Interview von Jean Asselborn in der Wiener Zeitung

"Wir sind ja hier in Österreich und nicht in Nordkorea"

Interview: Wiener Zeitung (Thomas Seifert und Stephanie Liechtenstein)

 

Wiener Zeitung: Die Beziehungen der Europäischen Union zu Russland sind wechselvoll, um es vorsichtig auszudrücken. Zuletzt standen nach dem Treffen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Zeichen wieder auf Dialog. Heute trifft der russische Präsident in Wien zu einem Arbeitsbesuch ein - Putins erster Besuch während seiner neuen Amtszeit. Erwarten Sie eine weitere Entspannung zwischen Europa und Russland?

Jean Asselborn: Es ist ja nicht verboten, Präsident Wladimir Putin einzuladen - man muss im Gespräch bleiben. Wir wissen alle über Probleme, die in der Beziehung zwischen der Europäischen Union und Russland bestehen. Ich träume - wie wohl die meisten meiner EU-Amtskollegen - von der Normalisierung der Beziehung mit Russland. Jeder träumt davon. Damit das aber geschehen kann, muss sich die Lage im Donbass in der Ostukraine normalisieren. Die Umsetzung des Minsker Abkommens zwischen der Ukraine und Russland ist zwar nicht nur die Aufgabe von Russland, aber Moskau ist - genauso wie Kiew - gefordert. Leider sehe ich derzeit aber in dieser Sache keine Bewegung.

Wiener Zeitung: Angenommen, Luxemburg stünde vor der Aufgabe, die jetzt auf Österreich zukommt, nämlich die EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 zu meistern - was wären Ihre Prioritäten?

Jean Asselborn: Erstens würde ich in der Migrationsfrage den Menschen nicht vorgaukeln, dass man das Problem durch Exterritorialisierung lösen kann. Es wird auch in Zukunft Menschen geben, die vor Kriegen und Verfolgung fortlaufen und die dann an unsere Tür klopfen. Wenn die Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt sind, müssen wir solchen Menschen Schutz bieten. Diese Menschen sind dann in der EU und wir können dann nicht einfach sagen, okay, das ist jetzt das Problem von Griechenland, Italien oder Spanien und das geht uns alles nichts an. Ohne Relocation - also eine Aufteilung der Flüchtlinge auf die europäischen Länder - wird es nicht gehen. Seit 2015 streiten wir in der EU über diese Frage und ich glaube, es ist nicht gut für Österreich und auch nicht gut für Europa, wenn man auf einmal von den Visegrád-Staaten plus Österreich liest.

Wiener Zeitung: Zuletzt hat Vizekanzler Heinz-Christian Strache die Personenfreizügigkeit in der EU in Frage gestellt. Ihr Kommentar?

Jean Asselborn: Wenn die EU-Präsidentschaft in einem Land ansteht, dann finde ich es etwas kurios, wenn vom zweiten Mann in der Regierung angedacht wird, die Personenfreizügigkeit - eine der elementaren Grundfreiheiten für Europas Bürger - einzuschränken. Es gibt eine Freizügigkeit von Waren, Dienstleistungen und Kapital, warum sollte man also plötzlich die Freizügigkeit der Menschen in der EU einschränken wollen? So eine Botschaft vor der Übernahme der EU-Präsidentschaft auszusenden, verunsichert.
Ich habe gelesen, dass Kanzler Sebastian Kurz sagt, man solle Vizekanzler Strache nicht überinterpretieren. Aber was Strache gesagt hat, war doch ganz klar: Er hat die Personenfreizügigkeit infrage gestellt. Wir sind ja hier in Österreich und nicht in Nordkorea, wo man, wenn man früher den den Machthaber Kim Il-sung verstehen wollte, die nordkoreanische Juche-Ideologie eingehend studieren musste. Wenn also ein Minister aber in Österreich etwas sagt, dann muss man nicht zuerst das Koalitionsübereinkommen auswendig lernen, bevor man zu solchen Wortmeldungen Stellung bezieht. Ich hoffe, dass diese Wortmeldung nur ein spontaner Ausflug von Heinz-Christian Strache war - das können die europäischen Partner vielleicht als Erklärung akzeptieren. Ich übrigens nicht. Wenn es aber mehr ist, dann haben wir den Geist des europäischen Konstrukts, das ja vor allem auf ein Europa der Bürger zugeschnitten ist, verletzt. Und wenn wir nun anfangen, das Europa der Bürger in Frage zu stellen, dann können wir den Laden gleich zumachen.

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