Interview von Jean Asselborn in der Revue

"Solidarität gefragt"

Interview: Revue (Stefan Kunzmann)

Revue: Herr Asselborn, Luxemburg ist das erste von einigen Ländern der Europäischen Union, die bereit sind, Kinder und Jugendliche aus griechischen Flüchtlingslagern aufzunehmen. Wie kam es zu diesem Durchbruch?

Jean Asselborn: Ich arbeite seit einem Monat ziemlich zäh mit der griechischen Regierung, dem UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) und mit unserer Botschaft vor Ort daran, dass wir zehn Flüchtlingskinder pro halbe Million Einwohner aufnehmen. Das UNHCR führte dazu die Befragungen durch und machte mir einen konkreten Vorschlag. Das musste wiederum koordiniert werden mit dem, was die griechische Regierung will. Vor etwa einem Monat haben wir bereits einen ersten Anlauf unternommen und nun einen zweiten. Gestern (Anm. d. Red.: am vergangenen Samstag) sprach ich nochmals mit dem griechischen Außenminister Nikos Dendias, heute mit dem UNHCR, dass die Kinder nach den Befragungen ausgesucht hat. Nun müssen die Kinder noch von den griechischen Inseln aufs Festland gebracht werden, was nur zusammen mit der griechischen Regierung möglich ist. Mit der Internationalen Organisation für Migration (I0M) wiederum haben wir vereinbart, dass uns ein Flugzeug zur Verfügung gestellt wird, welches die Jugendlichen nach Luxemburg bringt. Hier übernehmen die Caritas und das Office National de l'Enfance (ONE) die Koordination für die Unterbringung. In den Zeiten der Corona-Krise kann sich zwar stündlich etwas ändern. Aber ich wurde von allen Seiten ermutigt und bin überzeugt, dass es gelingt, auch wenn es extrem schwierig ist, wenn man selbst nicht vor Ort sein oder keinen Staff dorthin schicken kann. Aber wenn man die Bilder von den Flüchtlingslagern sieht, wird einem klar, dass es höchste Zeit ist.

Revue: Luxemburg nimmt elf Kinder auf. Ebenso sollen es weitere sieben Länder tun. Warum ziehen andere nicht mit?

Jean Asselborn: Es gibt keinen Grund für ein europäisches Land, nichts zu unternehmen. Zehn Kinder pro halbe Million sind überhaupt kein Problem. Es kommt zu keinem Pull-Effekt, denn es kommen keine Flüchtlinge auf die griechischen Inseln mehr nach. Dieses Argument gibt es nicht mehr. Wenn die EU noch eine letzte humanistische Ader hat, müssten 26 Länder doch bereit sein, diese kleine Last auf sich zu nehmen. Die Europäer 'schafften es auch, im Zuge der Corona-Krise Hunderttausende ihrer Landsleute aus der ganzen Welt zurückzuholen, ohne dass sie darin eine Gefahr sahen. Selbstverständlich sind die Kinder auch vom UNHCR medizinisch untersucht worden und kommen für kurze Zeit in Quarantäne. Dem Ganzen kann also nichts im Wege stehen.

Revue: Muss die EU nicht auch anders umgehen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan? Er hat schließlich Anfang März wieder die Grenzen für Flüchtlinge nach Europa geöffnet.

Jean Asselborn: Diese jungen Menschen, um die es geht, stammen zum großen Teil aus Afghanistan (40 Prozent), Pakistan (20 Prozent), Syrien (zehn Prozent) und anderen Ländern. Das alles auf Erdogan zu reduzieren, wäre falsch. Erdogan hat die EU erpresst mit der Drohung, die Grenzen zu Griechenland zu öffnen. Erpressung ist keine Methode, die wir in der Politik akzeptieren können. Andererseits müssen wir sehen, dass es kein anderes Land auf der ganzen Welt gibt, dass so viele Flüchtlinge aufgenommen hat. In der Türkei sind 3,5 Millionen Syrer sowie Iraker und Flüchtlinge aus anderen Ländern. Die Türkei trägt eine unheimliche Last. Wir teilen diese Last nicht im Interesse von Erdogan, sondern im Interesse der Flüchtlinge, wenn wir dort Schulen und Krankenhäuser bauen lassen. Dies weiter zu tun, ist unsere Pflicht und Verantwortung. Erdogan hat durch sein militärisches Eingreifen in Syrien die Flüchtlingsströme in sein Land sogar zum Teil selbst verschuldet. Wenn diese Corona-Krise überhaupt etwas Positives hat, dann ist es die Waffenruhe in Syrien. Und ich glaube, dass wenn das Virus einmal besiegt ist, dass ein Waffenstillstand möglich ist. Denken wir an Idlib und das Schicksal der Menschen dort.

Revue: In der Corona-Krise hat die EU bisher kein gutes Bild abgegeben. Droht sie daran zu zerbrechen?

Jean Asselborn: Nein! In der EU leiden zurzeit mit Italien und Spanien zwei Länder ganz besonders. Wenn die EU eine wirkliche Union ist, dann muss sie genau und mit Gefühl verfolgen, was vor allem in diesen beiden Ländern geschieht. Es gibt richtige Ansätze: Die Europäische Zentralbank (EZB) hat — was es noch nie gab — ein Programm von 750 Milliarden Euro vorgelegt. Für die Staaten, die Schulden machen, werden die Spreads reduziert. Zweitens wurde erstmalig der Stabilitäts- und Wachstumspakt außer Kraft gesetzt. Drittens mobilisierte die Europäische Investitionsbank (EIB) 40 Milliarden Euro, dies für Überbrückungskredite für kleine und mittelgroße Betriebe vorgesehen sind. Dann gibt es noch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Das sind 410 Milliarden Euro. Die EU-Finanzminister kommen diese Woche zusammen und diskutieren (nach Redaktionsschluss, Anm. d. Red.), über mehr Effizienz des ESM. Hier geht es auch darum, dass man eine gewisse Flexibilität in der Konditionalität zeigt. Hinzu kommt die Debatte um die Corona-Bonds — ein Wort, das man vor allem in Deutschland und den Niederlanden nicht gerne hört. Ich persönlich glaube, dass wenn die Krise noch länger dauern sollte, man eine europäische Solidarität auch in Finanzierungsdingen zeigen muss, wenn die genannten Instrumente zur Finanzierung des wirtschaftlichen und finanziellen Einbruchs nicht genügen sollen. Wir haben in der Frage der Rechtsstaatlichkeit den großen Zwist zwischen Ost und West, wir können nicht auch noch Differenzen in Finanzfragen zwischen Nord und Süd gebrauchen. Diese Krise ist nicht wie die Finanzkrise selbst verschuldet. Sie betrifft alle, also sollten auch alle Solidarität zeigen, damit in keinem EU-Land die Arbeitslosigkeit auf 30 bis 40 Prozent steigt.

Revue: Wo die EU bisher versagt hat, war in der Schließung der Grenzen. Diesbezüglich haben Sie vor allem Deutschland und Österreich stark kritisiert. Bedeuten die Grenzschließungen nicht schon ein Ende des Schengener Abkommens, ausgerechnet zu dessen 25-jährigem Jubiläum?

Jean Asselborn: Wir haben in der EU schnell einen Konsens gefunden, um die äußeren Grenzen des Schengen-Raums zu schließen, um dann die inneren Grenzen nicht zu schließen. Die Grenze mit Deutschland ist zwar für die Grenzgänger geöffnet, was viel Einsatz gekostet hat. Trotzdem ist es unverständlich, dass an der Our und an der Sauer Dörfer voneinander abgeschnitten sind. Ich hoffe, dass von Rheinland-Pfalz und im Saarland genügend Druck gemacht wird, um ein Einlenken in Berlin zu finden. Denn wenn Schengen fällt, dann fällt auch Europa in den Köpfen der Menschen. Schengen ist etwas, wofür wir in der ganzen Welt beneidet werden. Nun hingen Menschen, die aus Nord-und Südamerika, Afrika und Asien zurückkamen, in europäischen Flughafen tagelang im Transit, um in ihr jeweiliges Heimatland zu kommen. Manche Fluggesellschaften nahmen nur die Passagiere mit der Nationalität der Fluggesellschaften mit, was diskriminierend war. Und wir sahen, dass medizinische Güter gestohlen wurden. Andererseits gibt es auch gute Seiten, wenn zum Beispiel Deutschland und Luxemburg Covid-19-Patienten aus Frankreich und Italien aufnehmen. Das ist das Europa des Mitgefühls. Aber das institutionelle Europa ist manchmal ein sehr kaltes.

Revue: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban nutzte die Corona-Krise, um mit dem Notstandsgesetz das ungarische Parlament faktisch auszuschalten. Sie haben gefordert, Ungarn aus den europäischen Institutionen auszuschließen.

Jean Asselborn: Orban zeigt nicht erst jetzt sein wahres Gesicht, sondern schon seit 2010. Wenn ein Notstandsgesetz begleitet wird von einem Gesetz, das die Freiheit der Meinung und der Medien beschneidet, dann gehört so etwas nicht in die Europäische Union. Außerdem kann es in einer Demokratie auch kein Notstandsgesetz ohne Verfallsdatum geben. Was also heißt, dass wir im EU-Ministerrat mit einer Regierung am Tisch sitzen, die nicht mehr von ihrem Parlament kontrolliert wird. Die EU hat bei Orban viel zu lange gezögert. Er hat immer wieder einen Schritt zurück getan, wenn es nötig war, wie bei der Echternacher Springprozession, aber Orban war immer der Sieger. Er hat in seinem Land mehrmals die fundamentalen Rechte der EU beschnitten. Ich sehe eine Unverträglichkeit seiner Politik mit den europäischen Verträgen. Deshalb muss ein Schlussstrich gezogen werden. Es kann nicht sein, dass wir die EU weiter "orbanisieren" und später eine EU haben, in denen die Grundrechte nicht mehr respektiert werden. Der Frieden in Europa wird nur garantiert für die kommenden Generationen, wenn wir nach den Grundregeln der Demokratie leben, zu denen der Respekt der Unabhängigkeit der Justiz sowie die Freiheit der Presse und der freien Meinungsäußerung gehören. Wenn das aber nicht mehr der Fall ist und die Rechtsstaatlichkeit verbogen wird, dann ist der Friede nicht mehr garantiert. Und das dürfen wir unseren Kindern nicht antun.

 

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