Interview mit Léon Gloden im Télécran "Schengen ist für mich eine Herzensangelegenheit"

Interview: Télécran (Martina Folscheid)

 

Télécran: Herr Minister, wie hat sich der Geist des Schengener Abkommens in den 40 Jahren seines Bestehens verändert?

Léon Gloden: Für mich persönlich ist Schengen eine Herzensangelegenheit. Ich bin überzeugter Europäer. Schengen und Europa haben mich mein ganzes Leben lang geprägt, weil ich ein Kind der Großregion bin. Seit 1980 wohne ich in Grevenmacher, ich gehöre zur letzten Generation, die noch das Bild der Zöllner an der Grenze vor Augen hat. Wenn ich heute meinen Kindern erzähle, dass wir früher, wenn wir nach Trier oder Metz fuhren, den Personalausweis einstecken und Luxemburger Franken in die jeweilige andere Währung wechseln mussten, dann gucken sie mich an, als würde ich aus dem Mittelalter stammen. Aber das fühlte sich schon so an, als würde man in Ferien fahren. Man hat sich nicht einfach mal aufs Rad gesetzt und ist über die Brücke gefahren. Und es ist auch etwas, das sehr konkret ist für die Menschen. Nicht nur für die 235.000 Pendler, die jeden Tag nach Luxemburg arbeiten kommen. Sondern Schengen ist weltweit bekannt, die Schilder mit dem Wort Schengen prangen einem an jedem internationalen Flughafen entgegen.

Télécran: Wie viel ist Schengen heute noch wert?

Léon Gloden: Man darf das Gefühl, das die Menschen für Schengen empfinden, nicht unterschätzen. Während der Covid-Pandemie zum Beispiel, da waren auch die Kontrollen an den Grenzen, die Bundespolizei stand schwerbewaffnet an den Grenzen, und es gab viele menschliche Schicksale. Aus meiner Zeit als Bürgermeister weiß ich von zwei Fällen, in denen ein Elternteil auf der deutschen beziehungsweise luxemburgischen Seite im Sterben lag, und ihre Kinder konnten in den letzten Stunden nicht bei ihren Eltern sein. Das prägt einen als Mensch und als Politiker. Auch daher rührt mein Engagement, die Kontrollen so schnell wie möglich zu beenden. Wir dürfen nicht mehr zulassen, dass Grenzen in den Köpfen der Menschen entstehen. Das ist meine größte Sorge. Je länger es dauert, desto größer wird die Gefahr, dass Grenzen wieder als normal empfunden werden.

Télécran: Hat das Schengener Abkommen denn Ihrer Meinung nach vor der 2015 einsetzenden Flüchtlingskrise so funktioniert, wie es soll?

Léon Gloden: Ja, das würde ich schon sagen. Und nun werden mindestens die 55.000 Pendler, die jeden Tag aus Deutschland nach Luxemburg arbeiten kommen, in ihrem Lebensrhythmus gestört, das sehen wir an den Reaktionen, die an die neue Mailadresse grenzkontrollen @gouvernement.lu adressiert sind. Ich habe von Betrieben gehört, die befürchten, dass der ein oder andere Mitarbeiter sich eine neue Beschäftigung in Deutschland sucht. Wenn nun auch Kontrollen an kleineren Übergängen wie zum Beispiel Wormeldingen stattfinden, dann ergibt dies ein Bild von einer Festung Europa, das wir an den Binnengrenzen nicht wollen. Ich sage immer ganz klar: Die Außengrenzen müssen effizienter kontrolliert werden.

Télécran: Wie soll man denn die Außengrenzen besser schützen?

Léon Gloden: Wir müssen zunächst mal die Instrumente, die vorhanden sind, stärker nutzen. Wir haben ein elektronisches System namens Schengen Information System, das SIS - wenn jedes Land erstens alle erforderlichen Daten eintragen und die Instrumente zur Kontrolle einsetzen würde, ob jemand illegal einreist oder ob jemand polizeilich gesucht wird, dann hätte man schon sehr viel erreicht. Aber einige Länder machen das nicht. Luxemburg hat in den letzten Jahren diesbezüglich viele Anstrengungen unternommen. Ein anderes Problem ist die Visafreiheit. Wenn zum Beispiel aus Südamerika Menschen nach Luxemburg kommen, weil sie kein Visum brauchen, und sobald sie den Findel verlassen haben, ein Asylgesuch stellen, dann ist das nicht Sinn und Zweck der Visafreiheit. Das ist eine Botschaft, die ich immer wieder im Europäischen Rat Justiz und Inneres, im "Conseil JAI", verkünde, langsam aber sicher merke ich, dass die Botschaft auch in anderen Ländern ankommt.

Télécran: Was halten Sie von dem geplanten Entry-/Exitsystem EES als Option, in Echtzeit auf den Aufenthaltsstatus und die Reisedaten von Drittstaatsangehörigen zugreifen zu können?

Léon Gloden: Wir sind bereit dafür, leider viele andere Länder noch nicht. Das System kann aber nur funktionieren, wenn jedes Land es einsetzt, sonst hat man einen Schweizer Käse. Es wird noch einige Monate bis zum Einsatz dauern, aber wir stehen in den Startlöchern, es gab schon ein paar Testläufe.

Télécran: Haben Sie schon mit dem neuen deutschen Innenminister Alexander Dobrindt über die Grenzkontrollen gesprochen?

Léon Gloden: Ja, ich habe mit ihm telefoniert und wir haben vereinbart, dass er mich sehr bald besuchen wird. Ich bin sicher, dass dies in den nächsten Wochen geschehen wird. Ich muss sagen, ich hatte immer ein gutes Verhältnis zu den deutschen Autoritäten wie zum Beispiel zur ehemaligen Innenministerin Nancy Faeser. Wir haben in vielen Themenbereichen sehr gut zusammengearbeitet, aber in diesem Punkt hatten wir gegensätzliche Meinungen. Für mich ist wichtig, die Grenzkontrollen so schnell wie möglich zu beenden und bis dahin Pendler so wenig wie möglich zu behindern. Besonders auf der Schengener Autobahn haben wir auch ein Sicherheitsproblem. Wenn es aufgrund der Kontrollen auf deutscher Seite in dem Tunnel, der sich ja auf der luxemburgischen Seite befindet, zurückstaut und dort mal ein Unfall passiert, wird sich die Frage der Verantwortung stellen.

Télécran: Sie hatten sich vom neuen deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz eine "Wende in diesem Politikbereich" erhofft, so zu lesen in einem Interview mit Euractiv. Waren Sie enttäuscht, dass erst mal das Gegenteil geplant ist?

Léon Gloden: Die deutsche Regierung hat ein innerdeutsches Problem: Sie muss sich zur AfD positionieren. Ich hatte gehofft, sie würde bei den Grenzkontrollen zurückrudern, aber ich stelle fest, dass das jetzt am Anfang mal nicht der Fall ist. Darum ist es umso wichtiger, dass wir im Dialog bleiben. Es wird ja oft gesagt, Luxemburg müsse Deutschland nun vor dem Europäischen Gerichtshof ansuchen. Aber das werden wir nicht tun. Deutschland ist ein Partner und ein Freund Luxemburgs und wir sind auch wirtschaftlich eng miteinander verbunden. Andererseits müssen wir unsere Position jedoch klar zum Ausdruck bringen. Darum bin ich auch in engem Kontakt mit den Bürgermeistern und den Innenministern aus dem Saarland und von Rheinland-Pfalz. Sie sind alle überzeugt, dass das nicht gut für unsere Region ist. Vor Kurzem hat mein Sohn zu mir gesagt, er müsse nun, wenn er mit seinen Freunden zum Beispiel nach Nittel mit dem Fahrrad fahre, den Personalausweis einstecken. Nur für diese kleine Fahrradtour. Allein dieser Reflex beweist schon, dass wir uns rückwärts bewegen. Europa soll attraktiver werden, auch für die Jugend. Es tut mir im Herzen weh, dass wir ein schlechtes Bei spiel abgeben. Wir sollen etwas, das wirklich konkret ist, das freie Bewegen innerhalb der EU, von der die Jugend profitieren kann, indem sie in Europa studiert, aufgeben und einen Personalausweis einstecken, wenn wir von Grevenmacher nach Nittel fahren. Das ist nicht gut.

Télécran: 2024 wurde das Migrationsrind Asylpaket auf EU-Ebene verabschiedet und es muss bis 2026 umgesetzt werden. Wie ist es um die Pläne für die Umsetzung bestellt?

Léon Gloden: Wir arbeiten sehr intensiv daran und haben 20 Beamte rekrutiert. Das ist schon ein Kraftakt. Aber wir sind da ganz gut unterwegs. Es ist nicht nur legislative Arbeit, es ist auch Infrastruktur-Arbeit. Wir müssen das Screening-Center aufbauen, in dem das erste Screening durchgeführt wird, das festlegt, ob man überhaupt einreisen darf oder nicht. Es ist eine Herausforderung, eine passende Infrastruktur zu finden, denn die Menschen kommen über unsere Außengrenze ins Land, und das ist der Flughafen. Das heißt, das Screening-Zentrum sollte sich schon in der Nähe des Flughafens befinden. Wir suchen gerade intensiv nach einem geeigneten Gelände beziehungsweise geeigneten Strukturen.

Télécran: Das Paket geht einigen Ländern nicht weit genug, sie überlegen, in Bereichen wie Handel oder Visapolitik Druck auf Drittstaaten zu machen, um Staaten zur Rücknahme ihrer Staatsbürger zu zwingen. Wie stehen Sie dazu?

Léon Gloden: In Luxemburg gibt es zwei rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen: Erstens müssen die Menschenrechte gewahrt bleiben, und zweitens die Rechte der Frauen und Kinder. Nun kann man schauen - da haben andere, größere Länder wie Deutschland mehr Mittel - den Drittstaaten etwas anzubieten. Darum sind entsprechende Verträge zwischen Europa und solchen Ländern sehr wichtig, an die wir uns dranhängen können. Wir müssen europäische Lösungen finden.

Télécran: Vor allem Kinder auf der Flucht sind im Fokus von Menschenrechtshütern. Sie befürchten, dass diese, eingesperrt in Auffanglagern, traumatisiert werden. Wie stellt sich die Situation in Luxemburg dar?

Léon Gloden: Ich war ja vor Kurzem auf Lampedusa und habe dort die Schiffe gesehen, mit denen die Flüchtlinge ankommen. Es kommt noch nicht mal mehr ein Schleuser mit. Der gibt einem Flücht ling hundert, zweihundert Euro und der erhält dann die Koordinaten, um Lampedusa anzusteuern. In dem Lager, das ich besuchte, waren ein Dutzend Kinder. Das zu sehen, ist herzzerreißend. Viele Nichtregierungsorganisationen sind vor Ort, und den Kindern muss man selbstverständlich irgendwie helfen. Und dennoch können wir nicht jeden aufnehmen. Darum sage ich immer: Wir müssen eine Asylpolitik mit Herz und Verstand machen. Natürlich, wenn man das abstrakt betrachtet, würde man am liebsten jeden aufnehmen. Aber dafür fehlt uns der Platz.

Télécran: Sie sind seit gut anderthalb Jahren im Amt. Wie lautet Ihre bisherige persönliche Bilanz als Innenminister?

Léon Gloden: Ich glaube, wir haben schon vieles umgesetzt. Anfangs gab es ja sehr viele Diskussionen rund um das Bettelverbot. Ich will nicht mehr darauf zurückkommen. Aber ich stelle in Gesprächen mit den Bürgern oft fest, dass viele es richtig fanden, gegen aggressive Bettelei vorzugehen. Und die Effekte sind sichtbar: Wir haben heute fast keine aggressive Bettelei mehr...

Télécran: Würden Sie denn rückblickend sagen, Sie hätten beim geforderten Verbot der organisierten Bettelei mehr Fingerspitzengefühl an den Tag legen müssen?

Léon Gloden: Man hätte vielleicht besser kommunizieren können. Aber das ist eben in der Politik so. Ihnen wird ein Amt übertragen, Sie übernehmen ein Dossier. Ich habe ja nicht mit dem Vorsatz mein Amt als Innenminister aufgenommen, als erstes das Bettel verbot in Angriff zu nehmen. Ich habe gar nicht mal daran gedacht. Aber da eine juristische Prozedur im Gange war, habe ich mir das Dossier angeschaut und so entschieden, wie ich entschieden habe.

Télécran: Wie bilanzieren Sie darüber hinaus?

Léon Gloden: Ich setze das um, was hinsichtlich des Regierungsprogramms in meinen Kompetenzen liegt, darunter die Stärkung des Sicherheitsgefühls. Wir haben in den letzten Jahren massiv rekrutiert und die Polizei wieder näher an die Bürger gebracht, nicht nur durch die Police locale. Wir müssen weitere Anstrengungen in der Drogenbekämpfung machen. Bei der Sécurité civile ist der Aspekt der Resilienz ganz wichtig, wir haben gestern (am 19. Mai, Anm. d. R.) den neuen nationalen Notfalleinsatzplan bei extremen Wetterbedingungen vorgestellt. Darüber hinaus ist mir wichtig, ein Partner der Gemeinden zu sein. Dies war in meinen Augen vorher etwas verloren gegangen. Man muss die Sensibilität haben - und die hat man, wenn man über zwölf Jahre Bürgermeister war -, um zu spüren, wo der Schuh drückt. Das sind natürlich an erster Stelle immer die Finanzen, da gibt es eine ganze Reihe von Reformen, um den Gemeinden finanziell mehr Mittel an die Hand zu geben. Aber auch die "simplification administrative" ist wichtig: Wir ersticken in den Prozeduren, wir ersticken in den Normen. Und da haben wir ja schon einiges in die Wege geleitet, unter anderem mit der "silence vaut accord"...

Télécran: Sie verantworten die vier Bereiche Polizei, Immigration, Feuerwehr und Gemeinden. Ist es schwer, alles unter einen Hut zu bekommen?

Léon Gloden: Das ist es, was die Sache auch so spannend macht. Ich sage immer: Wenn Sie morgens hierhin kommen, wissen Sie nicht, was Sie den ganzen Tag erwartet. Das macht es so heraus fordernd. Man muss ständig hin- und herpendeln. Es kann sein, dass ich innerhalb von einer Stunde Entscheidungen in allen vier Bereichen treffe.

Télécran: Da muss man den Überblick bewahren...

Léon Gloden: Sie müssen immer einen klaren Blick bewahren. Ich denke, man kann schon sagen, dass ich ein Decision-Maker bin. Ich treffe Entscheidungen, und wer das tut, muss in Kauf nehmen, dass sie vielleicht nicht jedem gefallen. Aber die Bürger erwarten von dieser Regierung, dass es voran geht. Das ist die Vorgabe, daran halte ich mich, darum bin ich in die Regierung gekommen.

Télécran: Sehen Sie sich also als jemand, der Mut zum Tacheles-Reden hat?

Léon Gloden: Das war immer meine Art. Vorher war ich Anwalt, auch kein Job, um die Samthandschuhe auszupacken. Ich war Bürgermeister, ich war in der Chamber, ich habe 23 Jahre das alles zusammen gemacht. Ich bin eben jemand, der seine Meinung sagt, und dann muss man in Kauf nehmen, dass man auch aneckt. Andererseits: Man hört immer nur die, die sich beschweren und meckern.

Es gibt auch viele, das habe ich beim Bettelverbot gemerkt, die mir gesagt haben, dass mit mir endlich jemand das Amt innehabe, der etwas unternimmt. Denn die Situation in der Stadt war zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr tragbar. Und ich bin der Meinung, dass man sich im öffentlichen Raum mit Respekt begegnen sollte. Es ist nicht normal, wenn im öffentlichen Raum jemand gegen eine Hausfassade uriniert, wenn Leute sich mit bellenden Hunden und die Musik voll aufgedreht auf einem Platz aufhalten. Sodass Familien mit kleinen Kindern nicht mehr dorthin gehen wollen. Das ist nicht mein Verständnis von Demokratie in der Öffentlichkeit. Darum setzen wir die entsprechenden Maßnahmen um. Und da sind wir beim "Platz verweis renforcé". Ich sage Ihnen, der "Platzverweis renforcé" kommt. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Morgen (am 21. Mai, Anm. d. R.) gehe ich in die Kommission, da wird es eine Reihe von Überarbeitungen geben, aber der Platzverweis kommt.

Télécran: Wie fühlen Sie sich denn angesichts Kritik von zum Beispiel der Menschenrechtskommission an eben diesem Gesetzesprojekt?

Léon Gloden: Wir haben nun eine Reihe von Punkten abgeändert. Aber wir leben in einem Rechtsstaat. Auf der einen Seite sind das gewählte Volksvertreter, auf der anderen Seite sind es vereidigte Beamte. Natürlich kann immer jemand eine falsche Entscheidung treffen, aber genauso verhält es sich in der Privatwirtschaft. Wenn man immer nur zuerst einen möglichen Missbrauch oder das Risiko einer Fehlentscheidung hin und her wendet, dann kommt man nicht voran. Ich habe ein klares Ziel, die Regierung hat ein klares Ziel, und das peile ich an mit dem entsprechenden Weg von Entscheidungen. Und mit den Kritiken muss man zurechtkommen, sie sind mal objektiver, mal subjektiver. Das ist ebenso. Ich habe einen breiten Rücken und ich stehe zu meinen Entscheidungen.

Télécran: Herr Minister, ich danke Ihnen für das Gespräch.