Interview mit Paulette Lenert im Télécran

"Ich bin noch geduldiger geworden"

Interview: Télécran (Martina Folscheid)

Télécran: Wann haben Sie zum ersten Mal gedacht, dass der Menschheit eine große Gefahr droht? Gab es einen Schlüsselmoment?

Paulette Lenert: Das war Anfang März, als die Gesundheitssysteme in Italien an ihre Grenzen stießen. Da sah man ja schon sehr früh diese Bilder. Bis dahin hätte ich mir nicht vorstellen können, dass sich das Virus in Europa so schnell ausbreiten könnte. Ich dachte schon, dass das Virus nach Europa kommt. Aber dass es so schnell so zuschlagen würde, das war ein Aha-Effekt. Als die Zahlen dann im Grand-Est so sehr stiegen, wusste man, jetzt steht das Virus vor der Tür.

Télécran: Wie hat die Pandemie Sie persönlich verändert?

Paulette Lenert: Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, ich bin insgesamt noch geduldiger geworden. Es handelt sich um eine Situation, die sehr, sehr viel Geduld fordert, weil sehr viel Ungewissheit herrscht.

Und die Menschen drängen auf Erklärung, möchten Gewissheit haben. Von daher ist es schon sehr wichtig für einen selbst, Geduld zu bewahren. Ich würde sagen, in dem Punkt habe ich noch eine Schippe draufgelegt.

Télécran: Sie sind also ohnehin ein geduldiger Mensch?

Paulette Lenert: Ich bin ein ruhiger Mensch. Ich höre erst mal zu und bilde mir dann eine Meinung. Man wirft mich nicht so schnell aus der Bahn. Aber das braucht es auch. Es gibt ja immer wieder neue Entwicklungen und es bereitet Angst, wenn die Zahlen steigen. Es fordert einem schon viel ab, sich zu sagen, jetzt warten wir mal ab, jetzt analysieren wir das mal genau.

Télécran: Wenn Sie persönlich in die Zukunft blicken - stellen Sie sich dann in Ihren Gedanken eine Welt ohne Corona vor?

Paulette Lenert: Ja, absolut. Ich bin überzeugt, dass das jetzt irgendwann vorbei sein wird. Es ist für mich ganz klar eine böse Phase, die wir durchmachen, aber die hat ganz klar ein Ende.

Télécran: Sobald der Impfstoff da ist, können wir aufatmen?

Paulette Lenert: Es gibt mehrere Aspekte. Der Impfstoff, die Medikamente, und auch der Umgang damit. Wir müssen lernen, mit solch einem Virus umzugehen. Es fordert ja nichts Unmenschliches von uns, sondern es fordert ein Umdenken von jedem Einzelnen, was unsere Gewohnheiten angeht. Das ist schwierig, aber machbar. Von daher denke ich, dass wir alle sehr gut lernen können, den geforderten Abstand zu wahren, damit das Virus sich nicht mehr so schnell weiter ausbreitet.

Télécran: Sie glauben also nach wie vor daran, dass es möglich ist, die Nicht-Überzeugten zu überzeugen?

Paulette Lenert: Ja, ich hoffe es immer noch. Die Zahlen steigen ja überall wieder in Europa, und es wird meiner Meinung nach auch immer wieder mal ein Aufflammen der Infektionszahlen geben. Nach einer ersten Phase waren wir sehr schnell wieder im grünen Bereich mit sehr niedrigen Zahlen über lange Zeit, was dazu führte, dass man die Gefahr ein bisschen verdrängte. In Luxemburg wurden wir in gewissem Sinne verschont mit einer geringen Zahl an Sterbefällen. Nicht jeder kennt jemanden, der erkrankt war. Aber jetzt wird die Pandemie wahrscheinlich notgedrungen wieder präsenter.

Sobald man jemanden kennt in seinem Umfeld, der schwer an Covid-19 erkrankt ist, wird es realistischer...

Ich habe das gemerkt, wenn ich mit Menschen gesprochen habe, die einen Erkrankten in ihrem Freundes- oder Familienkreis hatten - auch wenn derjenige nicht hospitalisiert war. Sie haben einen ganz anderen Respekt vor Covid-19.

Télécran: Finden Sie es streng genug, private Zusammenkünfte auf zehn Personen zu begrenzen? Hätte man die Zahl nicht besser stärker gesenkt?

Paulette Lenert: Nicht die Zahl ist ausschlaggebend, sondern das Verhalten. Unsere Empfehlungen sind ja unabhängig von einer Zahl.

Man soll auch in sehr kleinem Kreis den empfohlenen Abstand wahren.

Wir müssen bei der Sensibilisierung noch einen stärkeren Akzent darauf setzen. Die Botschaft lautet nicht "Unter zehn ist okay". Nein, es ist eigentlich nie okay, wenn man die Distanz nicht einhält. Man kann sich auch in einer Gruppe von zwei oder drei Leuten anstecken. Dieser Reflex, dass man nach Möglichkeit die Distanz wahrt, ob im großen oder kleinen Kreis, dieser Reflex muss verstanden werden. Dann nämlich ist es irrelevant, ob es eine Obergrenze gibt oder nicht.

Télécran: In Ländern wie Deutschland müssen Gäste in Gastronomiebetrieben zur schnelleren Kontaktverfolgung ihre Adresse hinterlassen. Warum folgt Luxemburg diesem Beispiel nicht?

Paulette Lenert: Ich bin nicht überzeugt, dass diese Praxis bahnbrechende Ergebnisse bringen wird. Ich habe bisher auch noch keine Rückmeldungen, was den Erfolg dieser Maßnahme angeht. Es gibt keine zentrale Datenbank, es setzt also voraus, dass man als infizierte Person im Restaurant Bescheid sagt. Für mich ist es ausschlaggebender, dass jeder Einzelne so genau wie möglich weiß und angeben kann, mit wem er zusammen war.

Télécran: Sie setzen also auf Eigenverantwortung?

Paulette Lenert: Das "Tracing" findet sein natürliches Limit in der Zahl der Kontakte, die die Menschen hatten. Wenn die überschaubar ist, wenn es sich um fünf, sechs oder sieben Kontakte handelt, kann man diese innerhalb kurzer Zeit kontaktieren und isolieren. Aber wenn man tagtäglich mit zehn oder mehr Menschen zusammen war, dann weiß man das im Nachhinein einfach nicht mehr.

Da sind wir wieder bei der Grundverhaltensänderung, dass man nicht so unbeschwert Kontakte pflegt, und dass man am besten Buch darüber führt.

Das müssen wir erst lernen.

Télécran: Müsste es Ihrer Ansicht nach eine stärkere Zusammenarbeit der Staats-und Regierungschefs in Europa geben, um die Zahl der Infektionen in ganz Europa dauerhaft gen Null zu drücken?

Paulette Lenert: Es gibt bereits einen starken Austausch, bei dem jedes Land seine Strategien vorstellt. Aber es stimmt, sie driften etwas auseinander, aber auch, weil ganz Europa überrumpelt wurde, weil es gar keine Zeit zum Absprechen gab.

Dann ist man erst mal bei sich. Natürlich würde ich mir wünschen, dass unser Vorgehen einheitlicher wäre. Aber die zur Verfügung stehenden Mittel sind unterschiedlich.

Télécran: Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, um Luxemburgs Gesundheitssystem im Kampf gegen Corona besser aufzustellen - welche drei wären es?

Paulette Lenert: Mehr Unabhängigkeit im Gesundheitswesen. Wir sind sehr abhängig von Pflegepersonal aus dem Ausland, oder von Schutzmaterial, das nicht hier produziert wurde. Dann würde ich mir auch ein besser vernetztes Gesundheitssystem wünschen. Da ist noch sehr viel Luft nach oben. Es wäre sehr hilfreich, wenn man die digitale Komponente komplett ausspielen könnte und perfekt vernetzt wäre mit sämtlichen Akteuren. Drittens dann der Gesundheitstisch, der eigentlich angestanden hätte. Ich würde mir wünschen, einen erfolgreichen Gesundheitstisch schon hinter mir zu haben. Dann hätten wir sicherlich eine sehr gute Basis für eine Zusammenarbeit, die wir uns jetzt noch erarbeiten müssen. Aber es war schon eine sehr gute Erfahrung während der Krise, alle haben gut zusammengestanden. Insofern bin ich optimistisch für den Gesundheitstisch.

Télécran: Was entgegnen Sie Verschwörungstheoretikern?

Paulette Lenert: Wenn ich ehrlich bin, nichts. Weil ich nicht im Dialog mit ihnen stehe. Ich denke, dass man am besten bei der Realität bleibt und sachlich weiterarbeitet. Ich glaube nicht daran, dass der Dialog mit Verschwörungstheoretikern fruchten würde.

Télécran: Macht es Ihnen denn Angst, dass es immer mehr krude Theorien rund um das Virus gibt, die immer mehr Anhänger finden?

Paulette Lenert: Ich glaube, die gibt es immer und wir sind in einer schwierigen Situation mit schwer zu ertragender Unsicherheit und Ungewissheit, die einen guten Nährboden für Verschwörungstheorien bietet. Wir müssen aus der Krise herauskommen, und darauf verwende ich all meine Energie, und dann wird sich das Phänomen auch wieder legen.

 

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