Michel Wolter: Gewohntes ändern. Der Innenminister über das Integrative Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept.

REVUE: Ihrem "Integrativen Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept" gebührt der Titel "Unwort des Jahres". Wie wollen Sie, dass die Öffentlichkeit über ein Dokument diskutiert, dessen Titel schon ein Zungenbrecher ist?

Michel Wolter: Der Titel beschreibt genau das, um was es geht: Die Funktionen Wohnen, Arbeiten und sich Bewegen auf integrative Weise betrachten und organisieren.

Inhaltlich ist das Dokument ebenfalls umfangreich und komplex. Wie stellen Sie sich die Diskussion konkret vor?

Michel Wolter: Die einfachen Aufgaben haben wir in der Politik hinter uns. Nun stellt sich die Frage der Zukunft des Landes in den nächsten zwanzig Jahren. Das IVL liefert die Basisdaten zu dieser Diskussion. Diese kann u.a. durch eine verständliche Vorstellung in den Medien gefördert werden. Jeder soll seine Meinung dazu sagen, aber dazu muss er sich ordentlich damit auseinandersetzen.

Könnten Sie sich ein Referendum über das IVL vorstellen?

Michel Wolter: Das wäre schwierig, denn eine Volksbefragung setzt klar formulierte Fragen voraus. Im IVL jedoch haben wir alle Politikfelder versammelt, die kommunale Autonomie wird genauso berührt wie die Wirtschaft und die Gewohnheiten der Menschen.

Also Referenden zu einzelnen Themen?

Michel Wolter: Die neue Verwaltungsstruktur unseres Landes mit sechs Regionen statt der Kantone könnte einer Volksbefragung unterzogen werden. Ansonsten werden mehrere Gesetze für die Umsetzung des IVL nötig sein.

Der Durchschnittsbürger wird vor allem merken, dass das IVL im Transport und im Wohnungsbau seine Freiheit zugunsten des Allgemeinwohls einschränken wird.

Michel Wolter: Es ist keine Einschränkung, eher eine Reorganisierung, die notwendig ist, um manches machbar zu machen. Es wird zum Beispiel ständig mehr öffentlicher Transport gefordert. Das IVL zeigt auf, dass das nur zu erreichen ist, wenn weniger zersiedelt wird und wir den Wohnraum konzentriert entwickeln.

Wie soll der öffentliche Transport massiv gefördert werden in einem Land, in dem auf tausend Einwohner 628 Autos kommen?

Michel Wolter: Das Umdenken ist nicht kurzfristig zu erreichen. Der öffentliche Transport wird erst attraktiv, wenn wir wieder ein Land der kurzen Wege werden. Das heißt, wenn Wohnen und Arbeiten näher beisammen liegen.

Müsste denn nicht bei jeder vernünftigen Verkehrsplanung die geplante Train-Tram durch die Stadt fahren, statt sich darum herum zu winden?

Michel Wolter: Das ist für mich nicht die Frage. Zug und Tram müssen lebensfähig werden, und dafür müssen wir die Menschen und die Arbeitsplätze in die Gegenden bringen, die durch den öffentlichen Verkehr erschlossen sind. Das IVL schließt die Tram durch die Stadt nicht aus. Ich bin persönlich davon überzeugt, dass sie einmal kommen wird.

Ihr Konzept sieht eine Stadt Luxemburg mit 110.000 Einwohnern vor. Wie soll das vor sich gehen, wo doch die Stadt in den letzten Jahrzehnten sogar Einwohner verloren hat?

Michel Wolter: Die zentrale Frage ist die, ob wir es beim "Laissez faire – laissez aller" belassen oder nicht. Viele Aktivitätszonen sind entstanden, weil verschiedene Leute dort Grundstücke hatten. Wenn die Stadt Luxemburg ihre Hauptstadtrolle behalten will, muss sie wachsen. Ob wir dazu bereit sind, haben wir uns bislang nicht gefragt.

Das IVL sieht eine Bebauungspflicht vor. Ist das nicht ein allzu dirigistischer Eingriff?

Michel Wolter: In den bestehenden Bebauungsplänen der Gemeinden sind 6.300 Hektar Bauland ausgewiesen, die noch nicht bebaut sind. Sollen wir die Perimeter noch weiter ausweiten oder nicht eher unbebaute Grundstücke füllen?

In der Stadt Luxemburg sind dafür die Baulandpreise zu hoch.

Michel Wolter: Die öffentliche Hand hat wenig Einfluss auf die Baulandpreise, die von Angebot und Nachfrage bestimmt werden. Die Besteuerung unbebauter Grundstücke ist ein Mittel dagegen, das von der Regierung ins Auge gefassl wird.

In Sachen Straßenbau zeigt das IVL verschiedene Varianten auf. Im Szenario IVL 1 wird die umstrittene Verbindung im Südwesten des Landes an Küntzig vorbei nach Solange gebaut und im IVL 2 nicht. Welches Szenario ist maßgebend?

Michel Wolter: Wir haben uns für das Szenario IVL 2 ausgesprochen.

Wird nicht im Rahmen des IVL das umstrittene Programm 2020 der Straßenbauverwaltung verwirklicht?

Michel Wolter: Das Programm 2020 war ein Arbeitsdokument der Verwaltung im Rahmen des IVL-Prozesses, genau wie mobiliteit.lu auf der Seite des Transportministeriums. Was realisiert wird und was nicht, ist künftigen Entscheidungen vorbehalten. Das gilt auch für die Westtangente von Schoenfels bis Mamer, deren Notwendigkeit allerdings im IVL bestätigt wird.

Dann wird neben der Nordstraße durch den Grünewald also nun eine zweite Nordstraße im Westen gebaut.

Michel Wolter: Ein Wachstum, wie wir es in den letzten Jahren gekannt haben und in Zukunft kennen werden, kann nicht ohne neue Straßen bewältigt werden. Da das Straßennetz unseres Landes aus historischen Gründen auf die Stadt Luxemburg zuläuft, fehlt es an Verbindungen um die Stadt herum. Die Westtangente soll den Norden mit dem Südwesten verbinden. Wir müssen bedenken, dass heute 280.000 Autos in Luxemburg verkehren, bei 70.000 vor 30 Jahren.

Ist nicht auch der niedrige Preis des Treibstoffs schuld daran, dass in Luxemburg nur 12 Prozent der Bewegungen mit öffentlichen Transportmitteln durchgeführt werden?

Michel Wolter: Ich glaube nicht, dass der Luxemburger bei einem höheren Benzinpreis auf seinen Privatwagen verzichten würde.

Können Sie sich beim IVL auf Erfahrungen aus dem Ausland stützen? Gibt es ähnliche Vorgehensweisen?

Michel Wolter: Wir haben keine gefunden. Die internationalen Experten, die wir zu den Studien mit herangezogen haben, bestätigen, dass es Ansätze in der von uns unternommenen Breite im Ausland nicht gibt.

Was muss der erste Schritt bei der Umsetzung des IVL sein?

Michel Wolter: Viele der Erkenntnisse aus dem IVL sind seit langem bekannt, sie werden in diesem Dokument zum ersten Mal zu einem Ganzen zusammengefügt. Ich hoffe, das IVL wird ein Thema im Wahlkampf, dass die Wähler wissen, wie die verschiedenen Parteien dazu stehen. Die Hälfte der notwendigen Maßnahmen muss meines Erachtens nach innerhalb der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden.

Ihnen wird Amtsmüdigkeit zugeschrieben. Werden Sie dennoch mit der Umsetzung des IVL in die Praxis beginnen?

Michel Wolter: Der Wähler wird entscheiden, wer hier im Land in den nächsten Jahren was in der Politik tun wird.

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