Interview von Pierre Gramegna im Forum

"Wir haben es trotz Aufgabe des Bankgeheimnisses geschafft, attraktiv zu bleiben"

Interview : Forum (Yannick Lambert)

Forum: Seit ungefähr 15 Jahren ist die deutsche Handels- und Finanzpolitik auf Handelsüberschüsse und Ausgabenreduzierung ausgelegt. Diese Politik wird den anderen europäischen Ländern von Deutschland als Modell empfohlen. Wie stehen Sie heute — nach der Euro-Krise, der Griechenland-Krise und den politischen Verwerfungen der letzten 10 Jahre in Europa — dazu? Können Handelsüberschüsse auf deutschem Niveau eine langfristige Strategie für Europa sein?

Pierre Gramegna: Die Frage betrifft sowohl die Handels- als auch die Finanzpolitik. Ich würde darauf zunächst antworten, dass geordnete Staatsfinanzen das Wichtigste ist. Wenn die Finanzen nicht — oder mittelfristig nicht — im Gleichgewicht sind, dann wird dadurch jede andere politische Entscheidung verfälscht. Deswegen müssen die europäischen Staaten den Stabilitäts- und Wachstumspakt einhalten. Manchmal gerät ein Land aus der Bahn, wie das in der Vergangenheit schon der Fall gewesen ist, jedoch muss man solche Situation schnell wieder ausgleichen. In der Hinsicht bin ich mit der deutschen Finanzpolitik verbündet, die Luxemburg ja auch unterstützt.

Die Handelspolitik betreffend bedeutet ein Überschuss ja nur, dass man wettbewerbsfähig ist. Wettbewerbsfähigkeit ist ein Zeichen, dass es dem Land gut geht, von daher habe ich kein Problem mit Handelsüberschüssen. Übrigens hat Luxemburg kein Handelsüberschuss an Gütern, sondern an Dienstleistungen. Wir sind daher in einer ähnlichen Situation wie Deutschland. Wenn man die beiden Aspekte, Finanzen und Handelsüberschuss, zusammennimmt, ist das auf jeden Fall eine gesunde Entwicklung. Ich würde jedoch eine Nuance in Bezug auf die deutsche Herangehensweise machen.

In Deutschland wurde die Senkung der Schulden dermaßen zur Priorität erklärt, dass im Gegenzug nur wenig investiert wurde. Seit 15 Jahren muss man feststellen, dass die öffentliche Hand in Deutschland weniger als etwa 2 % des Bruttoinlandproduktes investiert, während wir in Luxemburg im Verhältnis doppelt so viel ausgeben. Wir setzen also mehr auf Ausgaben — unsere Schuld ist ja auch niedriger als die Deutschlands. Deutschland hatte sich zum Ziel gesetzt, seine öffentliche Verschuldung wieder auf 60 % des Bruttoinlandproduktes zu begrenzen, und hat dies mittlerweile praktisch auch geschafft.

Dennoch führt Deutschland eine immer noch sehr begrenzte Investitionspolitik, was meines Erachtens nach bedauerlich ist, da eine Steigerung der öffentlichen Investitionen in Deutschland auch den restlichen Wirtschaften in Europa helfen würde. 

Forum: Ist die deutsche Herangehensweise übertragbar auf die EU als solche, oder birgt sie auch Gefahren?

Pierre Gramegna: Wenn man sich die Ergebnisse der deutschen Wirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg anschaut, sieht man ganz klar, dass es Deutschland mit dieser Politik gelungen ist, Exportweltmeister zu werden und sich von ganz unten zum Wirtschaftsmotor Europas zu entwickeln. Es ist auf jeden Fall ein positives Modell. Andere Länder hatten andere Ansätze. Südeuropa und auch Frankreich haben, statt direkt auf die Konkurrenzfähigkeit zu setzen, ihre Währungen abgewertet, um kurzfristig wettbewerbsfähiger zu werden. Dafür mussten sie aber den Preis einer schwachen Währung zahlen — also wachsende Defizite. Wer mit einer schwachen Währung importiert, muss auch eine höhere Staatsverschuldung in Kauf nehmen. Wenn die Verschuldung aber zu hoch ausfällt, ist man in seiner zukünftigen Handlungsfähigkeit eingeschränkt.

Forum: Sie haben Ihre Meinung zur deutschen Handels- und Finanzpolitik in den letzten fünf Jahren also nicht geändert?

Pierre Gramegna: Nein, sie ist relativ konstant geblieben. Eine gewisse Schwäche der deutschen Politik gab es früher, als das Land die Wiedervereinigung finanzieren musste, was natürlich kolossale Ausgaben erforderte und Deutschland auch vor Schwierigkeiten stellte, die Defizitkriterien einzuhalten. Das war jedoch eine außergewöhnliche Situation. Ebenso wie andere Länder ist auch Deutschland im Zuge der Finanzkrise unter Druck geraten. Dann muss man eben Maßnahmen treffen, die aus diesem Tal hinausführen.

Forum: Schon als Direktor der Handelskammer haben Sie sich für die Globalisierung und das Abbauen von Handelsschranken eingesetzt. Stehen Sie nach fünf Jahren im Amt als Finanzminister immer noch hinter diesen Prinzipien oder hat sich Ihre Analyse hier verändert?

Pierre Gramegna: Globalisierung und freier Handel waren die treibenden Motoren des Wachstums in Europa und der ganzen Welt. Während der Weltwirtschafts- und -finanzkrise im Jahre 2008 erlitt der internationale Handel die größten Rückschläge. Das Resultat hiervon war, dass man nur noch an sehr wenigen Orten der Welt Wachstum beobachten konnte. Meine Ansichten zum Welthandel haben sich also nicht gewandelt. Den Handel zu fördern und offen zu gestalten, ist gut für alle. Wenn man sich die letzten Statistiken zum Thema Armut in der Welt anschaut, sieht man, dass die Armut in den letzten fünf bis zehn Jahren in der Welt trotz Finanzkrise zurückgegangen ist, hauptsächlich durch den Handel und die Digitalisierung. Digitalisierung ist hierbei auch ein Instrument, die Wirtschaft offener zu gestalten. Mit dem Mobiltelefon kann man Geld überweisen und mit dem Rest der Welt in Kontakt treten. Ohnehin kann man die Globalisierung nur sehr schwierig stoppen. Wenn man sie stoppen möchte, müsste man ganz drastische Maßnahmen treffen, die sehr starke negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum hätten.

Der IMF hat die Folgen des angekündigten amerikanisch-europäisch-chinesischen Handelskrieges um die Tarife auf Stahl und Aluminium schon ausgerechnet. Diese protektionistischen Maßnahmen allein könnten eine Reduzierung des Welthandels bewirken, der einem Teufelskreis gleichkommt. Glücklicherweise wurde der Welthandel im Laufe des letzten Jahres wieder angekurbelt — laut IMF kann man eine Erhöhung des weltweiten Wirtschaftswachstum von 3,7 % beobachten. So hat in den letzten 10-15 Jahren das größte Wirtschaftswachstum stattgefunden? In den Schwellenländern — viel mehr als in den Entwicklungsländern. Aus diesem Grunde konnte die weltweite Armut reduziert werden. Das soll nicht bedeuten, dass alle Erscheinungen der Globalisierung als tadellos einzuschätzen sind oder alle Wirtschaften komplett offen sein sollten. Es muss dabei auch Korrekturfaktoren geben. Ich würde dieses Modell — oder diese Herangehensweise — nicht ändern.
Ich bevorzuge das Wort "Herangehensweise", da "Modell— impliziert, dass es etwas Fertiges darstellt, das man nicht mehr ändern kann. Die EU selbst ist ja auch zum Teil protektionistisch, im Bereich der Finanzen etwa. Wir belehren andere gerne in Sachen Protektionismus, wollen selbst aber nicht einsehen, dass wir in einigen Bereichen selber protektionistisch agieren.

Forum: Wie stehen Sie zu den Vorschlägen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und anderer, einen ernsthaften EU-Investitionshaushalt einzuführen? Der EU-Haushalt beträgt ja nur knapp etwa 1 % des Bruttoinlandproduktes, während er in den USA bei 25 % liegt.

Pierre Gramegna: Hier muss ich ein bisschen ausholen. Wenn wir heute über den EU-Haushalt reden, der ja bei 1 % liegt, wobei der amerikanische bei 25 % liegt, muss man direkt anmerken, dass wir neben dem EU-Haushalt natürlich noch die nationalen Haushalte haben. Der Nationalhaushalt Luxemburgs liegt bei ungefähr 43 % des Bruttoinlandprodukts (2017 — 42,9 %). In Frankreich liegt dieser Wert sogar noch höher. In den USA liegt er tatsächlich niedriger.

Reicht 1 %? Das hängt ganz von der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der nationalen und der europäischen Ebene ab. Will man mehr Aufgaben und Macht an die EU abgeben, muss man den EU-Haushalt dementsprechend erhöhen. Luxemburg ist ganz klar dafür, dass der EU-Haushalt nicht unbedingt bei 1 % des BIP bleiben muss.

Die EU-Kommission hat einen Vorschlag zur Erhöhung des EU-Haushaltes gemacht, den wir unterstützen. Wir unterstützen ihn umso mehr, weil es nicht darum geht, den Haushalt der EU-Kommission zu erhöhen, sondern im Rahmen des für den Zeitrahmen von 2022-2027 angesetzten Multiannual Financial Framework die verschiedenen Aggregate im Budget etwa mit weniger hohen Ausgaben in der gemeinen Agrarpolitik anzupassen. In diesem Zusammenhang darf man übrigens nicht vergessen, dass Änderungen im EU Haushalt gezielt durch nationale Lösungen kompensiert werden können.

Höhere Investitionsausgaben geben uns die Möglichkeit, den Akzent zunehmend auf die Innovation in Europa und die Digitalisierung zu setzen. Daneben sollen die Verteidigungsmittel erhöht und die Sicherung unserer Grenzen ausgebaut werden. Diesen Ansatz unterstützt Luxemburg voll und ganz. Verteidigung und Innovation sind die zwei Bereiche, die mehr Sichtbarkeit und Unterstützung bekommen sollen. 

Forum: In fast ganz Europa ist ein Erstarken des Populismus festzustellen. Ein Beispiel sind die Resultate der letzten Wahlen in Italien. Kann es sein, dass die Finanzpolitik der reichen EU-Staaten eine Mitschuld daran trägt, dass der Populismus von links wie von rechts so viel Erfolg hat und damit das EU-Projekt in Gefahr bringt?

Pierre Gramegna: Dazu habe ich Einiges anzumerken. Ich benutzte selbst den Begriff des "Populismus" fast nie, außer er rutscht mir raus. Ich benutze eigentlich immer den Begriff des "Nationalismus". Ich habe keine Angst vor den Menschen, dem Volk, dem "peuple". Ich habe Angst vor dem Nationalismus. Die Menschen, die sich in Verantwortungspositionen befinden, also in Parlamenten und Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, sind von den Bürgern gewählt worden. Ich weiß darüberhinaus nicht, wie man den Begriff "Populismus" definieren soll. Wenn ich aber über nationalistische oder stark proeuropäische Parteien Auskunft geben soll, dann kann ich Unterscheidungen machen. Die Partei, der ich hier in Luxemburg angehöre, ist pro-europäisch. Die meisten Parteien Luxemburgs sind pro-europäisch und das finde ich ganz gut so. Luxemburg würde es lange nicht so gut gehen, wenn es Europa und den europäischen Binnenmarkt nicht gäbe. In anderen Ländern wird das positive Bild Europas in Frage gestellt. In Italien haben z.B. die eher europakritischen Parteien besser abgeschnitten. Wenn solche Parteien in einem fairen demokratischen Prozess — und in Italien waren die Wahlen fair — gewinnen, dann soll man das respektieren. 

Ich will den Fehler vermeiden, den manche — ich will hier keine Namen nennen — gemacht haben, wenn sie über Länder ein Urteil treffen, in denen demokratische Regierungen an die Macht gekommen sind, die uns nicht so genehm sind. Wir müssen auch Regierungen respektieren, die nicht unseren Idealvorstellungen entsprechen — das ist ein elementares Prinzip der Demokratie, aber auch der internationalen Verhandlungen. Wenn in einem Land die Regierung wechselt, muss man dem Prinzip "pacta sunt servanda" treu bleiben und die Entscheidung des Volkes respektieren.

Das betrifft nicht nur Italien, sondern alle Länder innerhalb der EU. Mit allen Ländern muss man in guter Absicht reden. Ich habe z.B. meinem neuen italienischen Kollegen auch schon geschrieben, dass ich mich freue, ihn kennenzulernen und mit ihm proaktiv und dynamisch zusammenzuarbeiten.

Forum: Gibt es nicht auch einen nicht-nationalistischen Populismus von linker Seite? — Jeremy Corbyn im Vereinigten Königreich, der in den Umfragen immerhin um die 40 Prozent erreicht, oder Syriza in Griechenland. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?

Pierre Gramegna: Für mich ist auch das eine Form des Nationalismus. Über Einordnungen lässt sich natürlich streiten und es gibt Argumente dafür und dagegen. Wenn man der Sache jedoch auf den Grund geht, stellen diese links-nationalistischen Bewegungen eben die Globalisierung und die offenen Märkte in Frage und sind aus dieser Perspektive antieuropäisch und gegen den Welthandel. Auf der rechten Seite äußert sich dies mehr gegen die Menschen. Man will zum Beispiel keine Einwanderer reinlassen, obwohl man trotzdem eher pro-Business ist.

Man kann den Populismus von rechts wie von links eigentlich auch anders beschreiben: Es handelt sich um zwei Formen des gleichen Phänomens — Isolation und Rückzug auf sich selbst. Das was von außen kommt, wird als Hauptursache aller Probleme angesehen. Für uns in Luxemburg ist Offenheit jedoch eine der Hauptinstrumente, um Probleme zu überwinden.

Forum: Welche Einstellung vertreten Sie gegenüber der Besteuerung multinationaler Technologieunternehmen, wie etwa Google, Facebook und Amazon?

Pierre Gramegna: Zuerst noch ein Wort zur Besteuerung der nicht-digitalen Wirtschaft. Noch diese Woche, um genau zu sein, heute, haben wir ein Gesetzesprojekt angenommen, um einen Teil der Maßnahmen der OECD in Luxemburg umzusehen. Das bezieht sich auf den Text der Anti-Tax-Avoidance Directive, der bis Ende dieses Jahres vom Parlament verabschiedet und nächstes Jahr in Kraft treten soll. Auch hier befinden wir uns auf einer Linie mit den anderen OECD-Staaten. Wir modernisieren unsere Steuerrechtslage und passen sie den neuen Regeln an. Diese Umstellung nutzen wir aber auch, um einige Nischen, die es in der Vergangenheit gab und die legal waren, zu unterbinden. Auch hier sind wir im Mainstream angekommen. Wir wollen als Land angesehen werden, dem man steuermäßig keine Vorwürfe machen kann. Es gab eine Zeit in der Vergangenheit, in der Luxemburg alle Vorteile ausgereizt hat. Heute werden die Stärken Luxemburgs mit anderen Aspekten als der Fiskalität ausgebaut. Wir haben dabei bewiesen, dass wir trotz Aufgabe des Bankgeheimnisses den Finanzplatz gut entwickeln und diversifizieren konnten. Dies gilt insbesondere für die Bereiche der nachhaltigen Finanzen, der digitalen Wirtschaft und der FinTech.

Das bringt mich zurück zur Besteuerung digitaler Unternehmen. Auch bei Fin-Tech-Unternehmen und globalen digitalen Dienstleistern sind wir der Meinung, dass diese fair besteuert werden müssen. Das Problem ist hier die Andersartigkeit des Business-Modells, das sich von der traditionellen Wirtschaft unterscheidet und sich nicht so gut erfassen lässt. Wir sind jedoch bereit, mit unseren Freunden in Europa, in der Welt und innerhalb der OECD zusammenzuarbeiten. Dabei bevorzugen wir eine Lösung auf OECD-Ebene. Die OECD wird in den nächsten Monaten ihren BEPS-Bericht fertigstellen, der diese Problematik mitbehandelt. Auf dieser Basis lässt sich dann eventuell ein "level playing field" herstellen. Wir bevorzugen diese Herangehensweise gegenüber einem Alleingang Luxemburgs oder der EU. Dies aus zwei Gründen: Erstens würde ein Alleingang der EU den Handelskrieg mit den USA verstärken. Zweitens würde man riskieren, dass Europa sich vom Rest der Welt abkapselt und für diese Unternehmen weniger attraktiv wird.

Forum: Ist eine OECD-Lösung nicht unrealistisch, da die US-Amerikaner sich ohnehin nicht zu einer globalen Lösung überreden lassen werden, um ihre eigenen Unternehmen und Einnahmen zu schützen?

Pierre Gramegna: Nein, das muss keineswegs so sein. Vor einigen Monaten hat Präsident Trump gesagt, Amazon müsse auch in den USA Steuern zahlen. Auch hier bewegen sich die Ideen und Gemüter. Wir müssten auf jeden Fall erst einmal den Dialog suchen, da die US-Amerikaner im Bereich der multinationalen Unternehmen immer noch die Meister sind. Durch eine einseitige Entscheidung der EU würden wir diese amerikanischen Unternehmen schädigen und ich bezweifle, dass dies gut für eine offene Gesellschaft, Wirtschaft und die Globalisierung wäre. Es würde zudem nicht dazu beitragen, unsere Beziehungen zu den USA zu verbessern.

Forum: Welche Bedeutung hat die amerikanische Steuerpolitik für die europäische Wirtschaft und den luxemburgischen Finanzplatz?

Pierre Gramegna: Erstens muss man hier sagen, dass in den USA im Bereich der Unternehmenssteuern viel mehr geschehen ist, als man in der Presse meistens so liest. Zweitens haben die US-Amerikaner einen Teil von BEPS schon umgesetzt. Es zeigt sich, dass nicht nur Europa ein Interesse an BEPS hat, sondern auch die USA und darüber sollte man sich freuen, denn es trägt zu dem von uns gesuchten "level playing field" bei.

Drittens haben die USA ein ganz spezielles System der Besteuerung, da sie die Profite, die amerikanische Unternehmen im Ausland erzielen, nicht besteuern, wenn sie im Ausland verbleiben. Aus diesem Grunde hatten amerikanische Firmen viele Reserven im Ausland gebunkert. Jetzt wurde ein System entwickelt, das die Firmen durch Senkung der Steuern ermutigen soll, mehr Kapital in die USA zurückzubringen. Der Steuersatz der USA liegt jetzt bei 21 %, derjenige Luxemburgs bei 18 % und der Frankreichs ist noch leicht höher als diese beiden. Man erkennt hier schon eine gewisse Konvergenz der Steuersätze. Diese Konvergenz läuft parallel zu einer weltweiten Ausweitung der Berechnungsgrundlage. In Zukunft wird die Besteuerung der Unternehmen eine geringere Rolle spielen als noch heute, da wir uns alle in einem gemeinsamen Korridor bewegen werden.

In Luxemburg konnten wir es trotz Aufgabe des Bankgeheimnisses schaffen, attraktiv zu bleiben, obwohl man zunächst vom Gegenteil ausging. Besteuerung ist eben nicht alles. Ein Drittel aller weltweiten grünen Investitionsfonds sind heute in Luxemburg notiert, auch zwei Drittel aller Microfinancefonds sind hier. Wir haben es fertiggebracht, uns auf eine Art und Weise zu positionieren, die wirklich bemerkenswert ist. Das sind Wandlungen, die wahrscheinlich weniger schnell von statten gegangen wären, wenn wir am Bankgeheimnis festgehalten hätten.

Forum: Der Premierminister und Sie haben gesagt, dass Luxemburg durch den Brexit einen Verbündeten in Europa verloren hätte. Wie ist das zu verstehen?

Pierre Gramegna: Der Brexit wird uns kurzfristig günstige Gelegenheiten bieten, aber mittelfristig verlieren wir dadurch tatsächlich einen Verbündeten, da Luxemburg und das Vereinte Königreich in der EU vor allem im Bereich der Regulierung von Finanzdienstleistungen und in Fragen der Wettbewerbsfähigkeit Europas sehr ähnliche Interessen vertreten haben.

Was meine ich mit kurzfristigen Vorteilen? Wir haben jetzt im Fund Management, im Private Banking, im Versicherungswesen und im Private Equity Bereich sehr viel Erfolg mit Firmen, die sich infolge des Brexit in Luxemburg niederlassen wollen. Auch im Bereich FinTech haben wir einige Akteure aus London hier aufnehmen können, die den Zugang zum Binnenmarkt behalten wollen und nicht mehr mit London zufrieden sind. Darüber freuen wir uns natürlich. Umso mehr, da wir nicht mit dem Zaunpfahl gewunken haben und klarstellen, dass es uns wichtig ist, dass die Finanzplätze in London und Luxemburg weiterhin gut kooperieren. 

Es geht uns also nicht darum, dass diese Unternehmen in London das Geschäft schließen und es hier aufschlagen: Wir achten eher darauf, dass diese Unternehmen genug Mitarbeiter und Aufgaben in Luxemburg ansiedeln, aber weiterhin mit London arbeiten. Mittelfristig muss man schauen, wie sich die weiteren Verhandlungen entwickeln und welche Vereinbarungen mit dem Vereinigten Königreich letztlich getroffen werden. Am Ende wird es in jedem Fall neue Schranken zwischen dem Vereinigten Königreich und Europa geben — das gefällt uns nicht und wir bedauern das. Andererseits wird es nicht möglich sein, dass sich London die Rosinen vom Kuchen der Globalisierung und europäischen Integration pickt und sich dem Rest gegenüber verschließt.

Forum: Europa scheint mittlerweile in verschiedene Blöcke unterteilt, wo würden Sie Luxemburg verorten?

Pierre Gramegna: Unser Finanzplatz ist zumindest angelsächsischer ausgerichtet als Paris. Bei uns läuft fast alles über die englische Sprache. Wir sind auch nicht nur innerhalb der EU tätig, sondern weltweit. Wenn man den Grad der Offenheit unseres Finanzplatzes als Maßstab nimmt (es gibt nur wenige luxemburgische und hauptsächlich ausländische Banken) haben wir ein Umfeld, das so international ist wie kaum ein anderes. Darüber hinaus ist der luxemburgische Finanzplatz auch noch mehrsprachig. Selbst wenn Englisch die Hauptsprache ist, läuft auch so einiges über Französisch oder Deutsch. Unsere Aufsichtsbehörde ist zudem bereit, mit jedem in seiner Sprache zu sprechen.

Forum: Es gab vor kurzem einen Artikel bei Bloomberg, in dem behauptet wurde, dass die Englischkenntnisse in Luxemburg nicht gut genug seien, um es zu einem internationalen Finanzzentrum wie London zu machen.

Pierre Gramegna: Ich habe das mit großem Erstaunen gelesen, denn es widerspricht meinen eigenen Erfahrungen und den Kontakten, die ich habe. In 99 % der Gespräche höre ich genau das Gegenteil, nämlich dass die Menschen sich freuen, dass man in Luxemburg ausländische Sprachen allgemein und Englisch besonders gut beherrscht.

Forum: Am Anfang Ihrer Regierungszeit konnte man den Eindruck gewinnen, dass Sie nicht das gleiche Verhältnis zum Finanzplatz hatten wie Ihr Vorgänger Luc Frieden, der sich als Lobbyist der Banken verstand. Wie sehen Sie das heute?

Pierre Gramegna: Eine schwierige Frage. In meinem Ermessen — und ich sage das auch oft so — sind die Banken in Luxemburg immer noch beliebt. Das ist eine Aussage, die mir nicht immer Komplimente einbringt, aber sie entspricht den Tatsachen. Wir benötigen die Banken in der National - wie in der Weltwirtschaft, denn ohne sie bewegt sich die Wirtschaft nicht. Deswegen ist ein enges Verhältnis zum Finanzplatz unerläßlich, aber man muss auch manchmal politische Entscheidungen treffen, die nicht denen entsprechen, die die Banken bevorzugen würden. Das Abschaffen des Bankgeheimnisses oder auch die Durchsetzung des Informationsaustausches haben wir zum Teil gegen den Willen des Finanzplatzes durchgesetzt. War dies die richtige Entscheidung? Ich denke, ja. Auch viele Leute, die anfangs dagegen waren, sind heute dieser Meinung.

Unser Ruf hatte sich dermaßen verschlechtert, dass die Mutterhäuser keine Aktivitäten im Bereich der Finanzdienstleistungen mehr nach Luxemburg bringen wollten oder konnten. Spätestens an diesem Punkt musste man etwas dagegen unternehmen.

Andererseits würde ich sagen, dass bis dato noch nie ein Finanzminister so viel Werbung für den Finanzplatz Luxemburg gemacht hat wie ich. Allein letztes Jahr war ich über hundert Tage im Ausland unterwegs, und an den meisten dieser Tage ging es darum, für unseren Finanzplatz zu werben, eben gerade, weil sich der Platz momentan einer Transformation unterzieht und grüner und vielfältiger wird. Hier scheue ich nicht den Vergleich mit meinem Vorgänger.

Forum: Sie waren im Amt, als der Luxleaks-Skandal ausbrach. Was bedeutete dieses Ereignis für Sie persönlich? 

Pierre Gramegna: Für mich war der Luxleaks-Skandal das Tüpfelchen auf dem i, das bestätigte, dass wir uns endlich ändern mussten. Als es im Herbst 2014 zum Skandal kam, war die Entscheidung, den automatischen Informationsaustausch einzuführen, bereits gefallen.

Im Oktober 2014 habe ich im Rahmen der 7. Jahrestagung des Globalen Forums zu Transparenz und Informationsaustausch für Besteuerungszwecke das internationale Abkommen über den automatischen Informationsaustausch in Steuersachen unterzeichnet, wobei Luxemburg zu den ersten Ländern gehörte, die diesen Schritt gegangen sind. Auch auf EU-Ebene wurde mit unserer Unterstützung bereits seit längerem über eine entsprechende Direktive verhandelt. Glücklicherweise hatten wir diesen Schritt schon gemacht, bevor Luxleaks passiert ist. Somit konnten wir deutlich machen, dass wir uns bereits in einem Transformationsprozess befinden.

Luxleaks war natürlich sehr schädigend für unseren Ruf, der ohnehin nicht gut war. Wenn jemand uns damals gesagt hätte, dass wir im Jahr 2018 so viel besser dastehen würden, hätte ich mir das nie vorstellen können. Durch eine rasche Änderung der Gesetzgebung ist es uns gelungen, ganz schnell von den schwarzen Listen zu verschwinden. Unsere Partner in der EU haben gesehen, dass Luxemburg die Situation ernst nimmt und sich verändert. Dies führt dazu, dass wir jetzt, sehr selten, wenn überhaupt noch, von anderen Ländern angegriffen werden. Von den Medien werden wir zwar noch punktuell angegriffen, was aber daran liegt, dass diese, wissentlich oder unwissentlich, noch nicht mitgekriegt haben, wie sehr sich Luxemburg schon verändert hat. Die Vorwürfe, die heute häufig noch von den Medien ins Schaufenster gestellt werden, sind nach heutigem Luxemburger Recht, in der heutigen Gesetzgebung und Steuerlandschaft und im Rahmen der internationalen Regelungen der OECD nicht mehr legal. Früher, vor etwa fünf Jahren, waren diese Sachen legal, obwohl sie vielleicht ethisch fragwürdig waren. Heute sieht das anders aus. Wir haben uns angepasst und wollen nicht mehr die letzten Nischen ausreizen.

Forum: Die aktuelle Regierung war auch angetreten, um die Staatsausgaben unter Kontrolle zu bekommen, hat dann aber eine Kehrtwende vollzogen. In absoluten Zahlen ist das Land heute so verschuldet wie nie zuvor. Wie reagieren Sie darauf?

Pierre Gramegna: Ich muss hier einige Aspekte richtig stellen. Zu sagen, wir hätten eine komplette Kehrtwende gemacht, ist falsch. Wir haben die Staatsfinanzen im Griff, sie sind so gut wie ausgeglichen. Das Defizit beträgt im Zentralstaat rund 200 Millionen Euro und der Überschuss im Gesamtstaat liegt bei etwa 800 Millionen Euro. Wir haben die Staatsfinanzen saniert und versuchen dies so zu halten — also keine Kehrtwende! Gleichzeitig haben wir dafür gesorgt, die Investitionen hoch zu halten. Zurzeit werden rund 2 Milliarden Euro pro Jahr von der öffentlichen Hand investiert, so viel wie noch nie zuvor in Luxemburg. Wir geben proportional gesehen doppelt so viel aus wie Deutschland und ich finde, dass das eine gute Politik ist. Dass wir uns in absoluten Zahlen minimal höher verschuldet haben, ist richtig. Proportional zu unserem Reichtum geht die Verschuldung jedoch zurück. Und man kann dies nur im Vergleich zum Reichtum angemessen beurteilen. Die Regierung hat auch nie gesagt, dass sie die absolute Verschuldung reduzieren wolle. Wir lagen bei 23,7 % als wir vor fünf Jahren anfingen. Nun liegt die Verschuldungsquote bei 20 % und sie geht momentan weiter zurück. Wir sind also nicht in Richtung der 30 % gegangen, wo wir gelandet wären, wenn wir nichts unternommen hätten. In den letzten fünf Jahren hat der Staat rund 10 Milliarden Euro investiert und zwei Milliarden geliehen. Das heißt, wir haben 20 % der Investitionen mit geliehenem Geld und 80 % davon mit laufenden Erlösen finanziert. Eine Privatperson, die ein Haus kauft, bezahlt normalerweise 20 bis 25 % aus eigener Tasche und die Bank finanziert den Rest. Wir hingegen zahlen 80 % mit laufenden Erlösen und das sind Investitionen für die zukünftigen Generationen. Für mich ist das ein Zeugnis für gesunde Staatsfinanzen. Die meisten Länder verschulden sich proportional zum Bruttoinlandprodukt gesehen systematisch weit höher.

Forum: Würden Sie sagen, dass Luxemburg und seine Staatsfinanzen heute besser auf einen Finanzschock wie jenem von 2008 vorbereitet wären? 

Pierre Gramegna: Ich denke ja. Dies aus zwei Gründen: Erstens haben wir einen Staatsfonds geschaffen, den wir so bis jetzt noch nicht hatten. Wir konnten ihn zwar noch nicht so speisen, wie ich mir das theoretisch gewünscht hätte, trotzdem haben wir jetzt rund eine Viertelmilliarde Euro in diesem Fonds, die wir für die kommende Generation auf die Seite gelegt haben. Zweitens haben wir es mit dem "Zukunftspak" und dem Einstellungswandel bei den Staatsausgaben geschafft, die wachsenden Ausgaben in den Griff zu bekommen. Die Entwicklung der laufenden Kosten ist gerade bei dieser Regierung viel geringer als bei der Vorgängerregierung. Aus diesen Gründen sind wir heute auf Schwierigkeiten, die von außen kommen, auf jeden Fall besser vorbereitet.

Forum: Besten Dank für das Gespräch! 

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