Interview von Jean Asselborn im Deutschlandfunk "Flüchtlinge in Griechenland: Kinder nicht auf den Müllhalden verkommen lassen"

Interview: Deutschlandfunk (Philipp May)

Deutschlandfunk: Ist in der Krise in Europa kein Platz mehr für Solidarität mit den Schwächsten?

Jean Asselborn: Wir zeigen ja heute hier in Luxemburg mit der Aufnahme von zwölf Minderjährigen, die nicht begleitet sind, und wir senden ein Signal aus, das, glaube ich, selbstverständlich ein Anfang ist. Der Anfang ist gemacht. Wir haben diese Diskussion angefangen an Weihnachten über die minderjährigen Kinder, sie von den Inseln herunterzunehmen, nach Europa zu nehmen. Es ist Ostern. Wir haben angefangen, konkret etwas umzusetzen. Ich glaube, das ist ein Quäntchen Solidarität, was wir den Griechen gegenüber geben müssen, auch den Flüchtlingen, den minderjährigen Menschen zeigen, und dass Corona vieles blockiert, aber nicht alles, wenn das umzusetzen ist, was umgesetzt werden muss. Das ist, glaube ich, das Signal, was wir heute aus Luxemburg in Europa aussenden.

Deutschlandfunk: Sie sagen es: Sie nehmen zwölf unbegleitete Kinder auf. Ich glaube, Deutschland ist nachgezogen. Ende der Woche sollen 50 weitere nach Deutschland kommen. Das sind, zusammengerechnet, 62 von 1600 Kindern. Das ist ja wirklich ein sehr, sehr kleines Quäntchen Solidarität.

Jean Asselborn: Ja, Herr May. Es gibt keinen Grund, Minderjährige verkommen zu lassen auf den Müllhalden der Inseln in Griechenland. Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt, das wissen Sie. Dazu gehört Menschlichkeit, Mitgefühl – Qualitäten, die, glaube ich, an der Wiege standen nach dem Krieg, als die Europäische Union gegründet wurde, und die müssen auch weiterhin stehen für die Generationen, die kommen. Es gibt, glaube ich, neben Luxemburg und Deutschland – Deutschland will das ja auch umsetzen, sehr schnell, jedenfalls den Anfang – Frankreich, Irland, Portugal, Finnland, und ein Land, was nicht EU-Mitglied ist, aber schon viel gemacht hat in Migrationssachen in Europa, ist die Schweiz. Ich bin jetzt nicht so pessimistisch, dass wir das nicht schaffen. Ich kann natürlich nicht für die ganze Europäische Union reden, aber wenn die Europäische Union sich noch in den Spiegel schauen will, dann, glaube ich noch einmal, gibt es kein Land, das einen Grund hat, hier nicht mitzuhelfen.

Deutschlandfunk: Aber noch mal: Was ist jetzt mit den 1538 Kindern, die noch fehlen?

Jean Asselborn: Ich habe Ihnen ja gesagt, es sind andere Länder, die interessiert sind. Ich glaube, wir zeigen, dass es auch in Corona-Zeiten möglich ist, dies hinzubekommen, eines der kleinsten Länder der Europäischen Union. Wenn die das hinbekommen, dann müssen andere das auch machen. Der Wille ist da; wir müssen das jetzt umsetzen. Sie wissen, dass dauernd dieser Pull-Effekt in die Vitrine gestellt wird. Das ist eine Logik, die eigentlich als Konklusion hat, als Schlussfolgerung hat, man muss die Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen und man muss alles, was in Griechenland zum Beispiel sich abspielt, oder in Libyen sich abspielt, hinter dem Panzerglas der Gefühle sehen und einfach ignorieren. Ich glaube, wir sind in der Europäischen Union in vielen Ländern mit gedrosseltem Ehrgeiz an diese Flüchtlingsfrage herangegangen, nicht Deutschland, bestimmt nicht, aber das muss sich ändern, glaube ich. Das muss sich ändern und ich hoffe, dass die Europäische Kommission einen Vorschlag macht, der umsetzbar ist.

Deutschlandfunk: Aber Corona scheint, den Ehrgeiz eher noch weiter zu drosseln.

Jean Asselborn: Ja! Ich habe das ja gesehen jetzt in den Bemühungen. Das hat einige Wochen gedauert, um die Kinder aus Griechenland überhaupt rauszubekommen. Das ist alles nicht ohne! Das ist nicht so einfach. Ich muss sagen, dass die griechische Regierung und auch das UNHCR, das UNO-Flüchtlingswerk vor allem sich Mühe gegeben haben, dass wir imstande sind, das umzusetzen, dass auch die IOM – das ist die Organisation für Migration der UNO –, dass sie ein Flugzeug zur Verfügung gestellt haben. All das waren Schwierigkeiten, aber wir haben gezeigt, dass es geht, und dann muss es auch in größeren Ländern gehen.

Deutschlandfunk: Was mich nur wundert: Nun haben wir gerade in der Corona-Krise erlebt, was in den letzten Wochen alles möglich war, was sonst total kompliziert ist. Da wurden 100.000 und mehr noch europäische Touristen aus allen Teilen der Welt zurückgeholt beispielsweise, aber bei so einer überschaubaren Zahl von Minderjährigen wird es auf einmal kompliziert. Verstehen Sie das?

Jean Asselborn: Ich muss wirklich da nicht schlecht verstanden werden. Ich habe das schon gesagt. Ich wollte sagen, in Punkto Sicherheit ist es so, dass wir ja effektiv Hunderttausende Menschen, die auf anderen Kontinenten waren, nach Europa, in europäische Länder zurückgebracht haben, und das ist auch gut so und richtig so. Dann dürfte es auch aus Sicherheitsgründen nicht unmöglich sein, ein paar hundert Jugendliche aus Griechenland, aus den griechischen Inseln nach Europa, in europäische Länder zu bringen. Das war der Punkt, den ich gesagt habe. Es ist nicht so, dass ich hier vergleiche die Deutschen, die im Ausland waren, mit Flüchtlingen in Griechenland. Das war nicht das, was ich sagen wollte. Wenn wir das schaffen, Hunderttausende zurückzubringen, in Sicherheit – diese Kinder, die ankommen heute, sind alle getestet und die müssen natürlich auch jetzt in Luxemburg 14 Tage in Quarantäne gehen.

Deutschlandfunk: Jetzt habe ich es gerade schon in der Anmoderation erwähnt. Die Situation in den Flüchtlingslagern, die unbegleiteten Kinder auf den griechischen Inseln ist das eine. Das andere ist der Druck, der jetzt wieder verstärkt zunimmt auf dem Mittelmeer, mit dem Frühling, mit dem besseren Wetter, mit den immer verheerenderen Zuständen in den Lagern in Libyen. Jetzt haben Italien und Malta gesagt, dass sie derzeit wieder aus der Seenotrettung aussteigen und ihre Häfen wieder dichtmachen, aufgrund der Corona-Krise. Können Sie das nachvollziehen?

Jean Asselborn: Deutschland und Luxemburg, wir haben ja die Chance, dass wir geographisch nicht im Süden an der Grenze liegen. Wir haben, ich glaube, zwei große Probleme. Das eine Problem ist natürlich Libyen und man kann nicht von Italien und Malta die alleine lassen und ihnen sagen, ihr müsst die Häfen öffnen, aber wenn es dann dazu kommt, die Last zu verteilen, schauen alle anderen europäischen Länder oder viele von ihnen schauen auf die andere Seite. Das geht nicht. Darum glaube ich, dass man vor allem in Corona-Zeiten, was Libyen angeht, wo ja die meisten Menschen noch herüberkommen, dass man hier zwischen der Europäischen Union und der UNO wirklich sich zusammenrauft und diejenigen Menschen, die in Libyen sind und Recht auf Schutz haben, dass man die über Resettlement-Programme nach Europa bringt und dass man die anderen, die kein Recht auf Schutz haben, dass man die in ihre respektiven Länder zurückführt. Das funktioniert schon, aber es funktioniert nicht stark genug in Libyen. Was Griechenland angeht: Ich glaube, dass jetzt der Moment auch wäre, dass man dieses Elend auf den Inseln, dass man das in den Griff bekommt und die Menschen auf das Festland transferiert – natürlich nicht Griechenland allein. Da muss die Europäische Union sehr stark mithelfen und dann auch da, glaube ich, die, die Recht haben auf Schutz, dass die in Europa verteilt werden und die anderen, dass die in ihre Länder zurückgeführt werden. Das, glaube ich, ist jetzt der Moment, das hinzubekommen. Das geht aber nur, wenn der politische Wille da ist, wirklich einzusehen, dass das Menschen sind und dass man mit Menschen so umgeht, dass vor allem Jugendliche trotzdem ein Recht haben auf ein Leben ohne Angst und ein Leben in Würde.