Interview von Xavier Bettel mit dem Luxemburger Wort

"Ein Statut für Rosinenpickerei existiert nicht"

Interview: Luxemburger Wort (Marc Schlammes, Pierre Leyers)

Luxemburger Wort: Herr Staatsminister, nehmen wir an, Sie wären Arzt. Wie würden Sie den Gesundheitszustand der Europäischen Union beschreiben?

Xavier Bettel: Der Patient ist zu 90 Prozent gesund. Wir reden immer nur über das, was hakt. Wir übersehen all das, was gut funktioniert. Unsere Stärken werden überschattet von einigen Schwächen, das will ich nicht leugnen. Forschung, Transport, Schulen - all das funktioniert gut in der EU. Beim informellen Gipfel in Bratislava sollten wir auch über das reden, wo Verbesserungsbedarf besteht, zum Beispiel darüber, wie der EU -Binnenmarkt fit für das digitale Zeitalter gemacht werden kann, oder wie die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen gesenkt werden kann. 

Luxemburger Wort: Können Sie aber nachvollziehen, warum so viele EU-Bürger wenig mit Europa anfangen können?

Xavier Bettel: Warum wird Europa vielerorts so negativ gesehen? Weil nur die Probleme gesehen werden, nicht die Lösungen. Oft werden Probleme dadurch verstärkt, dass einige Länder keine europäische Lösung akzeptieren können. Nehmen wir die Flüchtlingskrise - da kann es nur eine europäische Lösung geben. Der Schutz der Außengrenzen - das ist eine gemeinschaftliche Aufgabe. Warum beginnen die Briten das Austrittsverfahren gemäß Artikel 50 des EU -Vertrags nicht? Sie zögern, weil, sie erst jetzt die Vorteile sehen, die ihnen die EU bietet. Europa ist die Lösung, nicht das Problem. 

Luxemburger Wort: Die EU ist eine Wertegemeinschaft. Wie kann die EU ihre Mitglieder dazu bringen, diese Werte zu garantieren? Was ist mit Ungarn, was ist mit Polen?

Xavier Bettel: Dafür gibt es Verfahren, die die EU -Kommission im Falle der umstrittenen Reformen in Polen eingeleitet hat. Bei wiederholten Verstößen gegen diese Grundwerte können wir nicht passiv zuschauen. Nichts tun und nichts sagen, wäre grundfalsch.

Luxemburger Wort: Nicht alle Länder teilen diese Grundwerte in gleichem Maße, einige sehen in der EU eine bessere Freihandelszone. Was tun, wenn die 28 - bald die 27 - keine gemeinsame Lösung finden?

Xavier Bettel: Mein Ziel ist, zu 27 Politik zu machen. Wenn das nicht funktioniert, sollen die Länder, die bereit sind, gemeinsam in die richtige Richtung zu gehen, das auch tun können. Ich bin nicht für ein "Europa à la carte", sondern für ein Europa, das funktioniert.

Luxemburger Wort: In den letzten Wochen haben sich die sechs Gründerstaaten beraten. Die Visegrad-Staaten kamen zusammen, die südlichen "Club Med"-Länder hielten ihren Gipfel ab, Sie selbst bringen wieder die Benelux -Länder ins Spiel. Droht da die Zersplitterung?

Xavier Bettel: Lösungen sollen zu 27 gesucht werden. Hier die alten, dort die neuen Mitgliedsländer, Baltische Länder, Nordische Länder, Visegrad-Staaten, und jetzt eine Allianz, die sich um den griechischen Premier Tsipras bildet - all das ist schlecht, wenn es sich institutionalisiert. Am Dialog an sich ist allerdings nichts auszusetzen. Ich habe im Vorfeld von Bratislava mit vielen Gesprächspartnern geredet, mit Herrn Hollande, Frau Merkel, dem rumänischen Präsidenten Johannis, und zahlreichen Regierungschefs. Es geht darum, ein Gefühl dafür zu erlangen, wie der Puls in den jeweiligen Mitgliedsländern schlägt. 

Luxemburger Wort: Was ist, wenn eine Lösung zu 27 nicht möglich ist?

Xavier Bettel: Wie gesagt, 90 Prozent funktioniert. Bei den zehn Prozent, die schwieriger sind, ist Luxemburg bereit, Kooperationen mit den Ländern einzugehen, die in dieselbe Richtung gehen.

Luxemburger Wort: An was denken Sie konkret?

Xavier Bettel: Im Rahmen des Benelux arbeiten wir bei der Immigration und bei der Bekämpfung des sozialen Dumpings eng zusammen. Bei der digitalen Agenda wollen wir zu neun Ländern vorangehen, auch wenn wir sehen, dass andere trödeln. Wie gesagt, eine Lösung zu 27 ist immer vorzuziehen. Wenn aber nur ein paar Länder voranschreiten wollen, ist das am Ende im Interesse von allen. 

Luxemburger Wort: Frankreich wählt 2017, Deutschland wählt 2017, Spanien wählt 2016 womöglich ein drittes Mal, in Italien hat Premier Renzi ein wichtiges Verfassungsreferendum anstehen: Ist es in Anbetracht dieser elektoralen Herausforderungen nicht vermessen, zukunftsweisendes Handeln zu erwarten?

Xavier Bettel: (lacht) Sie haben Holland vergessen, und bei Österreich wissen wir noch nicht genau, wann! Wahlen gehören zum demokratischen Prinzip. Wir können unsere Entscheidungen nicht nach den Wahlen in verschiedenen Ländern ausrichten. Wir müssen in Europa entscheidungsfähig sein, unabhängig vom Wahlkalender.

Luxemburger Wort: Wahlen werden von Wählern entschieden. Die europäischen Werte, die Sie verteidigen, geraten unter Druck durch populistische Parteien. Was wäre, wenn in Frankreich und in Deutschland ein Rechtsruck stattfindet? Das würde die Richtung der EU nachhaltig beeinflussen.

Xavier Bettel: Diejenigen, die einfache Lösungen anbieten, haben derzeit Konjunktur. Demokratisch gesinnte Politiker haben es da schwer. Wir müssen komplizierte Antworten auf scheinbar einfache Fragen geben. Populisten hingegen haben simple Antworten für die kompliziertesten Zusammenhange parat. Die Antwort mag falsch sein, oder vom legalen Standpunkt aus gesehen hirnrissig - es spielt keine Rolle, Hauptsache, es klingt gut. In England hat Nigel Farage gleich am Tag nach dem Brexit-Votum zugegeben, dass nicht all seine Versprechen der Wahrheit entsprachen. Seine Wähler hat das wenig gekümmert. Wir müssen die jüngsten Wahlergebnisse ernst nehmen. Sollte Bratislava nicht der Beginn überzeugender Lösungen sein, spielen wir denen in die Hände, die sagen, dass Europa nicht funktioniert.

Luxemburger Wort: Werden Sie in Bratislava mit Herrn Orban über die Forderung von Außenminister Asselborn reden, Ungarn aus der EU auszuschließen?

Xavier Bettel: Gut möglich. Luxemburg hat gute Beziehungen zu Ungarn. Ich habe schon öfter mit Herrn Orban geredet, und werde es wahrscheinlich auch noch öfter tun.

Luxemburger Wort: Wie stehen Sie zu den Aussagen von Außenminister Asselborn?

Xavier Bettel: Herr Asselborn hat gesagt, dass Europa eine Wertegemeinschaft ist. Das ist die Linie der luxemburgischen Regierung. Auch ich bin überzeugt, dass man diese Werte nicht einfach über Bord werfen kann. Herr Asselborn hat ja selbst seine Aussage zu Ungarn als "plumper Aufschrei" bezeichnet. Seine Forderung mag nicht glücklich formuliert gewesen sein. Ich bin aber mit ihm einverstanden, wenn es um die Verteidigung der Grundwerte geht. Wenn die verletzt werden, gibt es Prozeduren und Verfahren, die der EU -Kommission zur Verfügung stehen. 

Luxemburger Wort: Ungarn wurde vergangenes Jahr zu Beginn der Flüchtlingskrise ganz schön im Stich gelassen. Luxemburg hingegen war nicht direkt von den Flüchtlingsströmen betroffen. Macht es sich der Außenminister da nicht etwas zu einfach, indem er mit dem Finger auf die Ungarn zeigt?

Xavier Bettel: Viele Länder waren direkt betroffen. Herr Asselborn wollte niemandem Lektionen erteilen. Er wollte darauf hinweisen, dass es im Umgang mit Flüchtlingen Regeln gibt, die wir als Europäer uns verpflichtet haben, zu befolgen. Es ist nicht so, dass Luxemburg mit dem Finger auf Ungarn zeigt. Das wäre überheblich. Es gibt aber Grundprinzipien, auf denen Europa beruht, und ich werde mich nicht scheuen, das Herrn Orban in Erinnerung zu rufen, sollte er mich darauf ansprechen.

Luxemburger Wort: Sie waren gerade beim Friedensprozess im Nahen Osten aktiv, Herr Asselborn teilt gegen Ungarn aus. Ist das nicht ein bisschen zu viel des Guten in Sachen Außenpolitik?

Xavier Bettel: Ich habe bei meinem Besuch in Israel Herrn Netanjahu gesagt, dass Luxemburg voll und ganz hinter der französischen und russischen Friedensinitiative steht. Ich sagte ihm auch, dass Luxemburg als Land, das sich traditionell als Brückenbauer im diplomatischen Prozess sieht, einen Beitrag zum Dialog leisten will. Herr Netanjahu hat meine Einladung, nach Luxemburg zu kommen, angenommen. Er wäre sogar bereit, in Luxemburg mit den Palästinensern zu diskutieren. Wenn eine Dialogbereitschaft besteht, sollte diese Chance genutzt werden, wo auch immer das sein mag. Es bedeutet nicht, dass wir als kleines Land auf dem Egotrip wären, und die großen Probleme der Welt lösen wollten. 

Luxemburger Wort: Wer bestimmt die Luxemburger Außenpolitik, Sie oder Herr Asselborn?

Xavier Bettel: Es gab zeitlich zwei starke Momente in der luxemburgischen Außenpolitik, die die Aufmerksamkeit der internationalen Presse erregten. Das war nicht beabsichtigt. Ich bin Regierungschef und Sprecher der Regierung. Falls es Positionen der Luxemburger Regierung mitzuteilen gibt, fällt das in den Kompetenzbereich des Premiers.

Luxemburger Wort: Ende 2015 gehörte die EU, auch dank luxemburgischem Impuls, bei der COP2I zu den Vorreitern in der Klimapolitik. Jetzt droht man, abgehängt zu werden und in Marrakesch dem Peloton der Nachzügler anzugehören. Was läuft da schief?

Xavier Bettel: Klimaschutz ist das beste Beispiel für ein Problem, bei dem es nur eine gemeinsame Lösung geben kann. Bei den Verhandlungen zur COP21 hat Luxemburg die EU vertreten und sich dabei für sehr ehrgeizige Ziele eingesetzt. Diese Ziele müssen erreicht werden, im Interesse kommender Generationen. 

Luxemburger Wort: Weil eine schnelle Unterschrift unter den Weltklimavertrag an den Vorbehalten von Kohleländern wie Polen und dem Brexit-Chaos scheitern kann, riskiert die EU, ihren Status als Vorreiter zu verlieren.

Xavier Bettel: Das darf nicht sein! Ich will in Bratislava darauf hinweisen, dass wir als EU bei der Ratifizierung einen schnelleren Gang einlegen müssen. Klimapolitik darf kein "one shot" sein, sondern erfordert ein langfristiges Engagement.

Luxemburger Wort: In Bratislava werden die Briten nicht dabei sein, aber durch ihre Abwesenheit auffallen. London will den Zugang zum Binnenmarkt, gleichzeitig aber die Grenzen für EU-Ausländer sperren. Sie haben oft den Standpunkt vertreten, dass die vier Freiheiten integraler Bestandteil des Pakets sein müssen. Wenn aber die Gewährung der Personenfreizügigkeit der britischen Regierung nicht möglich ist, weil sie durch das Brexit-Votum keinen Auftrag dafür hat, müsste nicht ein realistischer Ausweg, ein Kompromiss, gefunden werden?

Xavier Bettel: Dass die vier Freiheiten untrennbar vom Binnenmarkt sind, hätten die Briten wissen müssen, als sie über den Verbleib in der EU abstimmten. Großbritannien hatte immer nur "Opt-outs". Jetzt wollen die Briten draußen sein, hätten aber gerne ein "Opt-in". Diese Option gibt es nicht in der EU. Ein Statut für Rosinenpickerei existiert nicht. Das wäre unfair gegenüber anderen Ländern wie Norwegen, Island oder der Schweiz. 

Luxemburger Wort: Sie fahren eine harte Linie gegenüber den Briten.

Xavier Bettel: Ich will vor allem Klarheit! Ich möchte wissen, was die Regierung in London überhaupt will. Ich kann Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, wann und ob die britische Regierung einen Antrag nach Artikel 50 stellen wird. Ohne Einleitung des Austrittsverfahrens können die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen nicht beginnen. Für diese Verhandlungen bleiben aber nur zwei Jahre. Wir haben im Juni 2019 Eüropawahlen. Wird Großbritannien da noch dabei sein? Ich weiß es nicht, und ich habe den Verdacht, dass auch die Regierung in London es nicht weiß.

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