Interview von Jean Asselborn im Tagesspiegel

"Die EU-Länder sollen Palästina anerkennen"

Interview: Der Tagesspiegel (Albrecht Meier)

Tagesspiegel: Herr Asselborn, US-Präsident Donald Trump betrachtet den Bau israelischer Siedlungen im Westjordanland nicht mehr kategorisch als völkerrechtswidrig. Wie bewerten Sie das?

Jean Asselborn: Ich halte es für dramatisch, wenn sich das stärkste Land der Welt einfach über das Völkerrecht hinwegsetzt. Noch im Dezember 2016 wurde in einer Resolution im UN-Sicherheitsrat bekräftigt, dass die Siedlungspolitik aufhören muss, weil sie gegen internationales Recht verstößt. Wenn sich mit dem Kurswechsel der USA jetzt überall das Recht des Stärkeren durchsetzt, kommen wir in eine Lage, wo das Recht keine Stärke mehr hat. Die Ankündigung von US-Außenminister Pompeo vom vergangenen Montag ist eine Abkehr von der Politik, welche die USA und die Europäer gemeinsam im Sinne einer Zwei-Staaten-Lösung mit Israel und Palästina betrieben haben.
 

Tagesspiegel: Welche Folgen könnte der Kurswechsel der USA haben?

Jean Asselborn: Schon jetzt ist die Zwei-Staaten-Lösung ein ganz labiles Konstrukt. Aber wenn die israelische Siedlungspolitik und die Zerstörung palästinensischer Häuser weitergehen, dann gibt es ganz einfach keinen Platz mehr für einen palästinensischen Staat. Die Abkehr vom Völkerrecht wird dazu führen, dass es im Nahen Osten mindestens fünf Millionen zusätzliche Flüchtlinge geben wird. Die betroffenen Palästinenser müssen dann irgendwie und irgendwo in Camps im Nahen Osten leben. Das kann doch nicht im Interesse Israels sein.
 

Tagesspiegel: Wie sollte die EU reagieren?

Jean Asselborn: Die Europäische Union sollte eine Debatte führen, ob es nicht angebracht wäré, dass alle EU-Länder Palästina als Staat anerkennen. So könnte man wenigsten ein Gegengewicht zur Politik Trumps schaffen. Wir wissen, wie schwierig es ist, in Deutschland speziell, aber auch in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Spanien und auch Luxemburg zum Beispiel, individuell Palästina anzuerkennen. Aber im Zuge einer europäischen Initiative wäre es denkbar. Eine Anerkennung Palästinas durch die gesamte EU würde ein Signal setzen: Die Palästinenser brauchen eine Heimat, einen Staat, genau wie die Israelis.
 

Tagesspiegel: Wie könnte die EU zu einer eigenständigeren Nahostpolitik kommen, etwa in Syrien?

Jean Asselborn: Da muss ich etwas weiter ausholen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die EU geschaffen, damit sich Deutschland und Frankreich nicht mehr bekriegen. Es gab in den Fünfzigerjahren den Plan einer europäischen Armee, aber der ist gescheitert. Natürlich haben europäische Länder wie Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien, die Niederlande, Polen und andere Armeen. Aber Europa als Ganzes ist keine militärische Macht. Mit Blick auf Syrien bedeutet dies, dass die EU dort militärisch nicht am Drücker sein kann.
 

Tagesspiegel: Also sollen die Europäer dem russischen Präsidenten Putin Syrien als Einflusszone überlassen?

Jean Asselborn: Dass Putin wie ein Puppenspieler in Syrien die Fäden zieht, hat nichts mit Europa zu tun. Es hat aber sehr wohl etwas mit den Absprachen zu tun, die Trump mit dem türkischen Präsidenten Erdogan und Erdogan mit Putin getroffen hat. Und da sind wir bei der Nato...
 

Tagesspiegel: ... Frankreichs Präsident Macron hat der Nato den Hirntod bescheinigt.

Jean Asselborn: Zunächst einmal: Europa ist nicht imstande, sich selbst zu verteidigen. Darum brauchen wir die Nato. Aber wenn man jetzt, wie es die USA und die Türkei im Fall Syriens getan haben, jegliche Absprache unterlässt, dann untergräbt das die politische Allianz. Und wenn die politische Allianz nicht mehr steht, dann wird auch irgendwann der militärische Pakt zerstört. Von daher hat Macron eine überfällige Diskussion angestoßen.
 

Tagesspiegel: Ein anderes Beispiel, wo es um den Einfluss der Europäer in der Welt geht, ist die Dominanz Chinas. Die EU-Staaten haben keinen klaren Kurs, wenn es um den Ausbau der SG-Mobilfunknetze geht. Einerseits wollen Länder wie Deutschland den chinesischen Konzern Huawei aus technologischen Erwägungen nicht grundsätzlich vom Netzausbau ausschließen. Andererseits gibt es große Sicherheitsbedenken. Sollte der Umgang mit Huawei nicht auf europäischer Ebene geregelt werden?

Jean Asselborn: Ganz klare Antwort: Ja.
 

Tagesspiegel: Wie könnte das im Detail aussehen?

Jean Asselborn: Die EU-Kommission sollte einen Rahmen für den Ausbau der SG-Netze schaffen. Dieser Rahmen, in dem wirtschaftliche Erfordernisse und sicherheitspolitische Einschränkungen abgesteckt werden, sollte dann für alle EU-Staaten gelten - egal ob sie engere wirtschaftliche Beziehungen zu China haben oder nicht.
 

Tagesspiegel: In einer Woche will die designierte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ihr Amt antreten. Zu ihren vorrangigen Aufgaben wird die Arbeit an einem neuen EU-Migrationspakt gehören. Wie sollte dieser Migrationspakt aussehen?

Jean Asselborn: Die bestehende Dublin-Verordnung muss dringend überarbeitet werden. Die EU-Kommissionschefin muss sicherstellen, dass Ungerechtigkeiten künftig ausgebügelt werden. In einem neuen EU-Asylsystem, müssen neue Kriterien für die Zuständigkeit von Asylbewerbern festgelegt werden. Die Regelung, der zufolge Asylbewerber im Land ihrer ersten Einreise in die EU ihre Verfahren bekommen sollen, hat ausgedient. Gegenwärtig werden nicht mehr als drei Prozent der Asylbewerber von anderen EU-Staaten zurück in die Erstaufnahmeländer transferiert. Das bringt es mit sich, dass die Asylsuchenden ungewollt darüber bestimmen, wo ihr Antrag bearbeitet wird. Das wiederum führt zu einer Überlastung von Ländern wie Deutschland, Frankreich, Schweden und den Benelux-Staaten. Wir brauchen ein gemeinsames einheitliches europäisches Asylsystem, das auf Fairness beruht. Wir brauchen einen Verteilungsmechanismus für Staaten, die überfordert sind. In einem solidarischen Europa kann es nicht sein, dass ein Land wie Zypern mit einer Bevölkerung von 850 000 Menschen pro Jahr 15 000 Asylgesuche zu bewältigen hat.
 

Tagesspiegel: Staaten wie Ungarn und Polen sollen also einen größeren Anteil an Flüchtlingen aufnehmen?

Jean Asselborn: Europäische Solidarität ist keine Einbahnstraße. Dies gilt nicht nur für EU-Fördermittel, sondern auch für Bereiche wie die Migrationspolitik. Leider überwiegen gegenwärtig die nationalen Egoismen. Anders kann man es ja nicht ausdrücken, wenn es Länder wie Ungarn, das 20 Mal mehr Einwohner hat als Luxemburg, nicht fertigbringen, in absoluten Zahlen zumindest so viele Schutzsuchende aufzunehmen wie Luxemburg.
 

Tagesspiegel: Befürchten Sie, dass Regierungschefs wie Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban langfristig den Charakter der EU verändern?

Jean Asselborn: Wir sind eine Union von mittlerweile faktisch 27 Mitgliedstaaten. Es ist klar, dass jeder einzelne Mitgliedstaat die Union mitprägt. Die Suche nach Kompromissen ist Teil unserer DNA in der EU. Mein Hauptvorwurf an Viktor Orban lautet folgendermaßen: Er hat schwierige europäische Debatten intern zum Machterhalt instrumentalisiert, sei es in der Flüchtlingspolitik oder bei der Diskussion um das Asylrecht und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Angesichts all der aktuellen Probleme können wir es uns nicht leisten, ewig interne Debatten zu führen über Themen, die klipp und klar im EU-Vertrag festgeschrieben sind. Das Verhalten Ungarns ist kein Maßstab für Rechtsstaatlichkeit und Gemeinschaftsgeist. Indirekt bezahlen Balkanländer wie Nordmazedonien und Albanien dafür, indem sie vor der Tür gelassen werden.
 

Tagesspiegel: Die EU-Staaten verhandeln derzeit über ihren künftigen Finanzrahmen zwischen 2021 und 2027. Bislang sind die Gespräche ergebnislos geblieben. Das liegt auch daran, dass Deutschland auf eine Begrenzung der EU-Mittel pocht. Verstehen Sie die Haltung der Bundesregierung?

Jean Asselborn: Luxemburg hat stets zu den Mitgliedstaaten gehört, die einen schnellen Abschluss bei den Verhandlungen über den EU-Finanzrahmen fordern. Wir brauchen ein Budget, das unseren politischen Ambitionen gerecht wird. Der Brexit und die EU-Haushaltslücke dürfen keinen Vorwand dafür liefern, dass wir unsere Ambitionen zurückschrauben. Für kein Mitgliedsland.
 

Tagesspiegel: Sollte die Bundesregierung die Politik der schwarzen Null aufgeben - auch um mehr Geld nach Brüssel überweisen zu können?

Jean Asselborn: Europa, die Euro-Zone und Deutschland brauchen momentan mehr Investitionen. Deutschland hat ja den nötigen Spielraum, weil die Gesamtverschuldung unter die im Maastricht-Vertrag erlaubte Grenze von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung gesunken ist. Ich will mich nicht in die innerdeutsche Debatte über die Haushaltspolitik einmischen. Nur so viel: Die Schuldenbremse ist zwar im Grundgesetz verankert, aber die schwarze Null stellt eine politische Vereinbarung dar. Nach allem, was man hört und liest von Ökonomen sowie von Gewerkschaftern und Arbeitgebern, wird die schwarze Null mittlerweile fast einhellig in Frage gestellt. Wenn DGB, BDI und namhafte Wirtschaftsexperten zusätzliche Investitionen über die schwarze Null hinaus fordern, dann ist das der Beweis, dass inzwischen alle den Ernst der Lage erkannt haben. Die Null dürfte röter werden, ohne dass es zur Haushaltskatastrophe kommt - wenn ich mir dies erlauben darf zu sagen.
 

Tagesspiegel: Am 12. Dezember wählen die Briten ein neues Parlament. Wem trauen Sie den Wahlsieg eher zu - dem amtierenden Regierungschef Boris Johnson oder dem Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn?

Jean Asselborn: Der Ausgang der Parlamentswahlen ist sehr schwer vorauszusagen. Laut Umfragen haben die Tories von Boris Johnson im Moment einen Vorsprung von 14 Prozentpunkten vor der Labour-Partei von Jeremy Corbyn. Das sagt nicht unbedingt viel aus, denn unmittelbar vor den Unterhauswahlen von 2017 hatte die damalige Regierungschefin Theresa May einen noch größeren Vorsprung in den Umfragen. Sie schaffte es trotzdem nicht zu einer Mehrheit im Parlament.
 

Tagesspiegel: Droht Johnson jetzt dasselbe Schicksal?

Jean Asselborn: Es ist denkbar, dass es keiner Partei gelingt, bei der Wahl die absolute Mehrheit der Parlamentssitze zu erringen. Welche negativen Konsequenzen das hat, haben wir ja in der Vergangenheit zur Genüge erlebt.
 

Tagesspiegel: Hand aufs Herz: Halten Sie es tatsächlich für möglich, dass die britische Austrittsentscheidung noch einmal rückgängig gemacht wird?

Jean Asselborn: Im letzten EU-Beschluss wurde Ende Oktober explizit noch einmal darauf hingewiesen, dass das Vereinigte Königreich das Austrittsgesuch jederzeit wieder zurückziehen kann. Das hat ja auch der Europäische Gerichtshof deutlich gemacht. Dass das Vereinigte Königreich in der EU bleibt, ist also immer noch möglich - auch wenn dies derzeit eher unwahrscheinlich klingt. Offen gesagt wäre ein Verbleib Großbritanniens in der EU aber mein bevorzugtes Szenario.
 

Tagesspiegel: Zu denen, die beim Brexit offenbar lieber ein Ende mit Schrecken als einen Schrecken ohne Ende wollen, gehört Macron. Halten Sie es für denkbar, dass Frankreichs Präsident einem "No Deal"-Brexit zum 31. Januar den Wen bereitet falls nach den Unterhauswahlen immer noch keine Klarheit herrschen sollte?

Jean Asselborn: Die Wahrscheinlichkeit eines Austritts ohne Abkommen ist momentan geringer als noch vor ein paar Monaten. Trotzdem: Ein "No Deal"-Brexit ist nicht komplett ausgeschlossen. Wir müssen weiterhin vorsichtig sein. Frankreichs Präsident hat mehrmals klargemacht, dass seine Geduld Grenzen hat. Und er ist hier nicht der Einzige. Ich habe Verständnis dafür, wenn Macron das Gezerre um den Brexit nicht ewig fortsetzen will. Ich verstehe allerdings auch diejenigen, die eine Politik des kleineren Übels wählen, um wirtschaftlichen und sozialen Schaden von ihrem eigenen Land abzuwenden.
 

Tagesspiegel: Wird die Europäische Union französischer werden, wenn die Briten eines Tages draußen sind?

Jean Asselborn: Die EU wird nicht unbedingt französischer, deutscher oder gar luxemburgischer werden, sondern - was ganz offensichtlich ist - weniger britisch. In Luxemburg sehen wir dies durchaus mit Bedauern. Die Sichtweise des Vereinigten Königreichs auf Europa und die Welt - offene Märkte, freier Handel, eine effektive Regulierung - wird Europa durchaus fehlen. Wir werden den britischen Pragmatismus vermissen, sofern er überhaupt noch existiert.

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