Interview von Franz Fayot in der Revue

"Im Corona-Sturm"

Interview: Revue (Stefan Kunzmann)

Revue: Herr Minister, Sie traten am 4. Februar dieses Jahres als Minister für Wirtschaft und für Entwicklungszusammenarbeit an — etwa einen Monat, bevor die Corona-Pandemie Luxemburg erfasst hat. War das für Sie ein Sprung ins kalte Wasser?

Franz Fayot: Das kann man in der Tat so sagen. Ich hatte gerade einen Monat, der noch von Normalität geprägt war. Danach dominierte Corona das ganze Geschehen und betraf auch in starkem Maße die Wirtschaft. Nicht nur für mich war das eine stressige Situation. Zugleich musste ich mich umso schneller in die einzelnen Dossiers einarbeiten. Da aber keine Reisen stattfanden, konnte ich mich somit intensiv dem Krisenmanagement widmen. Es war Glück im Unglück, um das so zu nennen.

Revue: Sie verglichen sich einmal mit einem Kapitän, der sein Schiff durch einen Sturm navigieren muss. Hat sich die stürmische See mittlerweile etwas beruhigt?

Franz Fayot: Die heftige Phase des Sturms, die Zeit des Lockdowns, ist zumindest vorüber. Wir werden zwar noch eine Zeit lang mit der Corona-Krise zu tun haben und müssen daher konzentriert navigieren. Das betrifft die ganze Regierung. In der ersten Phase war vor allem das Gesundheitsressort mit der zuständigen Ministerin Paulette Lenert besonders gefordert. Das ist teils noch heute so. Aber auch andere, in erster Linie der Wirtschafts- und der Arbeitsminister sowie der Finanz- und Mittelstandminister, stehen an vorderster Front. Womöglich noch bis nächstes Jahr.

Revue: Eine Zeit lang galt nicht mehr das Primat der Ökonomie, sondern dominierte die Gesundheitspolitik.

Franz Fayot: Unsere erste Sorge war es, nicht in eine Situation zu geraten, wie wir sie in Norditalien oder im französischen Grand Est sehen konnten, dass Krankenhäuser überlastet waren und Intensivstationen keine Patienten mehr aufnehmen konnten. Das konnten wir durch den Lockdown und durch die sanitären Maßnahmen zum "social distancing", die wir früh umsetzten, vermeiden. Wir waren uns durchaus bewusst, dass dies seinen Preis haben würde. Einen Preis für die Wirtschaft. Das ist innerhalb der Regierung nie in Frage gestellt worden. Wir wussten aber auch, dass wir daraus schnell wieder herauskommen mussten. So öffneten wir im Zuge des "déconfinement" Schritt für Schritt und in mehreren Phasen die verschiedenen Sektoren, um die Wirtschaft allmählich wieder zum Laufen zu bringen.

Revue: Wie nahmen die Unternehmen das Maßnahmenpaket zur Ankurbelung der Wirtschaft an?

Franz Fayot: Im Allgemeinen gut. Das Paket war im Vergleich zu jenen in anderen europäischen Ländern sehr ambitiös (siehe Seite 14). Das war nicht zuletzt an den Reaktionen der verschiedenen Berufskammern zu erkennen. Dabei hatten wir das Paket inmitten der Krise in einer kurzen Zeit zusammengestellt und geschnürt. Wenn wir feststellten, dass manche Dinge nicht so gut funktionierten, wie sie sollten, versuchten wir nachzubessern. Im Großen und Ganzen kann man aber eine positive Bilanz ziehen.

Revue: Zuerst nahmen die Baufirmen wieder ihre Arbeit auf, dann öffneten die Einzelhändler und schließlich die Restaurants. War das Timing richtig?

Franz Fayot: Ich denke schon. Verglichen mit anderen europäischen Ländern, wo Restaurants später geöffnet haben, lagen wir also richtig, als wir die Lockerung in einzelnen Phasen und mit Fristen von drei Wochen in den Sektoren, wo die Pandemie unter Kontrolle war, in einer bewusst nuancierten Art und Weise erlaubten.

Revue: Global hat der Staat in den letzten Jahrzehnten eine untergeordnete Rolle in der Wirtschaft gespielt, nun greift er massiv ein. Hat der Neoliberalismus ausgesorgt und hat die Theorie vom Staatsinterventionismus im Sinne des britischen Ökonomen John Maynard Keynes gesiegt?

Franz Fayot: In Luxemburg sind wir Gott sei Dank nie den Sirenen des Neoliberalismus verfallen. Wir hatten immer einen Staat, der sowohl zur Zeit der Stahlkrise als auch während der Finanzkrise aktiv eingriff. Jetzt auch wieder. Und der da war, um die Ökonomie aufzufangen, wenn wir einen starken Rückgang verzeichneten, es einen externen Schock in einem bestimmten Sektor gab. Wir haben eine gewisse Tradition des Staatsinterventionismus. Außerdem sind wir Aktionäre in einer ganzen Reihe von strategisch wichtigen und kritischen Betrieben. Wir haben keine völlige Deregulierung durchgeführt, wie sie in manch anderen Ländern stattfand. Dabei sei Osteuropa nach dem Fall der Mauer genannt. Die konsequente neoliberale Politik, die davon ausgeht, der Markt würde alles richten, und der Glaube an den "Homo oeconomicus", den profitmaximierten Menschen, hatten wir hierzulande nicht. Nun sind wir in einer Situation, in der jeder erkannt hat, dass der Staat kontrazyklisch vorgehen und investieren muss — in einer ersten Phase, um die Wirtschaft aufzufangen und zu stabilisieren und in einer zweiten Phase zu relancieren durch einen Stimulus-Pakt in Form von Investitionen. Das gilt für die nächsten Monate und Jahre. Das sagen Ökonomen und Politiker weltweit.

Revue: Wirtschaftsminister gelten als unternehmerfreundlich. Stehen Sie für eine "linkere" Politik als ihre beiden Vorgänger, die übrigens auch Sozialisten waren?

Franz Fayot: Ich bin ebenso ganz nah bei den Unternehmen. Als Wirtschaftsminister muss und will ich das sein. Schließlich geht es darum, ein förderliches Umfeld für Betriebe zu schaffen, sei es durch Infrastrukturen oder Beihilfen. Im Zentrum meiner Vision von Wirtschaftspolitik steht der Mensch. Betriebe sollen stabile Arbeitsplätze schaffen. Ganz wichtig ist mir der "PIB du bien-être", wo es um Lebensqualität geht. Die Philosophie des Shareholder Value und der Gewinnmaximierung ist überholt. Es reicht nicht, immer mehr Gewinne zu erzielen, sondern ein Betrieb soll zufriedene Mitarbeiter haben und umweltfreundlich wirtschaften. Das ist der Sinn meiner Wirtschaftspolitik.

Revue: Sie haben eine "nachhaltigere Wirtschaftspolitik" angekündigt. Die Corona-Krise könnte dazu einen Anlass bieten.

Franz Fayot: Die Corona-Krise dient in diesem Sinne als Katalysator: für die bereits vorhandenen Tendenzen wie den "green deal" und für die Digitalisierung, auch für die Idee eines "Re-Onshoring" verschiedener Industrien. Zum Beispiel im medizinisch-technologischen Bereich. All diese Bereiche bekommen einen "Boost" durch die Corona-Krise, einen Auftrieb. Dass dies die Zukunft ist, sieht man ebenso in anderen Ländern, die eine progressistische Wirtschaftspolitik betreiben.

Revue: Also ist die Corona-Krise auch ein Beschleuniger für die Digitalisierung und die digitale Revolution?

Franz Fayot: Ja, das sieht man in einer ganzen Reihe von Bereichen. Zum Beispiel sind alle unsere Hilfen, auch zur Kurzarbeit, online über den "guichet.lu" zugänglich gemacht worden. "Letzshop" hat auch einen Schub bekommen, sowie das Homeoffice. Die Menschen konnten beruflich aber auch privat übers Internet miteinander kommunizieren. Die Covid-Krise hat der Digitalisierung jedenfalls einen starken Auftrieb gegeben.

Revue: Ist das Homeoffice das Modell der Zukunft in der Arbeitswelt?

Franz Fayot: Ich bin davon überzeugt. Das war ein realitätsnaher Test, der gut funktioniert hat. Vielleicht wird es nicht in solch extremer Form wie während des Lockdowns weitergehen, aber grosso modo wird die Telearbeit bleiben. In einigen Sektoren ist das leichter als in anderen. Es hat aber manche negative Konsequenzen, zum Beispiel leiden Ladenbesitzer darunter, dass weniger Menschen in die Stadt kommen. Aber andererseits hat es positive Folgen für den Straßenverkehr und belebt die Ortschaften, in denen die Menschen leben.

Revue: Die Kurzarbeit hat einen stärkeren Anstieg der Arbeitslosigkeit verhindert. Wie groß war ihre Wirkung?

Franz Fayot: Massiv. Es ist zwar schwer zu sagen, wie groß der Schaden genau gewesen wäre, den die kurzfristige Ausweitung der Kurzarbeit am Anfang der Krise auf alle Wirtschaftsbereiche verhindert hat. Aber allein der Blick in Länder, die dieses Mittel nicht zur Verfügung haben, wie zum Beispiel die USA, wo Beschäftigte von heute auf morgen auf die Straße gesetzt wurden, unterstreicht die Bedeutung der Kurzarbeit. Es ist wichtig für Betriebe, ihre Mitarbeiter zu behalten, um dann wieder loszulegen, wenn die Konjunktur wieder zulegt. Kurzarbeit ist nicht zuletzt ein Wettbewerbsvorteil. Sie war das Schlüsselinstrument, das übrigens aus der Zeit der Stahlkrise stammt, das uns erlaubt hat, besser durch die Krise zu kommen. Das gilt auch für andere Länder, denen dieses Instrument ebenfalls zur Verfügung stand.

Revue: Wie lang kann dieses Instrument funktionieren?

Franz Fayot: Während des Lockdowns und auch in den ersten Monaten danach haben wir erstmals in der Geschichte der Kurzarbeit Vorauszahlungen an Unternehmen geleistet, um den Betrieben sehr schnell und unbürokratisch Liquiditäten zu geben. Am Anfang wurden die Bestimmungen dieses Instruments also sehr großzügig ausgelegt, seit Juli wieder etwas restriktiver. Die Industrie ist immer ein Sektor, der von Kurzarbeit profitiert hat. Am Ende des Jahres müssen wir dann sehen, wie es mit der Kurzarbeit in Bezug auf die Koronakrise weitergeht.

Revue: Den Berechnungen des Statec zufolge erholt sich die Wirtschaft nächstes Jahr wieder. Aber wann wird sie wieder das Niveau von vor der Krise erreicht haben?

Franz Fayot: Das ist schwer zu sagen, wann die Normalität wieder erreicht ist. Dafür hat das Statec zwei Szenarien, V und W. Oder einen leichten Wiederanstieg übers ganze Jahr. Das hängt von mehreren Faktoren ab, nicht zuletzt davon, wie die Pandemie weitergeht und ob sowie in welchem Ausmaß es einen neue Welle gibt. Umso wichtiger ist es, wie sich die Menschen verhalten. Es hängt viel von der Verantwortung und Disziplin des Einzelnen ab. Ich möchte mich daher mit Voraussagen nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Festzustellen ist ein zunehmender "Disconnect" der Börsen von der Realwirtschaft, der irrational und nicht nachzuvollziehen ist. Es ist aber festzustellen, dass sich die Realwirtschaft, die völlig heruntergefahren war, langsam erholt, allerdings auf einem niedrigen Niveau. Es wird sicherlich eine Zeit lang dauern. Aber das Vertrauen steigt wieder.

Revue: Mit Prämien sollen Unternehmen dazu animiert werden, Auszubildende einzustellen. Die Rettung für die "Generation Corona"?

Franz Fayot: Es ist eine Maßnahme, die wir in der Tripartite beschlossen haben, und ein wichtiger Anreiz für die Betriebe, Azubis zu nehmen. Auch hier habe ich in Gesprächen mit Arbeitgebern gespürt, dass noch Vertrauen da ist. Schließlich handelt es sich um eine wichtige Investition in die Zukunft.

Revue: Zur europäischen Ebene: Wie beurteilen Sie den im Juli beschlossenen Corona-Wiederaufbaufonds mit einem Volumen von 750 Milliarden Euro?

Franz Fayot: Es ist ein historischer Schritt, weil es zum ersten Mal in der Geschichte der EU gelungen ist, auf solidarische Weise und mit der Mutualisierung der Schulden zu versuchen, eine Krise zu bewältigen. Das gab es nie zuvor und galt lange als Tabu. Lange Zeit hieß es, vor allem von deutscher Seite: Wir wollen keine Corona-Bonds." Deutschland und Frankreich haben aber Historisches geleistet. Das Package ist ein "game changer". Der Weg dahin war holprig, aber er geht in die richtige Richtung. Auch die Art und Weise, wie investiert werden soll: "Green deal", Digitalisierung, Reindustrialisierung von Europa. Das sehe ich positiv. Was mir allerdings große Sorgen bereitet und wo Europa gemeinschaftlicher hätte vorgehen sollen, war die Ebene der Gesundheitspolitik und die der Innenminister. Zu glauben, mit Grenzschließungen das Virus zu bekämpfen, ist unsäglich. Diese Politik der Ausgrenzung bringt nicht nur wirtschaftlichen Schaden mit sich, sondern auch einen dauerhaften kulturellen Schaden. Die Idee der Grenzschließungen ist fundamental falsch und entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage. Darin hat Europa versagt.

Revue: Sie sind Wirtschafts- und Kooperationsminister. Die Krise trifft besonders Entwicklungs- und Schwellenländer. Welche Möglichkeiten bietet die Kooperationspolitik dagegen?

Franz Fayot: Die Entwicklungsländer sind viel weniger gut aufgestellt in ihren Gesundheitssystemen und umso verletzlicher bei einer Pandemie. So war es wichtig, schnell mit Hilfen zur Stärkung der Kapazitäten im Gesundheitsbereich zu reagieren und in die Prävention zu investieren. Darüber hinaus sind die wirtschaftlichen wie auch sozialen Folgen eines Lockdown noch heftiger. Daher ist es wichtig, unsere öffentliche Entwicklungshilfe auf dem Niveau von einem Prozent des Bruttonationaleinkommens zu halten. Das ist eine Verpflichtung der Regierung und von mir als Kooperationsminister.

Revue: Die Corona-Krise hat den Fokus auf die Lieferkettenproblematik verstärkt. Wie können Unternehmen bezüglich von Menschen-und Umweltrechten zur Verantwortung gezogen werden? Mit einem Lieferkettengesetz?

Franz Fayot: Es gibt einen zweiten Aktionsplan dazu, und es wurde eine Studie der Uni Luxemburg in Auftrag gegeben. Es ist eine Sache, die mir sehr am Herzen liegt. Unternehmen müssen die Menschen- und Umweltrechte respektieren. Dies zu kontrollieren ist auf nationaler Ebene wie auch europäischer Ebene möglich, Dazu soll eine EU-Direktive Anfang nächsten Jahres vorgestellt werden. Es stellt sich die Frage, ob eine kleines Land wie Luxemburg, wo nicht so viele große Unternehmen sind, diesbezüglich eine eigene Gesetzgebung haben soll.

Revue: Können Sie noch etwas zu den verminderten Steuereinnahmen sagen? In vielen Ländern befinden sich die Steuereinnahmen im freien Fall. Droht eine globale Schuldenkrise?

Franz Fayot: Ich denke, dass die heftigste Phase des Sturms wohl vorbei ist, aber der Corona-Sturm an sich noch immer weiter tobt. Man weiß heute nicht genau, welch dunkle Wolken in den kommenden Monaten und Jahren am Konjunkturhimmel noch zusätzlich aufziehen werden. Rückgängige Ausgaben der Haushalte, die Investitionszurückhaltung einzelner Unternehmen und die teilweise starken Umsatzausfälle bei verschiedenen Betrieben werden zu einem Anstieg der Staatsschuldenquoten beitragen. Aufgrund der soliden Staatsfinanzen sehe ich das Problem nicht für Luxemburg, aber viele andere Länder sind deswegen durchaus anfällig für eine Staatschuldenkrise. Das hat insbesondere die Erfahrung während der globalen Finanzkrise ausreichend gezeigt.

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