Interview von Jean Asselborn in der Süddeutsche Zeitung

"Das wäre nicht das Ende Europas“

Interview: Süddeutsche Zeitung (Daniel Brössler)

Süddeutsche Zeitung:  Hat das Spitzenkandidaten-Prinzip in Europa noch eine Chance? 

Jean Asselborn: Ja, es muss eine Chance haben. Aus zwei Gründen: Erstens zwingt es die politischen Familien in der EU, sich auf ein Programm zu verständigen. Zweitens gibt es den verschiedenen politischen Richtungen sichtbare Köpfe. 

Süddeutsche Zeitung:  Was passiert, wenn Ursula von der Leyen am Dienstag nicht gewählt wird? 

Jean Asselborn: Jetzt hat das Europäische Parlament das Wort, und das braucht keinen Nachhilfe-Unterricht. Wenn Frau von der Leyen nicht gewählt wird, muss eben noch eine Runde gedreht werden. Das wäre nicht das Ende Europas. Deutschland hat auch eine Weile gebraucht, bis es eine neue Regierung bekommen hat. 

Süddeutsche Zeitung:  Ursula von der Leyen erfreut sich besonderer Unterstützung aus Polen und Ungarn. Stört Sie das? 

Jean Asselborn: Es ist erschreckend, mit welcher Wucht aus Ländern, die es mit Rechtsstaatlichkeit und Solidarität nicht so genau nehmen, verhindert wurde, dass der Sozialdemokrat Frans Timmermans Kommissionspräsident wird. Er ist ein Mann, der einsteht für ein Europa der Werte, der Menschenrechte und auch des Gemeinschaftssinnes. In Polen und Ungarn wird Ursula von der Leyen vor allem als siebenfache Mutter gefeiert.
Sie muss sich nun ohne Verrenkungen für die Unverhandelbarkeit des Rechtsstaates und für das Prinzip der Solidarität aussprechen. Mit anderen Worten: gegen das Europa von Orbän, Kaczyliski, Le Pen und Salvini. 

Süddeutsche Zeitung:  Mit der Einigung auf Ursula von der Leyen scheint doch immerhin die Krise zwischen Deutschland und Frankreich überwunden zu werden, oder? 

Jean Asselborn: Das Wort Krise wird überstrapaziert und banalisiert. Man weiß gar nicht mehr, wann keine Krise ist. Es stimmt, dass der französische Präsident Emmanuel Macron vorgeprescht ist mit seiner Sorbonne-Rede zu Europa im Jahr 2017 und Deutschland überrascht hat. Deutschland stand plötzlich als Bremser da. Trotzdem: Deutschland war nie so europäisch, wie es jetzt ist. Und die Franzosen wissen genau, dass sie ohne Deutschland nicht voran kommen. Es geht nicht, dass Deutschland und Frankreich sich auseinanderdividieren lassen in grundlegenden Fragen. 

Süddeutsche Zeitung:  Aber ist nicht genau das passiert? 

Jean Asselborn: Zum Teil. Bei den Vorstellungen zum Euro-Haushalt für Investitionen in der Euro-Zone gibt es zwischen Deutschland und Frankreich quantitative und qualitative Unterschiede. Im Ergebnis wurde jetzt immerhin ein erster Schritt getan. In Deutschland sollte man vielleicht auch nicht dreimal im Jahr von Frankreich fordern, den Sitz im UN-Sicherheitsrat zugunsten der Europäischen Union aufzugeben. Das können wir vielleicht auf die Agenda 2050 setzen. Womit Macron total unrecht hat, ist seine negative Einstellung zum Schengen-Raum. Das grenzenlose Reisen ist für die Bürger Europas eine der größten Errungenschaften. Der französische Präsident hat kein Recht, darauf herumzutrampeln. 

Süddeutsche Zeitung:  Also keine Krise, aber viel Streit? 

Jean Asselborn: Europa wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem gebaut, damit Deutschland und Frankreich keine Kriege mehr führen. 
Wenn Deutschland und Frankreich sich heute mal nicht einig sind, dann gibt es keinen Krieg. Da braucht man nicht nervös zu werden. Wenn sie sich einig sind, umso besser. Dann rollt der Wagen in die richtige Richtung. Das Problem ist aber: Diese Einigkeit wird sehr oft nur vorgetäuscht. 

Süddeutsche Zeitung:  Und das passiert jetzt? 

Jean Asselborn: Nicht in allem. In der Iran-Frage stehen Deutsche und Franzosen zusammen. Auch beim Brexit. Das ist lebenswichtig. Auch bei der Migration gibt es Einigkeit. Probleme sehe ich in Handelsfragen. Da gibt es unterschiedliche Interessen. Die Deutschen verkaufen massenweise Autos nach Amerika, die Franzosen nicht. Sie sind daher weniger fokussiert auf die von US-Präsident Donald Trump angedrohten Zölle. 

Süddeutsche Zeitung:  Besteht nicht die Gefahr, dass Macron sich enttäuscht von Deutschland ab- und anderen EU-Ländern zu wendet? 

Jean Asselborn: Nein, ich glaube das nicht. Macron will Führung zeigen, aber er weiß auch, dass er Deutschland braucht, um seine Vorschläge umzusetzen...

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