Interview von Jean Asselborn im Deutschlandfunk

"Kein Sauerstoff mehr für Demokratie in der Türkei"

 

Interview: Deutschlandfunk.de (Jörg Münchenberg)

Deutschlandfunk.de: Auch in schwierigen Zeiten im Gespräch bleiben, so könnte man die Einstellung der EU-Spitzen wohl am besten umschreiben, die sich aufgemacht haben in den bulgarischen Küstenort Warna. Das Thema: Der EU-Türkei-Gipfel. Herr Asselborn, einen schönen guten Morgen.

Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr Münchenberg.

Deutschlandfunk.de: Herr Asselborn, es soll ja eine ehrliche und offene Debatte geben. So hat es EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker angekündigt. Was heißt das Ihrer Ansicht nach, zum Beispiel bezogen auf den Einmarsch der Türkei in das syrische Afrin?

Asselborn: Zuerst: Gespräche müssen ja möglich sein. Das ist keine Extravaganz. Die Diplomatie lebt davon und es kann ja nicht nur geschossen werden auf der Welt.

Natürlich, wenn Sie Afrin ansprechen: Ich glaube, das Erste, was die Europäische Union Präsident Erdogan sagen muss, dass A das Argument, diese Operation zu unternehmen, sehr, sehr wackelig ist. Die Türkei hat angegeben, 700 Mal hätten Bomben eingeschlagen in den Grenzstädten. De facto geht man davon aus, dass einige Granaten, ein Dutzend Granaten herübergekommen sind, und aufgrund von diesem Argument wurde dann Artikel 51 der UNO-Charta aktiviert - Selbstverteidigung und Terrorismusbekämpfung. Es ist eine totale Disproportionierung. Das, glaube ich, muss man klar sagen. Es sind jetzt 300 zivile Opfer in der Gegend von Afrin. Es sind 250.000 Flüchtlinge und 100.000 Menschen mussten in die Nachbargebiete, also die Gebiete, die von Assad kontrolliert werden, fliehen. Das Internationale Rote Kreuz, Herr Maurer sagt, dass die Lage für die Flüchtlinge sehr, sehr schlimm ist und dass auch der Türkische Halbmond eigentlich nicht geeignet ist, um diese humanitäre Hilfe dort hinzubringen. Es ist eine große Diskrepanz zwischen dem Argument und dann den Fakten.

Deutschlandfunk.de: Aber muss deswegen nicht genau die EU viel mehr Druck auf die Türkei, immerhin ein NATO-Mitglied, ausüben?

Asselborn: Ja. Ich persönlich habe einen Brief an die NATO geschrieben und gefragt, was ist das Ziel der Türkei. Ich glaube, Sie sagen das richtig. Die Türkei kämpft ja nicht nur mit türkischen Soldaten, sondern mit dieser Free Syrian Army, und in dieser Free Syrian Army sind sehr, sehr viele Islamisten. Was ist das Ziel? Es kommen Gedanken auf wie zum Beispiel, dass die Türkei ein Ziel hat, an dieser ganzen Grenze die Kurden, sagen wir mal, zu vertreiben, sie auszuradieren, oder dass vielleicht in diesem Gebiet dann später die Türkei Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln will, sich ein Stück abschneiden von Syrien. All das kommt natürlich in der Logik der Folge, wenn man sieht, was die Türkei unternimmt, und ich glaube, dass als NATO-Land wir auch in der NATO, nicht nur in der Europäischen Union insistieren müssen darauf, dass der Plan der Türkei vorgelegt wird.

"Es geht darum, dass Schulen gebaut werden"

Deutschlandfunk.de: Aber, Herr Asselborn, was heißt das konkret jetzt für die Europäische Union? Wie muss sie heute im bulgarischen Warna auftreten? Denkbar wäre ja zum Beispiel, dass man Druck ausübt, indem man sagt, man setzt die Milliarden-Zahlungen im Zuge des Flüchtlingsdeals erst mal aus.

Asselborn: Ich glaube, das ist keine gute Idee. Die UNO, der Generalsekretär der UNO hat das immer gesagt, und ich glaube das. Er war ja vorher Flüchtlingskommissar. Die Türkei hat in einem sehr, sehr kruzialen Moment sehr viel getan für die syrischen Flüchtlinge. Sie hat mehr als drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Ich glaube, das soll man immer auch als positiven Punkt hervorstreichen. Und dass wir als Europäische Union finanziell helfen, nicht Geld, nicht Milliarden in die Kasse von der türkischen Regierung stecken, sondern projektbezogen. Man hat das ja schon ein paar Mal gesagt und ich muss es wiederholen. Es geht darum, dass Schulen gebaut werden, dass Krankenhäuser gebaut werden, dass die Kinder der syrischen Flüchtlinge lernen können und so weiter. Das ist die Aufgabe, die die Europäische Union machen muss gegenüber den syrischen Flüchtlingen in der Türkei, nicht gegenüber der türkischen Regierung.

Deutschlandfunk.de: Wie kann dann die EU heute Druck ausüben, gerade in Bezug auf Afrin?

Asselborn: Ich glaube, der Druck, der ausgeübt werden muss von der Europäischen Union, muss die Klarheit sein. Es ist nicht zu verantworten, dass Artikel 51, die Selbstverteidigung, da noch zählt. Und es muss ganz klar gesagt werden, was ist ihr Ziel. Es sind 300 Menschen, ich sage es noch einmal, Zivilisten, gestorben. Es gibt Hunderttausende Flüchtlinge. Was ist der Plan der Türkei in dieser Frage? Und ich glaube, auch das Zusammenspiel, was da stattfindet - zum Beispiel Erdogan redet jetzt nicht mehr davon, weiter nach Manjib zu gehen, vielleicht sogar, was er einen Moment gesagt hat, östlich über den Euphrat. All das muss ja ein Ziel haben. Das Ziel kann ja nicht sein, dass ein paar Granaten aus dieser Region irgendwo in der Türkei oder an der Grenze der Türkei eingeschlagen sind. Das ist, glaube ich, eine kapitale Frage, die auch von der Europäischen Union und auch, glaube ich, stärker von der NATO gestellt werden muss. Die Türkei ist ein wichtiges Land der NATO. Aber es kann ja nicht sein, dass mit Islamisten, auch mit der Hilfe von Islamisten Operationen legitimiert werden, wo ein Land, die Türkei, ein anderes Land, Syrien, einen Teil davon okkupiert mit Argumenten, die nicht zu verteidigen sind im Verhältnis zum internationalen Recht.

"Das Schlimmste in der Türkei ist die Menschenrechtslage "

Deutschlandfunk.de: Herr Asselborn, nun ist das ja nur ein Konflikt. Es gibt aber auch viele andere Streitpunkte zwischen der EU und der Türkei, zum Beispiel mit Zypern. Da geht es um Gasvorkommen. Da will die Türkei mitreden. Es gibt Spannungen mit Griechenland wegen der Inhaftierung griechischer Grenzbeamter. Von den innenpolitischen Repressionen jetzt in der Türkei mal ganz zu schweigen. Lügt sich die EU da nicht selbst ein bisschen in die Tasche, wenn es um das Verhältnis zur Türkei geht?

Asselborn: Ich kann mich an die Zeit erinnern, 2005, als wir diese Aufbruchsstimmung hatten und einzig das Ziel hatten, eine europäische Türkei zu einer europäischen Türkei zu verhelfen, und eine Europäische Union mit der Türkei wäre natürlich strategisch gesehen ein sehr großer Vorteil. Das war das Ziel. Das war ein nobles Ziel. Aber man hat gesehen, das muss man auch, glaube ich, ganz klar festhalten, dass nach diesem Pakt – ich glaube, das war 2012 -, dass da in Istanbul Erdogan total gedreht hat und dass natürlich das, was vor zwei Jahren geschehen ist oder vor anderthalb Jahren geschehen ist mit dem Attentat, hat natürlich das alles verschlimmert. Für mich ist nicht das Schlimmste jetzt, was in Zypern geschieht, obschon man sicher sagen kann, das ist im Südosten Zyperns und das ist eine Methode, wenn hier Bohrungen gemacht werden, um Erdgas zu finden in den südzypriotischen Gewässern, dass dann ein Manöver stattfindet, Militäroperationen, um das zu verhindern. Das ist schon eine Einstellung, die wirklich krampfhaft zu verstehen ist. Aber das Schlimmste, Herr Münchenberg, in der Türkei ist wirklich die Menschenrechtslage und die Türkei ist ein Land, das in dieser Frage erstickt. Es ist kein Sauerstoff mehr für die Demokratie in der Türkei. Das ist das Schlimmste.

Deutschlandfunk.de: Aber, Herr Asselborn, was heißt das alles für die Europäische Union? Es gibt ja offiziell noch immer die Beitrittsgespräche. Es gibt Streit um das Visa-Abkommen. Es geht um die Erweiterung des Zollabkommens, was die Türkei fordert. Muss Europa sich da jetzt auch nicht mehr in diesen Punkten klar positionieren?

Asselborn: Doch! Ich glaube, dass Klarheit, absolute Klarheit wichtig ist. Es gibt keine Entkrampfung. Es gibt keine Hoffnung für die Türkei, natürlich auch nicht für uns, wenn die Lage der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in der Türkei, wenn die sich nicht ändert.

Deutschlandfunk.de: Also auch offizielles Ende der Beitrittsgespräche? Würden Sie dafür plädieren?

Asselborn: Nein! Ich glaube, das haben wir schon ein paar Mal gesagt, auch aus der Europäischen Union. Das ist ein Prozess. Zur Zeit wird null Komma null verhandelt. Aber es ist ein Prozess, der vielen Menschen in der Türkei, ich glaube mehr als die Hälfte der Bevölkerung, trotzdem ein Geländer bleibt, eine Hoffnung bleibt, wenn in der Türkei sich etwas ändert, sagen wir mal innenpolitisch, dass dann die Europäische Union bereitsteht und bereitstehen muss, um diesen Menschen eine Chance zu geben, wieder in die Demokratie zu kommen. Ich glaube, dass sogar Präsident Erdogan das will, dass wir abbrechen. Es gibt ein Land in der Europäischen Union, was das will. Alle anderen, genau wie die Kommission, wollen das nicht. Und wie gesagt, der richtige Weg, dass wir für die Zivilbevölkerung in der Türkei, die noch an die Demokratie glaubt und an Europa glaubt, dass wir diesen Schritt nicht tun.

"Der politische Druck ist sehr groß"

Deutschlandfunk.de: Herr Asselborn, ich muss Sie noch zu einem anderen Thema etwas ganz kurz fragen. Der frühere Regionalpräsident von Katalonien, Puigdemont, ist in Deutschland verhaftet worden. Sollte der frühere Regionalpräsident jetzt ausgeliefert werden an Spanien?

Asselborn: Ich glaube, hier sind wir auf der Ebene der Justiz, nicht auf der Ebene von politischen Entscheidungen. Die spanische Justiz hat europaweit gefragt um eine Auslieferung. Es ist jetzt an den zuständigen Instanzen in Deutschland, das zu entscheiden. Natürlich: Der politische Druck ist sehr groß. Aber lassen wir uns hier nicht auf die politische Schiene drücken, sondern bleiben wir auf der Schiene der deutschen Justiz, wo ich volles Vertrauen drin habe.

Deutschlandfunk.de: War das klug, Puigdemont zu verhaften?

Asselborn: Wissen Sie, ob es klug ist oder unklug ist, wenn jemand europäisch gesucht wird von Europol, dann glaube ich ja. Die Polizei ist ja nicht da, um Augen zuzudrücken, sondern um ihre Arbeit zu tun, und ich glaube, hier hat sie ihre Arbeit gemacht. Und dann die Folge, das sind Richter, das sind Menschen, die etwas von Recht kennen, die dann entscheiden.

Deutschlandfunk.de: Der Außenminister von Luxemburg, Jean Asselborn, heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Asselborn, vielen Dank für das Gespräch.

Asselborn: Bitte, Herr Münchenberg.

 

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