Interview de Xavier Bettel avec le Luxemburger Wort

"Wir müssen unsere gesamte Kraft darauf verwenden, Flüchtlinge aufzunehmen, die um ihr Leben fürchten"

Interview: Christoph Bumb et Dani Schumacher

Luxemburger Wort: Die Flüchtlingskrise bestimmt in Europa seit Wochen die Schlagzeilen. Luxemburg hat den EU-Ratsvorsitz inne. Was gedenken Sie zu tun? Was ist die Agenda?

Xavier Bettel: Im Juli hat Außenminister Jean Asselborn als Ratsvorsitzender beim Migrationsgipfel die EU-Kommission aufgefordert, eine Liste mit sicheren Herkunftsländern zu erstellen. Wir brauchen die Liste so schnell wie möglich, sie ist eine erste, aber wichtige Etappe im Umgang mit der Flüchtlingsproblematik. Kommissionspräsident Juncker scheint die Idee ebenfalls zu befürworten. Wir müssen unsere gesamte Kraft darauf verwenden, Flüchtlinge aufzunehmen, die um ihr Leben fürchten. Wir müssen den politischen Flüchtlingen helfen, daran führt kein Weg vorbei. Es geht nicht um Wirtschaftsflüchtlinge, die immerhin die Hälfte aller Asylbewerber ausmachen, auch in Luxemburg. Falls es in der EU nicht zu einer Einigung kommt, werden Luxemburg, Belgien und die Niederlande eine Vorreiterrolle übernehmen. Darauf habe ich mich mit meinen Amtskollegen verständigt. Eine Liste der sicheren Herkunftsländer ist das eine, Schnellverfahren bei der Asylprozedur das andere. Beide müssen Hand in Hand gehen. 

Luxemburger Wort: Wie könnte die Liste konkret aussehen, welche Staaten müssten als sicher eingestuft werden?

Xavier Bettel: Im Detail will ich mich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht dazu äußern, das ist Verhandlungssache. Ich denke aber etwa an die Balkan-Staaten. Es kann nicht sein, dass einige Länder Mitglied der EU werden wollen, aber immer noch nicht als sicher eingestuft werden. Oder dass beliebte Urlaubsziele der Europäer als nicht sicher gelten. Ich hoffe nach wie vor, dass es eine europaweite Liste geben wird. Ein Vormarsch von Luxemburg, Belgien und den Niederlanden ist in meinen Augen nur die zweitbeste Lösung, allerdings könnte sie Initialwirkung haben. 

Luxemburger Wort: Muss das Dublin-111-Abkommen, welches das Asylverfahren in den europäischen Staaten regelt, angesichts des enormen Flüchtlingsstroms neu verhandelt werden, wie dies u. a. von Deutschland gefordert wird?

Xavier Bettel: Unter normalen Voraussetzungen ist das Dublin-Abkommen begründet. Es herrschen zur Zeit aber keine normalen Voraussetzungen, die Realität fordert ihren Tribut. In Staaten wie Griechenland oder Italien klappt beispielsweise die Registrierung der Flüchtlinge längst nicht mehr vorschriftsmäßig. Es bringt zur Zeit in der Tat nichts, wenn Deutschland syrische Flüchtlinge nach Griechenland zurückschickt, weil sie dort zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben. Wir müssen unsere Prozeduren anpassen. Wenn wir mit großen Migrationswellen konfrontiert werden, sind wir überfordert. Wenn einige Politiker nun aber dafür plädieren, das Schengen-Abkommen außer Kraft zu setzen, ist das ein falsches Signal.

Luxemburger Wort: Ist das Quotensystem noch aktuell, oder ist es definitiv vom Tisch?

Xavier Bettel: Es ist nicht vom Tisch. Wir setzen weiter auf ein freiwilliges Quotensystem. Sollte dies aber zu keiner Lösung führen, müssen wir eine obligatorische Regelung in Erwägung ziehen. Die Solidarität muss spielen. Es geht nicht, dass sich einige Länder aus populistischen Überlegungen ihrer Verantwortung entziehen. In der EU leben 500 Millionen Menschen. Angesichts dieser Größenordnung kann es doch nicht sein, dass wir es nicht fertigbringen, 60 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Wohlgemerkt: Es geht um politische Flüchtlinge, nicht um Zuwanderer, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen. Bei der Verteilung müssen neben dem BIP aber noch andere Kriterien spielen. Wir müssen unbedingt die Größe der Länder berücksichtigen. Die Verteilung muss als gerecht empfunden werden. Tun wir das nicht, gießen wir Wasser auf die Mühlen der Populisten. Im Endeffekt schadet dies auch den Flüchtlingen selbst, weil sie nicht akzeptiert, sondern bloß geduldet werden.

Luxemburger Wort: Bleibt es für Luxemburg bei den 350 Flüchtlingen, auf die sich die EU-Außenminister im Juli verständigt haben? Reichen die Auffangstrukturen aus?

Xavier Bettel: Wir werden die 350 Flüchtlinge im Zeitraum von zwei Jahren aufnehmen, die Strukturen reichen also aus. Allerdings wollen wir noch einen anderen Weg einschlagen. Ich habe Familienministerin Corinne Cahen beauftragt, den rechtlichen Rahmen für die Unterbringung von Flüchtlingen bei Privatpersonen zu prüfen. Sie wird überprüfen, was rechtlich möglich ist und ob es genügend Personal zur Betreuung gibt. Das Projekt soll zusammen mit den konventionierten Organisationen wie etwa der Caritas organisiert werden, weil diese Vereinigungen die erforderliche Erfahrung bei der Betreuung besitzen. Die Voraussetzung ist, dass der gesetzliche Rahmen stimmt, und dass es objektive. Kriterien gibt. Ich habe in den letzten Tagen zahlreiche Anfragen von Bürgern erhalten, die bereit sind, einen oder mehrere Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen. Die Unterbringung bei Privatpersonen hat den Vorteil, dass sich die Asylbewerber schneller und besser integrieren. Und eine gute Integration muss unser oberstes Ziel sein. Wir müssen verhindern, dass Parallelgesellschaften entstehen. Durch die Maßnahme würden zudem die Auffangstrukturen entlastet. Wir werden auch prüfen, ob eine finanzielle Unterstützung der Gastfamilien möglich ist. Es muss aber gewährleistet sein, dass niemand Flüchtlinge aus finanziellen Überlegungen heraus aufnimmt.

Luxemburger Wort: In Teilen der Bevölkerung besteht sicherlich der Wille, sich einzubringen. Es gibt aber auch die andere Seite. Befürchten Sie nicht, dass die Stimmung kippt und die Flüchtlinge abgelehnt werden?

Xavier Bettel: Ich bin mir bewusst, dass es Vorurteile gibt und dass die Debatte teils populistisch geführt wird. Um so wichtiger ist es, dass wir die Integration der Flüchtlinge hinbekommen. Eine Neiddebatte steht uns schlecht zu Gesicht, denn ohne Immigration wäre Luxemburg nicht das Land, was es heute ist. Ich bin daher optimistisch, dass es uns auch diesmal gelingen wird, die Zuwanderer zu integrieren. Auf die Gefahr hin mich zu wiederholen: Die Flüchtlinge kommen nicht zu uns, um von uns zü profitieren, sondern weil sie in ihrer Heimat um ihr Leben fürchten müssen.

Luxemburger Wort: Eher populistisch wird derzeit auch im Land das Thema der organisierten Bettler diskutiert. Was sagt der Premier dazu?

Xavier Bettel: Ich finde es traurig, dass man das Sommerloch auf dem Rücken der Schwächsten in unserer Gesellschaft füllt. 

Luxemburger Wort: Die Debatte begann mit einem offenen Brief des Rechtsanwalts Gaston Vogel, in dem unter anderem vom "Gestank", der von "Horden" von "widerlichen Bettlern" ausgehe, die Rede ist. Sollte man als politisch Verantwortlicher diese Wortwahl und einseitige Sicht des Problems nicht klar verurteilen?

Xavier Bettel: Diese Geschichte liegt jetzt bei der Staatsanwaltschaft. Deshalb kommentiere ich das als Premier auch nicht. Ich bin nicht dazu da, um zu sagen, was richtig oder falsch ist. Ich verurteile aber jegliche Übertreibungen in der Debatte. Ich sage aber auch, dass es in der Tat eine organisierte Kriminalität in diesem Bereich gibt. Wenn Menschen instrumentalisiert und ausgebeutet werden, um betteln zu gehen, ist das inakzeptabel. Auch hier geht es letztlich aber um die Schwachen in der Gesellschaft, die man bis zu einem gewissen Grad schützen muss. Ich kenne die Problematik. Ich war Bürgermeister, ich war Sozialschöffe in der Stadt Luxemburg. Ich kenne viele Bettler persönlich. Ich sage ihnen dann auch immer: Wer sich aggressiv oder respektlos verhält, wer die Leute anpöbelt oder beleidigt, das ist nicht akzeptabel. Dafür gibt es auch schon jetzt Gesetze, die in diesen Fällen greifen. Das Problem ist doch, dass es in jeder Gesellschaft Menschen gibt, die in kein Schema passen. Doch es bleiben Menschen mit Rechten.

Luxemburger Wort: Was gedenkt die Regierung gegen das soziale Grundproblem zu tun?

Xavier Bettel: Es geht doch darum, auch diesen Menschen eine Perspektive zu geben. Es nützt auf Dauer leider nichts, Bettlern Geld zu geben. Damit ist diesen Menschen nicht geholfen. Das war schon immer meine Meinung. Wer arbeiten oder sich integrieren will, der hat bei uns im Land die Möglichkeiten dazu. Wir müssen die Anstrengungen verstärken, um die Menschen auf der Straße wieder zurück in die Gesellschaft zu bekommen. Ich beobachte aber, dass in der Debatte leider oft die Dinge miteinander vermischt werden. Bettler, Flüchtlinge, kriminelle Ausländer - das ist ein gefährlicher Cocktail für Populisten und Demagogen. Man muss etwa betonen: Unter den Bettlern ist kein einziger politischer Flüchtling. Diese Menschen, die aus Ländern kommen, die mit Krieg und Terror geplagt sind, verdienen unseren, Respekt und unsere Hilfe. Deshalb ist der Vorstoß, von dem ich sprach, auch so wichtig, um Klischees zu überwinden und die Integration jener Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind, zu fördern.

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