Interview von Xavier Bettel mit dem Tageblatt

"Keine Indexmanipulation, auch keine positive"

Interview: Tageblatt (Robert Schneider)

Tageblatt: 2001, nach den Anschlägen vorn 11. September, sprach Ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker vom Ende der Spaßgesellschaft. Wie sehen Sie, nach dem jüngsten Anschlag von Berlin (und vielen weiteren in den vergangenen Jahren), die Lage heute?

Xavier Bettel: Ich habe so meine Schwierigkeiten zu verstehen, was damit ("das Ende der Spaßgesellschaft") gemeint war, denn es gab auch vor dem 11. September Attentate. Der Terrorismus ist also kein neues Phänomen. Was aber stimmt, ist, dass der Fanatismus heute keine Grenzen kennt. Unsere gesellschaftlichen Werte werden heute angegriffen, während der frühere Terror (etwa jener in den 70ern und 80ern) eher politischer Natur war.

Die aktuellen Terroristen verhöhnen dabei auch eine Religion; keine Religion verlangt, dass Menschen umgebracht werden. Es handelt sich um Fanatiker, um Verrückte ("Mëller"), die - und das ist das Gefährliche - radikal sind. Alles Radikale, und es gibt viele Formen der Radikalität, muss bekämpft werden.

Tageblatt: Ist Luxemburg bedroht?

Xavier Bettel: Luxemburg ist keine Insel; es besteht allerdings keine direkte Gefahr, keine präzise Bedrohung. Dies bedeutet nicht, dass hier nichts geschehen kann, wir müssen uns die Mittel geben, alles Präventive zu unternehmen, was möglich ist.

Tageblatt: Kommen wir zu Europa. Hat die Union noch eine Zukunft, wenn wir uns anschauen, wie sich der Populismus, der ja auch etwas mit Radikalismus zu tun hat, in verschiedenen Ländern entwickelt? Die deutsche europafeindliche AfD jubiliert zurzeit ja quasi über die Attentate, die ihr Wähler bescheren könnten.

Xavier Bettel: Politischen Profit aus dem Unglück anderer Menschen ziehen, ist keine Politik. Populismus gehört nicht zu dem, was ich in meinem Spektrum als Politik sehe. Es ist auch immer gefährlich, wenn traditionelle Parteien versuchen, populistischen Bewegungen nachzueifern.

Zwei Elemente gilt es hierbei zu betrachten. Nehmen wir das Beispiel Brexit. Viele behaupten, die Menschen, die für den Brexit gestimmt haben, seien "Faschos" und hätten nichts verstanden... Fehler! Jene, die für Trump gestimmt haben, sind keine Faschos oder Extremisten.

Diese Menschen haben Fragen und Sorgen und die finden heute in der politischen Klasse keine Antworten. Und hier haben wir (die Politiker) die verdammte Mission, den Menschen Antworten zu liefern auf die Fragen, die sie haben. In Luxemburg zum Beispiel haben wir im Rahmen der Verfassungsreform versucht, mit den Menschen Modelle zu entwickeln.

Es reicht nicht - wie beim Referendum, bei dem ich ja meine Erfahrungen gemacht habe -, die Bürger mit Ja oder Nein antworten zu lassen... Man muss die Menschen in den demokratischen Prozess mit einbinden. Das haben wir gemacht.

Und man sollte den Menschen die Wahrheit sagen und ihnen die Dinge erklären. Populisten sagen z.B.: "Wenn Flüchtlinge kommen, so besteht das Risiko, dass Terroristen darunter sind." Der Terrorist von Berlin war dabei auch Terrorist in Syrien, er hat nie gelitten und war nie gefährdet, war nie ein richtiger Flüchtling.

Bedeutet dies nun, dass wir alle Asylbewerber verurteilen müssen, weil ein Terrorist unter ihnen sein könnte? Außerdem darf nicht vergessen werden, dass einige der Verrückten, die in Syrien kämpfen, von hier sind, es sind auch einige Luxemburger darunter, das wissen wir ja. Dies bedeutet, dass präventiv gegen den Radikalismus zu arbeiten, wichtig ist.

Und Europa ist für mich eine Antwort. Die Union ist nicht das Problem, sondern Teil der Antwort. Wir vergessen oft, was Europa uns bringt und heben stattdessen hervor, was in Europa nicht funktioniert. Frontex z.B. funktioniert, mit der Türkei haben wir einen Flüchtlings-Deal gefunden, der einigermaßen klappt. Dies sagt niemand, ebenso wenig wird erwähnt, dass Europa seit 1957 ein Friedensprojekt ist, dass es den Euro gibt, dass wir problemlos in anderen Ländern studieren können, krank werden können, einkaufen, arbeiten usw.

Wir müssen uns daran erinnern, was Europa uns gebracht hat und nicht ausschließlich betonen, was nicht klappt.

Tageblatt: Schön gesagt, die Realität ist aber die, dass immer mehr Menschen europakritisch sind, nicht wegen Europa an sich, sondern weil die Union als Sündenbock benutzt wird.

Xavier Bettel: Ja, das ist auch meine Schuld. Wenn ich "meine" sage, dann sind damit wir Politiker gemeint. Wie viele verteidigen heute noch Europa?

Wenn etwas in einem Land nicht klappt, dann verweisen die nationalen Politiker allzu oft auf Brüsseler Direktiven. Wer aber entscheidet diese? Ein Rat, zusammengesetzt aus nationalen Politikern. Europa sollte nicht für alles Mögliche schuldig gemacht werden. Es liegt somit eine Teilverantwortung bei uns selbst.

Tageblatt: Noch drei Stichworte zum Thema: Türkei...

Xavier Bettel: Ein Partner von Europa; es macht mir aber Sorgen, was dort läuft. Wir können die negativen Punkte auch nicht ignorieren, nur weil wir einen Deal mit dem Staat haben. Die Todesstrafe scheint ja vom Tisch zu sein. Tant mieux...

Tageblatt: Martin Schulz...

Xavier Bettel: Ein überzeugter Europäer, der für mich ein guter Präsident war.

Ich habe gerne mit ihm zusammengearbeitet.

Tageblatt: Jean-Claude Juncker...

Xavier Bettel: Wir haben ein gutes Verhältnis, wir rufen uns regelmäßig an und tauschen uns aus. Ich meine, dass er gut da ist, wo er ist. Damit will ich nicht gesagt haben, dass ich froh bin, dass er fort ist.

Er wird aber dort gebraucht, er glaubt an Europa. Ich arbeite gerne mit ihm zusammen.

Tageblatt: Sie sind Medienminister; die Medien sind zurzeit in einem tiefen Umbruch. Eine Frage vorweg: Zählen Sie eher zu den Lesern von gedruckten oder digitalen Zeitungen?

Xavier Bettel: Sowohl als auch. Im Bett lese ich bereits zwei Zeitungen auf elektronische Weise. Am Frühstückstisch dann bevorzuge ich die Papierversion. Das ist ein Ritual, da möchte ich nicht das iPad nutzen.

Tageblatt: Wir haben jetzt neue Regeln zur Presseförderung, die elektronischen Medien können ebenfalls bezuschusst werden...

Xavier Bettel: Ja, wir haben diesbezüglich einen entsprechenden Text ausgearbeitet, bei dem noch das Antwortrecht geklärt werden muss. Es kann nämlich nicht sein, dass es auf Internet kein Antwortrecht gibt. Es sind immer noch Journalisten, die hinter den Informationen stehen...

Tageblatt: Auf Internet sind ja nicht nur Zeitungen zu finden. Mittlerweile reden viele mit, weil es so einfach geworden ist. Wo ich hin möchte: Mitsprache und Mitbestimmung waren zu Beginn der Legislatur ja ein wichtiges Thema. Wie sieht das nach dem einzigen Referendum dieser Regierungsperiode aus; ein zweites wird es ja wohl nicht geben...

Xavier Bettel: Die CSV hat angekündigt, sie werde es nicht mittragen, also können wir es nicht abhalten. Das Referendum, das wir durchführten, war eine wichtige Übung. Es galt, Fragen zu klären, und diese sind nun geklärt; ich bedauere nicht, es durchgeführt zu haben. Ein Referendum, bei dem nur mit Ja und Nein geantwortet werden kann und bei dem die Bevölkerung nicht die Möglichkeit hat, im Vorfeld mitzuwirken, sehe ich skeptischer.

Es kann auch nicht sein, dass die gewählte Kammer ihre legislative Aufgabe nicht mehr wahrnimmt und nur noch Volksabstimmungen stattfinden. Bei wichtigen Fragen, wo keine klare Mehrheit im Parlament besteht, kann das Instrument Referendum weiter eingesetzt werden.

Tageblatt: Zum Sozialen: OGBL und Konsumentenschutz fordern einen stärkeren Sozialtransfer als vorgesehen, etwa durch eine höhere Indextranche. Ist noch etwas drin?

Xavier Bettel: "D'Fanger ewech vum Index..." - was für die einen gilt, gilt auch für die anderen. Eine Indextranche erfällt nun, und die wird ausgezahlt. Dies ist ein Mechanismus, und daran gehe ich nicht "fréckelen".

Im Rahmen der Steuerreform haben wir den sog. "schmalen Schultern", wie übrigens auch den Alleinerziehern, kräftig und gezielt unter die Arme gegriffen. Daneben gibt es eine Reihe von Sachleistungen, die wir einführen. Wir wollen den Menschen helfen, aus schwierigen Situationen herauszukommen.

Tageblatt: Die Wohnungsproblematik ist ein wichtiges Thema: Kriegen wir das in den Griff?

Xavier Bettel: In der Tat ein großes Thema. Wir haben hier einen Paradigmenwechsel eingeleitet, etwa auf Kirchberg, wo wir nicht mehr dem Meistbietenden Bauland verkaufen. Gebaut wird jetzt unter Auflagen. Es ist wichtig, jungen Leuten erschwingliche Wohnungen anzubieten.

Sozialer Wohnraum und normaler Wohnraum besteht (wenn auch nicht genug); es gibt aber auch jene, die zu viel verdienen, um vom sozialen Wohnraum zu profitieren, aber nicht genug, um auf dem normalen Markt etwas zu kaufen: Denen müssen wir helfen; der unteren Mittelschicht, wenn Sie so wollen.

Tageblatt: Eine letzte Frage: Wie verbringen Sie die Feiertage?

Xavier Bettel: In meiner Familie, mit Gauthier. Ich werde wohl viel lesen, vor allem Krimis und historische Biografien; und das am liebsten in der Badewanne...

Wir wollten vom Staatsminister auch wissen, ob die wirtschaftliche Zukunft des Landes im Weltall liege. Dies sei nicht der Fall, so Bettel, vielmehr sei es wichtig, die ökonomische Vielfalt zu pflegen. Logistik, E-Commerce, Daten, Finanzen, Industrie, Handel, Handwerk usw. machten die Vielfalt und den Erfolg aus, die unsere Wirtschaft heute habe, so Bettel. Wer nur auf eine einzige Sache fixiert sei, riskiere zu scheitern. Allerdings handele es sich bei der wirtschaftlichen Nutzung von Ressourcen im Weltall um ein potenziell enormes Projekt. Als Luxemburg ins Satellitengeschäft eingestiegen sei, hätten auch nicht viele an den Erfolg geglaubt. Dieses neue Projekt sei nun eben ein Versuch.

Auf das angestrebte qualitative Wachstum angesprochen, verwies Bettel auf die Nimby-Einstellung ("not in my backyard"). Jeder wolle eine Bushaltestelle in seiner Straße, aber nicht vor seiner Haustür. Luxemburg wolle weitere Betriebe, aber nicht solche, die die Umwelt und den Verkehr zu stark belasten. Dies sei durchaus steuerbar, so Bettel - über Subsidien und Hilfen zum Beispiel. Wachstum dürfe nicht auf Kosten der Lebensqualität gehen.

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