die Schuldenfalle gehen. Denn durch die Schuldenfalle riskieren wir, nicht mehr attraktiv zu sein. Wenn wir die finanzielle Stabilität verlieren, und damit auch die Attraktivität, wird die Zahl der Arbeitslosen, die wir heute haben, nichts dagegen sein.

Revue: Wo sind wir in zwölf Monaten dran?

Xavier Bettel: Wir haben bereits in den letzten zwölf Monaten viel getan. Nun heißt es, unser Land und alle die Möglichkeiten, die wir haben, besser zu verkaufen.

Revue: Werden Sie im Ausland zurzeit nicht hauptsächlich zu "Lux-Leaks" angesprochen?

Xavier Bettel: Hauptsächlich werde ich wegen Jean-Claude Juncker angesprochen. Und ich erkläre, dass unser Land in einer Transformationsphase ist.

Revue: Was wünschen Sie sich fürs neue Jahr?

Xavier Bettel: Ruhe. Nicht mir persönlich, sondern Ruhe in unserem Land. Und dass wir uns bewusst sind, was zu tun ist, sowie verstehen, dass wir in einer Situation sind, die anders ist als früher. Hoffentlich können wir das den Menschen erklären und sie es verstehen, weshalb die Maßnahmen, die wir getroffen haben, wichtig sind. Und dass wir bereit sind, dies gemeinsam zu tun. Ich will nicht, dass das Land zweigeteilt ist.

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