Von "core defense" und Resilienz

Interview mit Yuriko Backes im Tageblatt

Interview: Tageblatt (Stefan Kunzmann, Julian Dörr)

Tageblatt: Frau Ministerin, Sie haben schon mehrmals von einem Paradigmenwechsel in der internationalen Sicherheitspolitik gesprochen. Welche Rolle kommt Luxemburg bei der Umsetzung der kollektiven Verteidigung der NATO zu?

Yuriko Backes: Luxemburg muss seine Rolle spielen in der Verteidigungsallianz. Die Zeiten der Friedensdividende sind zu Ende. Wir haben 80 Jahre in Frieden gelebt. Nun stehen wir einer Bedrohung gegenüber. In den vergangenen Jahren wurde auf politischer und militärischer Ebene analysiert, wie sich die NATO gegen diese Bedrohung, die vor allem von Russland ausgeht, verteidigen kann. Innerhalb des Bündnisses gilt das Prinzip eines "fair burdensharing", einer gerechten Lastenverteilung — und das Prinzip des "reasonable effort", des angemessenen Auf wands. Nun den Kopf in den Sand zu stecken, sowohl als Bündnis als auch als einzelnes Land, und zu warten, bis diese Bedrohung vorüber ist, wäre völlig unverantwortlich. Wir sind Teil des Verteidigungsbündnisses und werden unseren Teil dazu beitragen. Dafür ist es wichtig, dass wir gut aufgestellt sind. Was wir wollen, ist Frieden - und dafür müssen wir in unsere Verteidigung investieren.

Das hat einen Preis. Mich deshalb als "Kriegstreiberin" hinzustellen, finde ich überhaupt nicht witzig.

Beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister Anfang Juni ging es um die Fähigkeitsziele der einzelnen Länder, um die kollektive Abschreckung und Verteidigung zu garantieren. Dazu gehört der Aufbau eines binationalen belgisch-luxemburgischen Kampfaufklärungsbataillons.

Tageblatt: Wie und wann wird er einsatzbereit sein?

Yuriko Backes: Das Bataillon ist ein NATO Ziel von 2021, also dem vorigen Planungszyklus der NATO. Beide Partner arbeiten aktiv daran.

Es hat verschiedene Dimensionen. Zum einen müssen wir rekrutieren, um das Bataillon 50 zu 50 aufzustellen: 350 Soldatinnen und Soldaten aus Luxemburg und genauso viele aus Belgien. Außerdem müssen wir in eine andere Art von Fahrzeugen investieren.

Dafür haben wir schon ein Gesetz für die Ausgaben von 2,6 Milliarden Euro verabschiedet. Hinzu kommt, dass in eine Reihe von Infrastrukturen investiert wird, etwa in Sassenheim, wo die Fahrzeuge instandgehalten werden.

Hauptsitz des belgisch-luxemburgischen Bataillons wird in Arlon sein. Das Bataillon soll für 2028/30 stehen, was eine Herausforderung ist — aber wir arbeiten auf beiden Seiten, auf der belgischen wie auch auf der luxemburgischen, daran.

Tageblatt: Zu den neuen Fähigkeitszielen gehört auch die Luft- und Raketenabwehr. Wie kann man sich diese vorstellen: Werden hierzulande Flakgeschütze aufgestellt, oder an einem anderen Punkt im Bündnisgebiet, die dann von luxemburgischen Soldaten bedient werden?

Yuriko Backes: Wir wurden gebeten, zwei Systeme für die NATO zur Verfügung zu stellen, mit denen wir operieren können. Das eine ist eine bodengebundene Luftverteidigung auf kurze Distanz, wenn uns ein Flugzeug oder eine Drohne angreift. Das andere ist eher die Abwehr von ballistischen Raketen, die aus größerer Distanz kommen.

Letzteres System ist entsprechend teurer. Es ist zum einen für unsere eigene Verteidigung wichtig, kann aber, wenn es etwa an der NATO-Außengrenze gebraucht wird, auch dorthin verlegt werden. Für mich ist es eine Lehre aus dem Ukraine-Krieg, dass Luftverteidigung und Drohnen extrem wichtig sind. Wir haben bisher damit noch keine Erfahrung.

Tageblatt: Geht es nicht auch darum, Drohnen hier im Land herzustellen? Müssten dafür nicht die aktuellen Gesetze überarbeitet werden? Und was ist der "retour économique" dabei?

Yuriko Backes: Schon heute werden in Luxemburg Drohnen produziert. Diese sind aber unbewaffnet bei der Auslieferung. Was die neuen Ziele angeht, müssen wir uns weiterentwickeln und kurzfristig neben unseren Observationsdrohnen auch sogenannte Loitering-Munition - also Lenkwaffen - beschaffen. In einer zweiten Phase sollen wir ebenfalls eine Einheit mit kleinen bewaffneten Drohnen aufstellen. Dabei handelt es sich auch um eine Lehre aus dem Ukraine-Krieg. Die technische Evolution ist dabei so rasant in diesem Bereich, dass sich die mittel- und langfristige Entwicklung nur schwer voraussagen lässt.

Was den "retour économique" angeht, müssen wir die in Luxemburg ansässigen Firmen in die internationalen Lieferketten integrieren. Das nationale Ökosystem der im Verteidigungsbereich aktiven Unternehmen hat sich über die letzten Jahre stark entwickelt.

Wir als Regierung schließen die Produktion von rein militärischem Equipment hierzulande nicht aus. Auf der einen Seite arbeiten wir mit den anderen Ministerien wie etwa dem Außen-, dem Forschungs- oder dem Wirtschaftsministerium zusammen.

Dazu kommt eine separate Arbeitsgruppe, die zurzeit analysiert, ob Änderungen im Waffengesetz nötig sind. Um unsere Ziele zu erreichen, sprechen wir schon heute mit der Industrie darüber, um zu klären, welche Systeme wir kaufen und mit welchem Partner wir zusammenarbeiten. Vieles kaufen wir im Ausland, aber wenn wir hierzulande etwas produzieren können, wenn unsere Unternehmen Teil der Lieferkette sein können, dann sollten wir dies auch fördern. Es geht schließlich auch darum, dass wir hierzulande unter anderem Arbeitsplätze schaffen.

Tageblatt: Inwiefern ist das militärische Material, sind die Neuinvestitionen, die vergangenes Jahr vorgestellt wurden, etwa die 38 Aufklärungs- und Kampffahrzeuge vom Typ Jaguar EBRC, die 16 Radfahrzeuge Griffon VBMR und die fünf gepanzerten Serval im Kontext der neuen Ziele einzuordnen?

Yuriko Backes: Das ist alles komplementär. Es handelt sich dabei um Material, das auf dem Terrain eingesetzt wird, im Rahmen des binationalen Kampfaufklärungsbataillons. Verbunden mit der Botschaft an den militärischen Gegner, dass wir alle zusammen besser aufgestellt sind - denn Frankreich und Belgien nutzen die gleichen Fahrzeuge, sodass die Interoperabilität garantiert ist.

Tageblatt: Die bisherige luxemburgische Rüstungsindustrie war, wie Sie bereits andeuteten, auf "dual use" ausgerichtet. Dies scheint passé. Wie verbindet sich das mit der neuen 5-Prozent Vorgabe der NATO, dass jedes Land 3,5 Prozent des BIP für die direkte Verteidigung und 1,5 Prozent für Infrastruktur ausgibt?

Yuriko Backes: Die 3,5 Prozent sind wirklich "core defense", bei den 1,5 Prozent sind wir mehr in der Resilienz. Bei des ist laut dem Ergebnis des Gipfels von Den Haag wichtig. Auch sie sind komplementär. Wenn wir uns als Allianz verteidigen wollen, werden die 3,5 Prozent benötigt. Sie sind nicht einfach aus der Luft gegriffen, sondern das Ergebnis von Berechnungen, was wir als Allianz brauchen und was das insgesamt kostet. Aber wir wollen nicht in eine Rüstungsspirale geraten. Das ist absolut nicht das Ziel. Wir wollen auch auf anderen nationalen Pisten weiter arbeiten. Das ist etwa im Bereich Weltraum, so auch bei Satelliten, aber auch im Cyberbereich der Fall. In den Bereichen hat Luxemburg einen signifikanten Mehrwert, auch darin müssen wir weiter investieren.

Tageblatt: Gehört das Militärhospital zu den 3,5 oder zu den 1,5 Prozent?

Yuriko Backes: Das gehört in die "Core Defense".

Das Hospital muss verlegbar sein und an der Front aufgebaut werden können, damit etwa zehn Kilometer von dort entfernt Verletzungen behandelt werden können.

Tageblatt: Also eine Art mobiles Feldlazarett.

Yuriko Backes: Ja. Bei schwereren Verletzungen werden die Soldaten in eine andere Struktur verlegt. Es ist aber auch "dual use", denn wenn wir eine Katastrophe hierzulande haben, können wir es auch hier aufstellen.

Tageblatt: All diese Pläne brauchen Personal. Es müssen Soldaten rekrutiert werden. Sollte die Werbetrommel stärker gerührt werden, um die Armee attraktiver zu machen?

Yuriko Backes: Das ist eine strategische Priorität.

An dieser Frage arbeiten wir schon länger. Ein Dauerthema, auch bei meinen Kolleginnen und Kollegen, den Verteidigungsministern unserer NATO-Partner. Wir werden alle rekrutieren müssen. Eine gut aufgestellte Armee zu haben, ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Die Verteidigung ist eine grundlegende Funktion unseres Staates. Es geht um den Schutz unseres Territoriums, unserer Demokratie, von Freiheit und Frieden - zusammen mit unseren Alliierten. Das ist keine Funktion, die wir outsourcen können, und wir können es auch nicht auf die lange Bank schieben. Wir sind dabei, einen Aktionsplan auszuarbeiten.

Das betrifft viele Felder. Wenn wir attraktiv sein wollen, brauchen wir die nötigen Infrastrukturen. Da sind schon eine Reihe Gesetze gestimmt worden: das Munitionsdepot auf "Waldhaff", der Schießstand "Bleesdall". Auch die Kasernen auf dem Herrenberg werden modernisiert.

Wir müssen stärker vor Ort präsent sein, insbesondere dort, wo wir junge Leute antreffen. Wir sind aktiv auf den sozialen Medien.

Wir sehen an den Besucherzahlen bei den "Defence Open Air Days" oder beim Tag der offenen Tür der Armee, dass das Interesse in der Gesellschaft für die Armee da ist.

Es gibt mehr Respekt auch für den Beruf des Soldaten. Sein Leben für sein Land aufs Spiel zu setzen, das ist eine ehrwürdige Aufgabe. Ich habe die Armee gebeten, "Summer Camps" für junge Menschen zu organisieren. Das Erste war in der vergangenen Woche, wir hatten viel mehr Anfragen, als wir Plätze hatten. Eine Woche Boot-Camp, wo Jungen und Mädchen verschiedene Dinge lernen, von erster Hilfe bis zu: Wie geht man mit Maschinengewehren um. Ich war auch einen Abend da und bin ganz begeistert von den Fragen, die sie haben, die sie sich selbst stellen.

Tageblatt: Wie sieht es mit einer Diskussion um eine Wehrpflicht aus?

Yuriko Backes: Der obligatorische Militärdienst wurde 1967 abgeschafft und der wird auch nicht mehr eingeführt.

Wichtig waren auch immer Perspektiven für die Zeit danach.

Auf der einen Seiten gibt es Offizierskarrieren, aber auch einfache Soldaten brauchen eine Perspektive für später. Früher konnte man nach der Armee zur Polizei oder zur Post gehen.

Das gibt es heute auch. Aber das sind Sachen, die wir weiter ausbauen müssen. Dass jemand nach seiner Zeit als Soldat verschiedene Weiterbildungen angeboten bekommt, Examen und Abschlüsse nachholen kann. Da müssen wir uns anders aufstellen, um die Armee zu einem attraktiveren Arbeitgeber zu machen.

Tageblatt: Zur Attraktivität eines Arbeitgebers zählt auch der Lohn, den er zahlt. Der Sold von Soldaten liegt unter dem unqualifizierten Mindestlohn, wird aufgestockt, unter anderem durch Essensprämien, die nicht ausgezahlt werden. Ist das noch zeitgemäß oder muss man auch dort reformieren?

Yuriko Backes: Nein und ja. Nein, das ist nicht mehr zeitgemäß, und ja, das ist einer der Punkte, an denen wir nachbessern müssen. Auch das ist Teil des Aktionsplans. Wir werden die internen Arbeiten schnell abschließen und die nötigen Gespräche führen. Für mich ist das absolut unverzichtbar, sonst kommen wir nicht weiter.

Tageblatt: Muss sich die Armee auch von Ihrer Mentalität ändern? Sie steht für Hierarchie, für Befehlsempfang. Ist das noch zeitgemäß?

Yuriko Backes: Politische Entscheidungen werden auf der Ebene der Regierung getroffen. Um eine Armee zu leiten, braucht man natürlich eine Hierarchie, in der Befehle erteilt werden. Es ist schon ein spezieller Beruf. Aber auch der muss sich dem veränderten Kontext anpassen. Veränderung wird auch für die Armee kommen. Mit anderen Ausbildungen, mit neuer Expertise.

Auch um die neuen NATO-Ziele zu erfüllen, in denen wir heute noch keine Expertise haben. Auch die Verteidigungsdirektion wird sich neu aufstellen müssen - mit mehr Leuten, mit anderer Expertise. Da sind wir schon bei einer Transformation der Armee.

Tageblatt: Muss auch die Offiziersausbildung modernisiert werden?

Yuriko Backes: Wir müssen alles ein bisschen überdenken. Auch die verschiedenen Karrieren, und wie man sie attraktiver machen kann. Die Offiziersausbildung findet jedoch nicht in Luxemburg statt, sondern in Frankreich und Belgien. Wir stellen deshalb keine eigenen Programme auf, sondern sind Teil von anderen.

Tageblatt: In Luxemburg stellt sich die Frage nicht, aber in Deutschland wird zum Beispiel darüber diskutiert: Wenn eine Wehrpflicht eingeführt wird, muss sie dann für Männer und Frauen gelten? Wie ist Ihre Position dazu?

Yuriko Backes: Da kann ich nur für mich persönlich sprechen. Ich bin der Meinung, dass Männer und Frauen gleich behandelt werden sollen. Wir brauchen auch Frauenpower. Wir reden heute nicht mehr nur von körperlicher Kraft. Wir sind nicht mehr auf Pferden unterwegs und kämpfen mit Säbeln. Jedes Team, ob in einem Unternehmen oder bei der Armee, ist besser aufgestellt, wenn es diverser aufgestellt ist.

Tageblatt: Wenn man das zivile Personal mit einrechnet, beträgt der Frauenanteil bei der Armee aktuell zwölf Prozent. Soll der Anteil erhöht werden?

Yuriko Backes: Absolut. Rein militärisch liegen wir zwischen sieben und acht Prozent. Deshalb richten wir uns mit unseren Kommunikationskampagnen auch sprachlich bewusst an Männer und Frauen. Auch bei den eben erwähnten "Summer Camps" waren Mädchen dabei.

Das ist extrem wichtig.