"Das ist ein Hohn für Europa"

Interview von Jean Asselborn im Falter.

Interview: Falter (Raimund Löw und Florian Klenk)

Falter: Herr Außenminister Asselborn, Ausgangspunkt für dieses Polittheater war eine Szene bei einem EU-Treffen in Wien, wo Sie auf eine fremdenfeindliche Äußerung des italienischen Innenministers Matteo Salvini mit den Worten: "Merde alors!" antworteten. Was hat Sie so provoziert?

Jean Asselborn: "Merde alors!" steht in diesem Kontext im Französischen für "Es ist genug! Stopp!". Salvini stellte nicht nur die Genfer Konvention infrage, sondern sagte, dass die Menschen, die aus Afrika zu uns kämen, eigentlich Sklaven seien und dass er als Italiener keine Sklaven nötig habe, und wenn Luxemburg glaube, dass es afrikanische Sklaven für die Verjüngung seiner Bevölkerung brauche, dann solle es das tun. Das war eine kalkulierte Provokation. Man kann in so einer Runde nicht viel machen, wenn man nicht das Wort hat. Aber ich habe auf den Knopf gedrückt und diese Worte gesagt.

Falter: In einer Ecke saß ein Diplomat von Salvini und filmte das Geschehen. Eine halbe Stunde danach war das auf Twitter. Die Sitzungen sind doch vertraulich, oder?

Jean Asselborn: Klar! Ich verstehe, dass die österreichische EU-Präsidentschaft keinen Casus Belli daraus gemacht hat, aber sie haben dann mir die Schuld gegeben, dass das eskaliert ist. Weil ich mich getraut hatte, Salvini zu unterbrechen. Herr Kickl hat gesagt, man unterbricht die Redner, die das Wort haben, nicht.

Falter: Viele empfanden den Einspruch als befreiend. Sie auch, Herr Fischer?

Heinz Fischer: Ich bin vielleicht parteiisch, weil ich ein alter Freund des Herrn Außenministers aus Luxemburg bin. Und ich gebe zu, dass ich nicht entrüstet war. Ob jetzt spontan dieses oder jenes Wort verwendet wird, macht mir weniger Sorgen als die Tatsache, dass die europäische Konzeption und die europäische Idee immer weiter zurückgedrängt, angegriffen und infrage gestellt wird. Die Multilateralität und das Bemühen um überstaatliche Zusammenarbeit werden zurückgedrängt und abgebaut.

Falter: Hinter diesen Reden, aus denen Doron Rabinovici ein "Polittheater" montiert hat, steckt eine Politik, die darauf zielt, Errungenschaften der Nachkriegszeit - Solidarität, eine gemeinsame europäische Sprache, auch eine europäische Vertraulichkeit -einfach zu zerstören. Die Begegnung mit Salvini hat das auch auf den Punkt gebracht.

Jean Asselborn: Ich bin nicht stolz darauf, dass das geschehen ist. Allerdings hat man dann ja nur eine Sekunde Zeit: Entweder du reagierst -oder nicht. Die andere Lösung ist: reden lassen und nicht reagieren. Das geschieht in den meisten Fällen. Ich bin der Meinung, dass es richtig war, sich dagegenzustellen. Es gibt im Europa von 2018 Grenzen, die man nicht überschreiten darf, wenn man über Afrika redet, wenn man über Flüchtlinge redet.

Falter: Wie geht man mit den rechten Demagogen um? Sebastian Kurz sagt, man muss diese Leute einbinden, auch in Regierungsämter. Man dürfe nicht belehrend von oben herab auf diese zugehen.

Jean Asselborn: Ich habe eben gehört, was Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel gerade zum UN-Migrationspakt im Bundestag gesagt hat, den Österreich nun ablehnt. Das ist diametral etwas anderes als das, was Kanzler Kurz sagt. Es kann nicht sein, dass einer oder ein Land, das auch noch die Ratspräsidentschaft hat, Entscheidungen trifft, die fundamental gegen die Kultur des Multilateralismus gehen. Darum wehre ich mich dagegen. Ich habe kein Problem mit der Person Kurz oder mit der Person Kickl. Ich habe ein Problem mit der Politik, die sie verkörpern -noch dazu zu einer Zeit, in der sie die europäische Präsidentschaft haben.

Heinz Fischer: Das Migrationsproblem ist ein großes Thema. Alle sagen, dieses internationale Problem kann kein Staat für sich allein lösen. Daraufhin setzt man sich im Rahmen der UNO zusammen und verhandelt fast zwei Jahre, mit aktiver Beteiligung Österreichs. Man erzielt ein Ergebnis, Österreich begrüßt es. Dann sagt Trump Nein, Orbän folgt ihm. Und dann sagt das EU-Vorsitzland Österreich auch Nein, obwohl es bis zu dieser Minute mitgewirkt hat. Das ist leider ein Tiefschlag gegen den Multilateralismus.

Falter: Herr Asselborn, wir erleben, dass sich immer mehr Länder von diesem Pakt absentieren. Israel hat sich abgesetzt, in der deutschen CDU wird darüber diskutiert. Hat Österreich eine Mitverantwortung für dieses Abbröckeln beim UNO-Migrationspakt?

Jean Asselborn: Die Tendenz geht zum Glück wieder in die andere Richtung. Kroatien hat Nein gesagt und sagt jetzt Ja. In Belgien gab es Probleme und nun sagt der Premierminister, wir sind dabei. Brasilien ist dabei. Diese Tendenz, die für einen Moment wirklich Angst gemacht hat, scheint gestoppt zu sein. Wenn man als EU-Präsidentschaft diesen Schritt tut, mit Theorien wie "Migration ist kein Menschenrecht", ist das ein Einschnitt in den Multilateralismus. Bei den letzten Wahlen bei euch war die Migration ja ein Knotenpunkt, alle Politik hatte mit ihr zu tun. Ich habe die Evolution von Herrn Kurz als Außenminister gesehen. Das fing sehr früh an. Migration war der Punkt, wo er sich differenzierte und in Österreich diesen Zwist mit der alten Koalition gesucht hat. Er hat jetzt kurzfristig damit Erfolg gehabt. Aber ich glaube, dass wir in Europa einen kapitalen Fehler machen, wenn wir Migration als etwas sehen, das jede Nation allein bewältigen kann.

Falter: 260 Millionen Menschen sind von Migration betroffen

Asselborn: von legaler Migration und natürlich auch von forcierter Migration. Wenn die UNO einen Vertrag aushandelt, der den Herkunfts-, den Transit-und den Zielländern hilft, stellt man sich der Herausforderung und arbeitet mit. Aber fünf, sechs europäische Länder werden neben Australien, Israel und den USA nicht dabei sein. Das ist ein Hohn für Europa! Das ist ein Hohn für das Bild der Menschlichkeit in Europa. Das ist für mich etwas fundamental Anti-Europäisches.

Fischer: Ich registriere allerdings, dass es auch in Österreich eine breite Gruppe von Menschen gibt, die die Position der Bundesregierung für falsch hält. Der Kardinal hat sich auf eine Art geäußert, die man Richtung Sorge interpretieren kann. Frühere ÖVP-Regierungsmitglieder, Künstler, Chefredakteure von Zeitungen, von denen ich es nicht erwartet hätte, kritisieren diese Entscheidung. Insofern hat sich auch eine Mobilisierung liberaler europafreundlicher Kräfte herauskristallisiert. Das ist doch ein gutes Zeichen.

Falter: Kurz hat der Kleinen Zeitung gesagt, er würde sich wundern, wenn Sie, Herr Asselborn, ihn nicht kritisierten. Er sagt wörtlich, Ihre Aussagen seien nicht relevant, denn "Asselborn ist in Luxemburg mehrfach abgewählt worden und wird in Kürze nicht mehr Außenminister sein". Was weiß er, was wir alle nicht wissen?

Fischer: Entschuldigen Sie, dass ich hier kurz das Wort ergreife. Ich will vermeiden, dass wir diese Diskussion auf Asselborn contra Kurz oder umgekehrt zuspitzen. Mir geht es um das Migrationsthema, die Rolle Österreichs in Europa und darum, dass Politik gemacht wird, die auf Fakten beruht, und nicht immer Emotionen populistisch aufgeladen werden. Da sollte Österreich eine pluralistischere, internationalere und humanistischere Position einnehmen. Das würde mir sehr am Herzen liegen. Außerdem ist Asselborn nicht abgewählt worden.

Jean Asselborn: Danke für die Hilfe. Zu den Fakten: Ich bin 1984 ins Luxemburger Parlament gewählt worden und seit 2004 ununterbrochen Außenminister. Wenn nicht alles schiefgeht, könnte sich das verlängern. Der österreichische Bundeskanzler soll sich mit dem beschäftigen, was ich sage, und nicht mit meiner Person.

Falter: Die Position Österreichs in Europa hängt von der inneren Verfassung des Landes ab. Sehen wir nicht eine gefährliche Tendenz? Eine Regierung, die systematisch gegen Ausländer und Migranten kleine Schritte setzt und die mit Fremdenfeindlichkeit operiert? Das beginnt bei der Frage Doppelpass, die zehntausende Österreicher betrifft, und geht bis zur Frage des Kopftuchs, das plötzlich zu einem großen Thema gemacht wird. Wird hier die Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung zur Staatspolitik gemacht?

Fischer: Leider gibt es diese Ausgrenzungstendenzen gegenüber Fremden, gegenüber Leuten mit anderer Religion oder Hautfarbe. Nicht nur in Österreich, das ist ein weitverbreitetes Problem. Allerdings gibt es in Österreich auch mutige Bürgerinnen und Bürger, die ihre Finger genau auf diese wunden Punkte legen. Ich denke etwa an die Rede des Schriftsteller Michael Köhlmeier am Tag gegen Gewalt und Faschismus oder an Maja Haderlaps sehr sensible Rede zum Festakt "100. Geburtstag der Republik". Das ist für mich der Beweis, dass es auch in der Jetztzeit Pluralismus gibt. Solange das geschieht, halte ich auch einen Innenminister aus, mit dessen Politik ich - um es besonders höflich zu formulieren - nicht zu 100 Prozent einverstanden bin.

Falter: Das Problem ist, dass die Opposition nicht hörbar ist. Die SPÖ-Vorsitzende ist abgetaucht.

Fischer: Bitte, die wird erst gewählt und dann ordentlich auftauchen.

Jean Asselborn: Ich möchte noch etwas sagen: Herr Fischer, Sie haben mehrmals betont, Österreich sei nicht Ungarn. Ich habe 2010 erlebt, wie das anfing in Ungarn. Und die demokratische Kultur in Ungarn ist heute verwässert. Wir sehen dasselbe bei den Sozialdemokraten in Rumänien. Ich hoffe, dass Österreich dieser Verwässerung widerstehen kann. Ein Schlittern in eine Demokratiekultur, die orbänistische Züge bekäme, muss verhindert werden.

Falter: Kommen wir zum Brexit: Herr Asselborn, jeden Tag gibt es neue Entwicklungen. Kann nicht letzten Endes auch etwas Gutes aus dem Chaos herauskommen? Vielleicht kommt es doch zu einem Meinungsumschwung in London?

Jean Asselborn: Der Brexit ist ein verrücktes Ding, für uns wie für die Briten. Jetzt sind wir auf einem Weg, wo eine Lösung gefunden werden kann. Wir haben jetzt einen Fahrplan da liegen, von dem ich glaube, dass er machbar ist. In Großbritannien glaube ich, dass man gut daran tut, Theresa May den Rücken zu stärken. Ich glaube, dass es keine bessere Lösung gibt als die, die jetzt vorliegt. Wir würden einen kapitalen Fehler machen als Europa, wenn wir Großbritannien als irgendeinen Drittstaat sehen würden.

Falter: Wir hängen unheimlich - auch ökonomisch -von Großbritannien ab. Hunderttausend Arbeitsplätze im Jahr stehen auf dem Spiel. Die Sicherheit Europas ist sehr damit verbunden. Oder gibt es vielleicht noch einmal eine Abstimmung in drei, vier Jahren, wenn Mays Brexit-Deal nicht durchgeht?

Jean Asselborn: Wir haben eine Übergangsfrist bis 2020, wenn das Austrittsabkommen in Kraft treten wird. Wir sind in Europa bereit, diese um zwei Jahre zu verlängern. Vielleicht erkennt man dann, dass es nicht so gut war, den Herren Boris Johnson und Nigel Farage zu viel zu glauben.

Falter: Herr Fischer, eigentlich ist die britische Entwicklung ein Zeichen dafür, dass Europa umgebaut werden muss. Der französische Präsident Emmanuel Macron will ein Europa der zwei oder drei Geschwindigkeiten. Warum ist diese Diskussion in Österreich nicht wirklich in Gang gekommen?

Jean Asselborn: In Europa hat sich in den letzten Jahren wirklich viel verändert. Die Erweiterung der Europäischen Union war zwar richtig und notwendig, doch es stellt sich heraus, dass manche jener Länder, die durch die Erweiterung dazugekommen sind, mit dem Rechtsstaat wenig und mit Vertiefung überhaupt nichts am Hut haben. Deshalb haben wir beträchtliche Spannungen in Europa, die sich auch in der Diktion und in der Sprache ausdrücken. Ich glaube daher, dass man das Prinzip der zwei Geschwindigkeiten, das heute schon existiert, ausbauen muss, wenn man nicht unendlich lange und womöglich vergeblich auf einen Konsens warten will.

Falter: Wird es bei den Europawahlen eine Klärung geben? Macron möchte ja einen Block mit Sozialdemokraten, Grünen, proeuropäischen Konservativen - eine Front, die sich nicht in die Defensive drängen lassen will.

Jean Asselborn: Ich bin da zurückhaltend. Die Zeit ist zu kurz. Und die Klärung wird nach den Europawahlen vielleicht noch schwieriger sein als heute.

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