Interview von Jean Asselborn im Deutschlandfunk "Was sich in Belarus abspielt, ist Staatsterrorismus"

Interview: Deutschlandfunk (Christoph Heinemann)

Deutschlandfunk: Wir beginnen mit Belarus: Was werden Sie heute vorschlagen?

Jean Asselborn: Lassen Sie mich nur ein Wort sagen: Ich glaube, was sich in diesem Land abspielt, ist Staatsterrorismus. Es ist ein brutales Vorgehen gegen die Regeln und auch die natürlichen Gesetze einer freiheitlichen Gesellschaft. Es ist Diktatur. Ich will vorwegsagen, weil Sie auch ein Land angesprochen haben — Ungarn: Wir müssen aufpassen, es gibt ja Politiker, die mit diesem Illiberalismus jonglieren, das heißt, dass die Presse nicht ganz frei sein muss, die Justiz nicht ganz frei, die Meinungsäußerung, und der nächste Schritt ist dann, dass Wahlen eine Maskerade werden. Wir müssen aufpassen in der Europäischen Union, dass wir nie in diese Situation kommen. Hier haben wir heute mit Weißrussland damit zu tun. Was wir tun können: Sie wissen vielleicht, dass wir schon ein Waffenembargo haben gegen Weißrussland, auch Polizeimittel, die gegen Repression eingesetzt werden können, an dieses Land zu liefern, ist verboten. Was wir jetzt tun können: Wir müssen aufpassen, glaube ich, dass wir die Zivilgesellschaft nicht treffen. Reiseverbot, Guthaben einfrieren gegen die, die politische Verantwortung haben, das ist eine Möglichkeit. Wir brauchen natürlich alle — und ich hoffe, dass Ungarn wirklich nicht wieder einmal einen Strich durch die Rechnung macht —, wir müssen vielleicht auch die Menschen, die jungen Menschen mehr durch Erasmus-Programme unterstützen. Wir haben den UNO-Sicherheitsrat zur Verfügung, und wir haben auch die OSZE. Ich bin auch sehr enttäuscht, Herr Heinemann, dass China und Russland in dieser Situation — eben zwei Länder des Sicherheitsrats — gratuliert haben.

Deutschlandfunk: Herr Asselborn, was folgt daraus jetzt konkret für das heutige Treffen oder die Schaltkonferenz der Außenministerinnen und Außenminister, was werden Sie beschließen?

Jean Asselborn: Ich glaube, dass wir — das müssen wir ja schauen, wir sind ja keine Diktatur —, wir werden das diskutieren, aber auf die andere Seite schauen, nichts tun, das geht nicht.

Deutschlandfunk: Ja, gut, aber das ist ja typisch EU. Die Erklärung des Außenbeauftragten, Josep Borrell, darf ich gut zitieren: "Wir werden die Entwicklungen weiterhin sehr genau verfolgen, um dann zu beurteilen, wie eine Antwort und die Beziehung der EU zu Belarus auszugestalten sind." Das klingt nach Wattebällchen.

Jean Asselborn: Wir werden als Europäische Union die Demokratie in diesem Land nicht herstellen können. Wir können ja nur Druck ausüben. Wir haben nicht allzu viele Mittel, denn es sind in den letzten Jahren 170 Millionen in dieses Land geflossen, das ist im Rahmen der östlichen Partnerschaft. Aber was wir machen müssen, ganz klar, das ist, was ich angedeutet habe, dass wir wirklich Sanktionen gegen die Verantwortlichen iri diesem Land beschließen. Dafür brauchen wir Einstimmigkeit, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Land der Europäischen Union sagt, okay, das ist alles in Ordnung, was da geschehen ist, wir machen so weiter. Das geht nicht. Wir müssen wissen, dass die Menschen in Weißrussland sehr stark oder sehr viel an die Europäische Union glauben und dass sie auf Unterstützung hoffen, politische Unterstützung. Das ist ja das, was wir geben können, und das werden wir auch tun, davon bin ich überzeugt.

Deutschlandfunk: Und was, wenn Ungarn Sanktionen blockiert?

Jean Asselborn: Ja, wissen Sie, das wäre fatal, fatal. Das wäre nicht erste Mal, dass Ungarn so etwas macht. Ich will mich nicht in diese Situation jetzt versetzen. Ungarn hat gezögert einen gewissen Moment, als die Deklaration von Borrell vorbereitet wurde, aber hat sie dann akzeptiert, und ich hoffe, dass sie auf dieser Linie bleiben.

Deutschlandfunk: Wie fest sitzt Lukaschenko im Sattel?

Jean Asselborn: Ja, also die Einzigen, die Lukaschenko aus dem Sattel heben können, sind die Belarussen selbst. Das, glaube ich, kann nicht von außen gesteuert werden. Wir wissen, dass diese Politik einmal mehr mit Russland, dann wieder gegen Russland, wenn es um die Energie geht, aber jedes Mal, wenn Wahlen sind, sind sie auf der Seite Russlands, als auf der Seite der Europäischen Union. Dieser Lukaschenko, der hat gelernt in der UdSSR, und er hat nie verstanden, dass die Welt sich geändert hat.

Deutschlandfunk: Herr Asselborn, Viola von Cramon, die für die Grünen im Europäische Parlament sitzt, sieht das ganz anders. Sie hat gesagt, Lukaschenko habe seine Familie bereits in die Vereinigten Arabischen Emirate bringen lassen, und sie rechnet offenbar mit einem raschen Ende seiner Herrschaft. Sollte die EU Lukaschenko ein Angebot machen?

Jean Asselborn: Das Angebot, was wir machen können, ist ein Angebot, dass ein Dialog stattfindet, ein Dialog mit dieser sehr tapferen Frau, die ja zurzeit in Litauen ist, mit der Zivilgesellschaft, das ist das, was wir machen sollten.

Deutschlandfunk: Sollte man sie als Präsidentin anerkennen?

Jean Asselborn: Das ist eine schwierige Frage, sehr schwierige Frage. Wir haben ja gesehen, zu was das führen kann — nehmen Sie das Beispiel Venezuela. Nein, wir müssen darauf pochen, dass diese Wahlen illegal sind, dass dieses Resultat gestohlen ist und dass wir darauf pochen, dass die elementarsten Regeln der Demokratie eingehalten und dass ein Dialog stattfindet, Neuwahlen stattfinden und dann das mit dem Resultat in Zukunft dann mit diesem Land auch selbstverständlich wieder andere Beziehungen aufbauen.

Deutschlandfunk: Wie könnte in Minsk eine demokratische Regierung an die Macht gelangen, ohne dass Russland Belarus in eine zweite Ukraine verwandelt?

Jean Asselborn: Wenn Sie das so sehen, wenn das so ist möglicherweise, dann geben wir ja auf. Wir dürfen nicht aufgeben. Wir dürfen nicht hinnehmen, was jetzt geschehen ist, und nichts tun, weil wir Angst haben, etwas Schlimmeres könnte noch geschehen. Also das, was da geschieht, das muss man sich ja vorstellen, auch wenn jetzt ein kleiner, wie sagt man das, ein Rückzug von diesen Machthabern da gemacht wird, dass Menschen wieder aus dem Gefängnis kommen, die überhaupt nichts mit (unverständlich) zu tun hatten, keine Ursache gab es, diese Menschen ins Gefängnis zu setzen. Jedenfalls aus meiner Erfahrung geht es nicht, dass man sagt, wenn wir dies jetzt nicht akzeptieren, wird es noch schlimmer. Nein. Ich glaube auch nicht, dass Russland in der Situation, wo es ist, in Weißrussland diktieren kann, was die Menschen in Weißrussland wollen.

Deutschlandfunk: Herr Asselborn, blicken wir noch in den Nahen Osten. Israel und die Vereinigten Arabischen Emirate wollen Frieden schließen und diplomatische Beziehungen aufnehmen. Soweit, so gut, aber Premierminister Netanjahu hat gesagt, Israel verzichte nicht endgültig auf die Annexion palästinensischer Gebiete. Was ist dieses Abkommen wert?

Jean Asselborn: Dieses Abkommen ist kein Abkommen, was jetzt in den letzten zwei Monaten entstanden ist. In den letzten zwei, drei Jahren war diese Annäherung zu sehen. Es ist klar in einem ganz präzisen Kontext: Die Sunniten im Golf verbünden sich mit Israel gegen den Iran. Ich glaube, dass ohne die Politik des Iran dies niemals möglich gewesen wäre. Seit Langem sieht man auch, dass die Solidarität mit den Palästinensern vor allem im Golf keine Priorität mehr hat. Gut, das wird ja so verkauft jetzt, dass wirklich diese Annexionen auf der West Bank, dass die verhindert werden. Allerdings gebe ich auch den Palästinensern recht, wenn sie sagen, das bedeutet jetzt, dass Jerusalem die Hauptstadt ist von Israel und nicht die Hauptstadt ist von Israel und von Palästina. Trump kommt natürlich aus seinem Dilemma heraus, von diesem Jahrhundertplan, der nichts wert war, er kommt da aus der Sackgasse heraus, das stimmt, aber das ist mir nicht wichtig. Wichtig ist mir auch bei dieser Sache, was mit dem palästinensischen Volk und mit Palästina geschieht.

Deutschlandfunk: Besteht denn mit diesem Abkommen irgendein Grund zur Hoffnung, dass Israel doch noch einer Zweistaatenlösung zustimmen könnte?

Jean Asselborn: Diese Regierung sagt ja offiziell, dass sie auch eine Zweistaatenlösung sich vorstellen könnten, allerdings läuft ja alles gegen eine Zweistaatenlösung. Solange es keine Zweistaatenlösung gibt — davon bin ichüberzeugt —, wird es keine Stabilität geben, auch nicht unter den Golfstaaten. Sie werden sehen, dass dies... Ich glaube nicht, dass jetzt Bahrain und andere — auch sogar Saudi-Arabien, was ja angedeutet wird jetzt — diesem Schritt folgen werden. Ich weiß, auch weil ich viele Kontakte in dieser Region habe, welche Angst besteht vor dem Iran, aber man kann nicht seine eigenen Brüder, glaube ich, einfach hängen lassen, um wirtschaftliche Interessen zu verfolgen und vielleicht auch mehr Sicherheit für sich selbst zu haben. Die Palästinenser, das palästinensische Volk, die ja Araber sind, hängen wirklich zwischen den Seilen, und wenn hier die Zweistaatenlösung fallen gelassen wird, wenn kein Druck gemacht wird, dass das endlich machbar ist — und das ist machbar —, dann, glaube ich, wird diese Region trotzdem keine Stabilität finden.