Interview von Étienne Schneider im Luxemburger Wort

"Die Wachstumsfrage ist aktueller denn je"

Interview: Luxemburger Wort (Anette Welsch)

Luxemburger Wort: Wann haben Sie zuletzt griechischen Joghurt gegessen? 

Étienne Schneider: Gestern. Auf die Marke habe ich aber nicht geachtet. 

Luxemburger Wort: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu den Grünen beschreiben? 

Étienne Schneider: Gut. Wir sind mehr als fünf Jahre in einer Regierung zusammen, bis jetzt sind wir gut miteinander zurechtgekommen. Es ist nun mal so, dass der Wirtschaftsminister probiert die Wirtschaft voranzubringen und der Umweltminister schauen muss, dass das so umweltverträglich wie möglicl abläuft. Dass es zu Diskussionen kämmt, ist normal und hat mit de Parteifarbe nichts zu tun. 

Luxemburger Wort: Werden Sie in Zukunft mehr auf Umweltaspekte achten, wenn Sie Betriebe sich in Luxemburg ansiedeln lassen? 

Étienne Schneider: Ich möchte nur einmal daran erinnern, dass ich 2016 den Rifkin Prozess angestoßen habe. Erklärtes Ziel ist, Wege zu diskutieren, wie wir unsere Wirtschaft mittel-bis langfristig umgestalten können, hin zu mehr Nachhaltigkeit, die auf erneuerbaren Energien, auf Kommunikation und auf Technologie basiert. Wir haben neun thematische Arbeitsgruppen eingesetzt, haben uns eine Strategie gegeben und setzen sie auch um: Dass man die Wirtschaft nicht von heute auf morgen auf „grün" schalten kann, scheint mir evident. Auf der anderen Seite hatte] wir aber auch schon vorher die höchsten Umweltstandards überhaupt, weil wir uns an deutschen Normen inspirieren, die ja nicht dafür bekannt sind, die einfachsten zu sein und wir oft sogar noch etwas draufpacken. Deswegen kann man nicht behaupten, dass in den vergangenen 20, 30 Jahren alles mögliche gemacht wurde. 
Die ganze Rikfin-Debatte sowie der Übergangsprozess, die beide von meinem Ministerium angeführt werden, sind ja noch nicht abgeschlossen. Schauen Sie sich zum Beispiel das Automotive Campus in Bissen an: Dort werden die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft angewandt ... 

Luxemburger Wort: Aber die Joghurtfabrik Fage passt ja nicht in dieses Konzept. 

Étienne Schneider: Doch und die Niederlassungsprozedur hält ja noch an. Die Joghurtfabrik wird immer nur aus einem Blickwinkel betrachtet und andere Argumente dadurch gar nicht berücksichtigt. Die Firma passt ihr Projekt laufend an die an sie gestellten Anforderungen an. 
Es genügt, allein die homerische Diskussion um den Wasserverbrauch zu verfolgen: Fakt ist, dass wir in Luxemburg 200 Liter Wasser pro Kopf pro Tag verbrauchen - die Betriebe eingerechnet, weil man die nicht so einfach heraus-rechnen kann, um auf eine spektakulärere Zahl zu kommen. Fage verbraucht so viel Wasser wie 11 000 Einwohner, nicht wie 20 000. Im initialen Projekt war die Erwärmung der Alzette durch das abgeleitete Wasser zu hoch. 
Mit diversen Infrastrukturarbeiten ist das Problem behoben. Bei der Belastung des Abwassers gilt dasselbe: Fage wird die landesweit modernste Kläranlage bauen und wird auch aus der Molke nun ein anderes Produkt herstellen, um das Flusswasser nicht zu belasten. Das Projekt entwickelt sich kontinuierlich weiter und Fage passt sich permanent an bestehende und neue Auflagen an. Ich finde es immer schade, wenn ein Dossier öffentlich zerredet wird, bevor das endgültige Projekt auf dem Tisch liegt. 

Luxemburger Wort: Ist die Diskussion um qualitatives Wachstum vor Wachstum um jeden Preis noch immer aktuell? 

Étienne Schneider: Sie ist aktueller denn je. Als ich 2012 Wirtschaftsminister wurde, hatten wir ein Problem mit der hohen Arbeitslosigkeit und dem niedrigen Wirtschaftswachstum. 
Ich wurde noch für jeden Arbeitsplatz, den ich von Wirtschaftsmissionen mitbrachte, gefeiert. Heute ist die Welt eine andere - wir haben fast Vollbeschäftigung und wollen Betriebe mit hohem Mehrwert für die nationale Wirtschaft, beispielsweise im digitalen Bereich anziehen.
Aber: Wir können nicht wieder nur den Dienstleistungssektor fördern. Wir brauchen eine Wirtschaftsstruktur, die auch Betriebe und Industrie umfasst. Das ist mir extrem wichtig, weil wir ja auch weniger abhängig vom Finanzplatz werden wollen. 

Luxemburger Wort: Aber klassische Industrie braucht doch viel Platz - den wir gar nicht haben? 

Étienne Schneider: Wir haben jetzt zum Beispiel mit dem Automotive Campus in Bissen ein Prinzip definiert, das in Zukunft für alle Aktivitätszonen gelten soll - da bin ich mir mit Claude Turmes einig. Dort asphaltiert nicht jeder neben seinem Gebäude zig Hektar für Parkplätze, sondern es wird ein Parkhaus für die ganze Zone in Modularbauweise in die Höhe gebaut. Wir betreiben alles, soweit möglich, mit Fotovoltaik und Erneuerbaren Energien, inklusive Anschlüsse für Elektromobilität. Wir machen Gemeinschaftsräume für Konferenzen, Kantine und Sport, Forschungslabore werden geteilt. Das heißt, wir können den Landverbrauch drastisch verringern - wieder eine der Schlussfolgerungen aus dem Rifkin-Prozess, die wir im vollen Umfang dort umsetzen.
Und: Wer kann denn heute sagen, wie sich die Wirtschaft in den nächsten Jahrzehnten weiterentwickeln wird? Spricht man von einem Industriebetrieb, dann haben viele Menschen heute noch immer das Bild von riesigen, rauchenden Schloten im Kopf. Dem ist schon lange nicht mehr so.
Nehmen Sie nur den neuen Standort von Goodyear in Düdelingen, wo die ganze Produktion digitalisiert und robotisiert ablaufen wird.
Wir durchlaufen mit Rifkin alle Prozesse, um umzudenken und die Wirtschaft umzubauen - das geht aber nicht von einem Tag zum nächsten. 

Luxemburger Wort: Was ist für Sie die größte Herausforderung, vor der Luxemburg steht? 

Étienne Schneider: Wenn ich von der Wirtschaft spreche: die gut ausgebildeten Leute, die wir in allen Bereichen brauchen. Blockchain am Finanzplatz, Cybersecurity, die Weltraumforschung und -technologien - Menschen mit den nötigen fachlichen Kompetenzen zu finden oder auszubilden, um solch eine Hightech-Wirtschaft aufzubauen, das ist kurz- und mittelfristig die große Herausforderung, vor der wir stehen. 

Luxemburger Wort: Sie haben das Gesundheitsministerium übernommen. Was ist Ihnen das wichtigste Dossier? 

Étienne Schneider: Da gibt es viele. Es ist ein spannender Bereich, in dem vieles in der Diskussion ist. In sieben Jahren wird Luxemburg das Land mit den modernsten Krankenhausinfrastrukturen sein. Wir wissen um die Knappheit der Ärzte und des Pflegepersonals: Im September wird eine Studie mit einer Bestandsaufnahme der Marktsituation vorgestellt - haben wir genug Ärzte und Pflegekräfte? 
Wie machen wir diese Berufe wieder attraktiv und wie bekommen wir genügend Nachwuchskräfte in diesem Bereich? Junge Ärzte sind heutzutage nicht mehr bereit, so intensiv zu arbeiten, wie ältere Ärzte es tun. Wie können wir Medizinstudenten dazu ermutigen, nach ihrem Studium nach Luxemburg zurückzukehren? 
All das wird Bestandteil der Studie sein. 
Dann das elektronische Patientendossier, das ein Quantensprung sein wird, weil es dem Patienten vieles vereinfacht und auch dem Arzt die Diagnose erleichtert und über die medizinischen Vorgeschichten informiert.
Wir werden es jetzt einführen und es wird laufend verbessert und weiterentwickelt. 

Luxemburger Wort: Sie haben die Krankenhäuser angesprochen: Da wurden in den vergangenen 20, 30 Jahren ja Fusionen gefördert und gefordert, jetzt haben wir vier Krankenhauszentren und merken, dass die Basisversorgung vor Ort nicht mehr klappt. 

Étienne Schneider: Ich meine, dass die Politik der Konsolidierung richtig war. Es ist aber auch richtig, dass es nicht ganz logisch ist, alles nur auf diese vier Standorte konzentrieren zu wollen. Wir müssen auch dafür sorgen, dass eine gewisse Grundversorgung in Reichweite der Bürger verfügbar ist. Für einen IRM automatisch in ein Spital gehen zu müssen, ist nicht mehr ganz zeitgemäß. Das ist für Leute, die im Osten wohnen, wo es kein Krankenhaus gibt, problematisch. 
Deshalb wären Krankenhaus-Antennen sinnvoll und hilfreich. Die Krankenhäuser sind bereit in diese Richtung mitzugehen; es würde vielen das Leben vereinfachen. 

Luxemburger Wort: Kürzlich kam aber das Urteil des Verfassungsgerichts, dass IRM nach der gegenwärtigen Gesetzeslage nicht mehr nur von Krankenhäusern betrieben werden können, sondern auch von Ärzten in ihrer Praxis. Wie wollen Sie nun reagieren, bevor auch das Verwaltungsgericht, vor dem die Klage eigentlich anhängig ist, dem Arzt Recht gibt? 

Étienne Schneider: Meine Mitarbeiter sind momentan damit beschäftigt, zu analysieren Welche gesetzlichen Anpassungen gemacht werden müssen, je nachdem wie das Verwaltungsgericht befinden wird. Für mich ist in jedem Fall wichtig, dass das luxemburgische Gesundheitssystem nicht komplett in Frage gestellt werden soll. Es soll vielmehr weitergebracht werden, im Sinne aller Akteure. 

Luxemburger Wort: Wäre das nicht der erste Schritt zu noch ganz anderen Entwicklungen? 

Étienne Schneider: Ja, und das ist es, was ich vermeiden will. Ich will nicht, dass sich große Krankenhausgruppen aus dem Ausland hier ansiedeln, Dienstleistungen anbieten und unseren Spitälern Konkurrenz machen - und dann das Gesundheitssystem ein privates System wird. Ich will keine Privatisierung unseres Gesundheitssystems und schon gar keine Zwei-Klassen-Medizin. Auch wenn es die in der Realität schon gibt: wer genügend Geld hat, kann es sich leisten, seinen IRM im Ausland zu machen, wo er schneller einen Termin bekommt. Das werden wir ändern, indem es in Zukunft keine Engpässe mehr für IRM-Untersuchungen in Luxemburg geben wird. 

Luxemburger Wort: Diagnostik ist ein Problem, aber schnelle Hilfe in dringenden Fällen ein anderes. Das ist teils dramatisch, vor allem für ältere Menschen. 

Étienne Schneider: Das stimmt. Das ist zum Teil auch durch die Bevölkerungsalterung und den Bevölkerungszuwachs bedingt. Es gibt eben immer mehr Leute, die einen Arzt brauchen, und deren gibt es nicht genug. Das ist eine Herausforderung, der sich nicht nur Luxemburg stellen muss, wie schon gesagt, sondern auch alle anderen Länder die noch dazu das Problem haben, dass oft im ländlichen Raum gar keine Ärzte mehr sind. 

Luxemburger Wort: Ist es die größte Herausforderung? 

Étienne Schneider: Momentan ist es in Luxemburg noch kein akutes Problem, aber es kann sich dazu entwickeln. Telemedizin wäre eine mögliche Lösung für Leute, die weiter weg wohnen oder für kleinere Gesundheitsprobleme. Wir arbeiten derzeit an der Nomenklatur, damit Ärzte das auch bezahlt bekommen. 

Luxemburger Wort: Noch ein anderes Thema: Die Koalition macht derzeit einen etwas müden Eindruck: wenig Spruchreifes, wenig Pressekonferenzen. Haben Sie Ihr Pulver verschossen? 

Étienne Schneider: Nein, wir sind in einer normalen Situation des Übergangs von einer Regierung zur nächsten. Die vorherige Regierung, die ja dieselbe war, hat ihre Projekte alle durchgebracht. Diese Koalition muss ihre Projekte erst noch ausarbeiten. Durch die Wahlkampagne und die Koalitionsverhandlungen ist viel Zeit verloren gegangen, aber nach und nach kommen die neuen Projekte.
Wenn ich nur meine Partei nehme, haben wir mit dem Mindestlohn und den Urlaubstagen schon zwei „projet phare" umgesetzt. 
Ein höchst komplexes Projekt, wie die Legalisierung des Cannabis zieht man dagegen nicht in sechs Monaten durch. 

Luxemburger Wort: Dieses Regierungsprogramm ist aber auch nicht mehr so ambitiös. 

Étienne Schneider: Das sehe ich nicht so. Wir haben in der ersten Koalition mit den großen gesellschaftspolitischen Themen natürlich mehr Interesse erweckt, aber die sind alle abgehakt. Jetzt gibt es auch wichtige Projekte, sie haben halt weniger Sprengkraft. 

Luxemburger Wort: Wie sehen Sie Nicolas Schmits Chancen auf einen Kommissarsposten? 

Étienne Schneider: Er hat auf alle Fälle die Chance, dass die Regierung entschieden hat, ihn vorzuschlagen. Aber die Kommissionspräsidentin hat große Freiheiten zu entscheiden, wen sie will und wen nicht. Wenn ein Mangel an einer gewissen Art an Personen herrscht, wird meistens auch probiert, es bei den kleinen Ländern durchzusetzen. Nicolas Schmit ist aber auch eine Koryphäe auf dem Gebiet des Arbeitsund Sozialrechts, den man nicht ablehnen kann. Man muss die Diskussionen nun abwarten. 

Luxemburger Wort: Zum Abschluss die klassische Sommerfrage: Wie werden Sie sich den Sommer über entspannen? 

Étienne Schneider: Ich wollte ein paar Tage wegfahren, aber bedingt durch einen Krankheitsfall in der Familie nicht weit, Wenn es geht, fahre ich mit dem Auto nach Italien, wenn es nicht geht, bleibe ich hier und lese ein paar Bücher. 

 

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