Interview von Jean Asselborn im Spiegel online

"Was Erdogan macht, hat nichts mit Selbstverteidigung zu tun"

SPIEGEL ONLINE: Herr Asselborn, nach zwei Monaten Kampf haben türkische Truppen die Stadt Afrin in Nordsyrien eingenommen. Wie hat sich die Lage für die Menschen dort jetzt verändert?

Jean Asselborn: Zehntausende Menschen sind seit Beginn der türkischen Offensive auf der Flucht, fast 300 zivile Opfer sind zu beklagen. Eine zusätzliche Tragödie auf syrischem Territorium. Die Stadt Afrin wurde mit schweren Waffen angegriffen und eingenommen, obwohl die Uno zuvor eine Waffenruhe vereinbart hatte. Aber der türkische Präsident Erdogan fühlt sich nicht daran gebunden.

SPIEGEL ONLINE: Erdogan beruft sich auf das Recht auf Selbstverteidigung, das jedem Uno-Mitglied laut Artikel 51 der Charta zustehe.

Jean Asselborn: Das hat nichts mehr mit Selbstverteidigung zu tun. Die Grenzen Syriens zur Türkei sind hermetisch abgeriegelt. Ein Streifen von mehr als 20 Kilometern auf syrischem Territorium wird von der türkischen Armee kontrolliert. Wo also liegt die Gefahr für die Türkei? Wenn Ankara vom Kampf gegen Terroristen spricht, ist das ein Totschlagargument. Es darf nicht als Freifahrtschein benutzt werden, das Territorium eines Nachbarlandes militärisch anzugreifen - schon gar nicht von einem Nato-Land.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben in einem Brief an Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gefordert, dass der Nordatlantikrat sich mit der türkischen Militäroffensive gegen die Kurden in Nordsyrien befassen soll. Kann die Nato den türkischen Vormarsch stoppen?

Jean Asselborn: Die Nato ist nicht der Oberbefehlshaber von Präsident Erdogan. Aber sie ist eine Wertegemeinschaft, und als solche sollten wir den Machthabern in Ankara die Frage stellen, wie sie begründen, dass sich diese Operation noch immer auf Artikel 51 der Uno-Charta gründet. Ich habe da größte Zweifel.

SPIEGEL ONLINE: Was erwarten Sie?

Jean Asselborn: Die Türkei muss im Nato-Rat ihre Pläne und Vorgehensweise offenlegen. Afrin ist eingenommen. Und nun? Geht es jetzt weiter Richtung Osten, tiefer nach Syrien hinein? Will die Türkei Afrin besetzt halten?

SPIEGEL ONLINE: US-Präsident Donald Trump hat die Türkei aufgerufen, das gemeinsame Ziel der internationalen Gemeinschaft, den "Islamischen Staat" zu besiegen, nicht zu torpedieren.

Jean Asselborn: Es fällt mir nicht leicht, dies zu sagen, aber: Trump hat recht. Die Nato ist als Organisation Mitglied der internationalen Koalition gegen den "Islamischen Staat". Die kurdische Miliz YPG hat diesen Kampf unterstützt und den IS-Terroristen empfindliche Niederlagen beigebracht. Dieser Kampf hat nicht nur Priorität, es ist ausdrücklich das einzige Ziel der internationalen Koalition, diese Barbaren mit Waffengewalt zu stoppen. Es darf nicht sein, dass in diesem vom Krieg gezeichneten Land eine Kurdenorganisation wie die YPG, die weder in Europa, noch in Amerika oder von der Uno als Terrororganisationen eingestuft wird, zum Todfeind erklärt wird. Auch die Türkei hat sich an die Uno-Resolution und die Waffenruhe zu halten. Sie gilt für ganz Syrien.

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