Interview von Paulette Lenert im Luxemburger Wort

"Alles ist relativ"

Interview: Luxemburger Wort (Dani Schumacher)

Luxemburger Wort: Paulette Lenert, Luxemburg schneidet bei der zweiten Welle sowohl bei den Neuinfektionen als auch bei der Zahl der Todesfälle im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern schlecht ab.' Woran liegt das?

Paulette Lenert: Es gibt keine eindeutige Erklärung, die hohen Werte sind ein Zusammenspiel von vielen Faktoren. Es gibt verschiedene Hypothesen. Natürlich spielt unsere Teststrategie eine Rolle, sie erklärt aber nicht alles. Auch die grenzüberschreitende Mobilität darf man nicht außer Acht lassen. Obwohl viele Unternehmen wieder auf Homeoffice umgestellt haben, gibt es immer noch viele Bewegungen zwischen den Ländern. Luxemburg ist ein kleines Land mit einer recht hohen Bevölkerungsdichte. Eigentlich ist es ein einziger Ballungsraum. Im Gegen-Satz zu Ländern wie Deutschland oder Frankreich gibt es bei uns keine Rückzugsgebiete, keine Pufferzonen. All diese Erklärungsversuche sind unter den Wissenschaftlern aber nicht ganz unumstritten.

Luxemburger Wort: Am 15. Dezember wurden die Corona-Vorschriften zunächst verlängert. Sie haben das Gesetz damals gegen die Kritik der Opposition, die strengere Regeln verlangt hat, verteidigt. Nur zwei Tage später haben Sie gemeint, ein zweiter Lockdown könne nicht mehr ausgeschlossen werden. Am 21. Dezember hat die Regierung dann strengere Maßnahmen beschlossen. Was ist in diesen wenigen Tagen passiert?

Paulette Lenert: Die Entwicklung hätte Mitte Dezember in drei verschiedene Richtungen gehen können. Es hätte zu einer Stagnation auf hohem Niveau kommen können. Die Zahlen hätten aber auch, wie beispielsweise in den Niederlanden, wieder anziehen können. Sie hätten auch weiter sinken können. Jedes Szenario war möglich. Die Maßnahmen, die wir Ende November verhängt haben, zeigen Wirkung, aber nicht schnell genug. Die Werte waren auf dem Höhepunkt der zweiten Welle so hoch, dass es im Gegensatz zum Sommer länger gedauert hat, bis der Rückgang sich definitiv bestätigt hat.

Luxemburger Wort: Weshalb haben Sie sich am Ende dann doch für noch strengere Vorschriften entschieden?

Paulette Lenert: Zu den erwähnten noch zu hohen Zahlen an Neuinfektionen kommen noch andere Faktoren hinzu, die riskieren, die Verbreitung des Corona-Virus wieder neu anzufachen. Das Jahresende ist für die Verbreitung des Virus quasi der "Heemount": In der kälteren und feuchteren Jahreszeit verbreiten sich Viren insgesamt schneller. Zudem sind auch die Feiertage mit vermehrten sozialen Kontakten der perfekte Nährboden für die Verbreitung von Covid-19. Ausschlaggebend aber war die Lage in unseren Krankenhäusern. Wir wollen vermeiden, dass unser Gesundheitssystem noch mehr belastet wird. Das Personal ist erschöpft und es ist unbedingt nötig, die Zahl an Neuinfektionen mit allen verfügbaren und vertretbaren Mitteln zu reduzieren.

Luxemburger Wort: Die Pandemie hat das Land seit März fest im Griff. Hätten Sie rückblickend etwas an Ihrer Strategie geändert?

Paulette Lenert: Nein, ich denke nicht, auf jeden Fall nichts Grundlegendes. Vielleicht hätten wir im Frühjahr bei den Lockerungen etwas langsamer vorgehen sollen. Es ist im Augenblick noch schwer zu sagen, was man hätte besser machen können, weil die Analyse der einzelnen Schritte noch nicht abgeschlossen ist. Wir haben in all den Monaten immer auf der Basis der zum jeweiligen Zeitpunkt vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen gehandelt. Der Wissensstand hat sich seit dem Beginn der Pandemie allerdings immer wieder verändert. Zurzeit werden erste Studien veröffentlicht, aus denen hervorgeht, zu welchen Resultaten die einzelnen Maßnahmen führen. Doch es handelt sich vorerst nur um Hypothesen. Alles ist relativ. Wenn alles vorbei ist, werden wir eine genaue Analyse erstellen.

Luxemburger Wort: Apropos Analyse, die Opposition hat einen Untersuchungsausschuss verlangt, den die Mehrheitsparteien abgelehnt haben. Wäre es nicht sinnvoll, wie in Schweden eine unabhängige Kommission einzusetzen, die die Strategie im Nachhinein überprüft?

Paulette Lenert: Es spricht nichts dagegen, zu einem späteren Zeitpunkt eine Kommission mit der Aufarbeitung zu betrauen. Wenn alles vorbei ist, werden wir natürlich auch selbst alle Entscheidungen noch einmal überprüfen. Aktuell besteht unsere erste Priorität aber darin, möglichst schnell alle zur Verfügung stehenden Daten zu analysieren, die Situation zu bewerten und anschließend zu handeln. Der Kampf gegen die Pandemie ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Und Zeit ist genau das, was uns fehlt. Der demokratische Prozess ist absolut wichtig, er ist aber sehr zeitaufwendig. Es gibt Wochen, in denen verwende ich mehr Zeit darauf, unsere Strategie zu erklären, zu begründen und zu verteidigen, als mir zur Verfügung steht, um zu handeln. Eine Krise wie diese verlangt aber nach der Tat. Aktuell ist es kaum möglich, neben dem eigentlichen Krisenmanagement auch noch für eine grundlegende Analyse Rede und Antwort zu stehen. Unser Team im Gesundheitsministerium besteht nur aus einer Hand voll Mitarbeitern.

Luxemburger Wort: Hätten Sie irgendetwas anders gemacht, wenn Sie alle Entscheidungen hätten alleine treffen können?

Paulette Lenert: Nein, eigentlich nicht. Ich stehe hinter allen Maßnahmen. Wenn das Gesundheitsministerium allein hätte entscheiden und alles umsetzen können, wären wir einerseits sicherlich schneller gewesen. Andererseits hätte es am kritischen Austausch gefehlt. Sowohl die Absprache innerhalb der Regierung als auch die anschließende demokratische Legitimierung der Maßnahmen leisteten einen wertvollen Beitrag zur Ausgewogenheit und Akzeptanz der Maßnahmen. Luxemburg ist übrigens eines der ganz wenigen Länder, in dem sämtliche Maßnahmen vom Parlament bestätigt werden.

Luxemburger Wort: Die Zahl der Toten steigt. Darunter befinden sich viele ältere Menschen und Bewohner aus Altersheimen. Dabei steht der Schutz der gefährdeten Personen ganz oben auf der Agenda der Regierung. Was läuft schief, wieso greift die Strategie nicht?

Paulette Lenert: Auch hier gibt es keine eindeutige Erklärung. Wenn das Virus omnipräsent ist, findet es auch seinen Weg in die Altersheime. Ab einer bestimmten Zahl an Neuinfektionen ist es kaum noch möglich, die Bewohner wirksam zu schützen, außer man schließt die Heime und riegelt sie komplett ab. Nach den Erfahrungen vom Frühjahr ist dies aber keine Option. Die Kollateralschäden waren einfach zu hoch. In den Häusern wurden Hygienekonzepte ausgearbeitet und umgesetzt. Seit die Tests zur Verfügung stehen, werden sowohl die Bewohner als auch die Mitarbeiter regelmäßig getestet. Seit kurzem kommen auch Schnelltests zum Einsatz. Mit der Verfügbarkeit neuer Mittel gilt es, immer wieder neue Anpassungen zu machen, um so einen bestmöglichen Schutz der Bewohner zu gewährleisten.

Luxemburger Wort: Im Gegensatz zu den ersten Erkenntnissen haben sich die Schulen als Infektionsherd entpuppt. Hätte man nicht doch früher auf Homeschooling setzen müssen?

Paulette Lenert: Auch zu dem Thema gibt es mehrere Studien, die zu unterschiedlichen Schlüssen kommen. Zunächst mussten wir davon ausgehen, dass die Schüler weniger ansteckend sind und das Virus auch weniger weitertragen. In den vergangenen Wochen haben wir dann aber festgestellt, dass es viele Infektionen in den Schulen gibt, vor allem in den höheren Klassen. Und wenn viele Kinder und Jugendliche sich infizieren, besteht natürlich auch das Risiko, dass sie die Infektion in die Familie hineintragen. Ich bin aber der Meinung, dass die Gesellschaft dieses Risiko in Kauf nehmen muss, damit die Bildungschancen für die Jugend gewahrt bleiben. Ich glaube, die Erwachsenen sollten ihre Kontakte noch weiter einschränken, damit wir die Schulen so lange wie möglich offen halten können.

Luxemburger Wort: Vor zwei Wochen haben sich Forscher aus ganz Europa für strengere Regeln ausgesprochen und eine engere Abstimmung zwischen den Ländern gefordert. Wie sehen Sie diesen Appell?

Paulette Lenert: Es spielt natürlich eine Rolle, ob die Maßnahmen in den einzelnen Ländern zeitlich versetzt sind oder nicht. Für Luxemburg ist es allerdings schwer sich anzupassen, weil die drei Nachbarländer jeweils andere Vorschriften haben. In den großen Ländern wie Deutschland und Frankreich gibt es zudem in den einzelnen Regionen unterschiedliche Regeln. Die Maßnahmen werden in Abhängigkeit zum Infektionsgeschehen verhängt. Das entscheidende Kriterium ist natürlich die Belastung des Gesundheitssystems. Anders als in Frankreich und in Belgien hatten wir auf dem Höhepunkt der zweiten Welle noch etwas Spielraum in den Krankenhäusern. Wir stoßen beim Personal zwar auch an unsere Grenzen, die Situation war aber nie so dramatisch wie in den Nachbarländern. Belgien und Frankreich hatten ' keine andere Wahl mehr, sie mussten einen rigorosen Lockdown verhängen. In Deutschland ist der Gesundheitssektor besser aufgestellt.

Luxemburger Wort: Wäre es nicht doch sinnvoller, auf europäischer Ebene enger zusammenzuarbeiten?

Paulette Lenert: Auch wenn die Kompetenz für die Gesundheitspolitik in den einzelnen Ländern liegt, so sprechen wir uns dich ab. Als in Großbritannien die neue Virusvariante aufgetaucht ist, gab es eine enge Zusammenarbeit, die Reaktionen der einzelnen Länder waren abgesprochen. In der Theorie spricht sehr vieles für ein gemeinsames Vorgehen im Kampf gegen die Pandemie. In der Praxis fehlt es aber ganz einfach an der erforderlichen Zeit, eine gemeinsame Vorgehensweise auszuarbeiten.

Luxemburger Wort: Die Kritik an der Regierung wird lauter. Kaum jemand versteht, wieso die Geschäfte vor Weihnachten auch sonntags öffnen durften. Einmal abgesehen vom Infektionsrisiko, hatten Sie die psychologische Wirkung dieser Aktion nicht unterschätzt?

Paulette Lenert: Wir hatten den Andrang in den Supermärkten und den Weihnachtstrubel in der Tat unterschätzt. Ich verstehe durchaus, dass diejenigen, die sich an die Vorschriften halten, wütend werden, wenn sie Bilder mit dicht gedrängten Menschen in den Einkaufsgalerien sehen. Ich war selbst erstaunt, wie viele Menschen unterwegs waren. Deshalb haben wir ziemlich schnell reagiert. Die Einkaufszentren müssen nun ein detailliertes Hygienekonzept vorlegen, damit sie die Besucherströme besser in den Griff bekommen. Das Beispiel zeigt, dass man mit Mahnungen allein nicht weiterkommt. Die gestes barrières sind noch nicht zum Reflex geworden. Das ist auch der Grund, weshalb die Zwei-Personen-Regel oft als inkohärent kritisiert wird. Die zentrale Botschaft lautet, dass man zuhause bleiben, dass man Freunde und Verwandte nicht besuchen soll. Die Regel ist als Ausnahme für Personen gedacht, die sonst ganz allein wären. Jedes Mal, wenn wir eine Zahl ins Spiel bringen, knobeln viele Menschen, wie sie den Spielraum maximal ausreizen können. So ist es aber nicht gedacht. Es ist unendlich schwer, solche Regeln zu vermitteln. Die Vorschriften des Code de la route haben alle verinnerlicht, im Straßenverkehr stellt niemand Zahlenspiele an.

Luxemburger Wort: In den asiatischen Ländern und in China klappt es offensichtlich besser...

Paulette Lenert: Das mag sein. Doch der Preis ist enorm hoch. Länder wie China haben auf eine zentralisierte App zurückgegriffen. Das ist Big brother. In Hongkong gilt beispielsweise eine rigorose Quarantäne bei der Einreise. Die Betroffenen müssen sich alle paar Stunden melden, damit die Behörden kontrollieren können, dass sie das Zimmer nicht verlassen haben. Bei uns sind solche Maßnahmen undenkbar. Wenn wir einschneidende Maßnahmen ergreifen, müssen sie immer verhältnismäßig sein. Und genau hier liegt das Problem. Wir wissen nicht genau, zu welchen Erfolgen die eine oder die andere Vorschrift führen wird, es gibt kaum wissenschaftliche Untersuchungen dazu. Alles ist relativ, die Faktenlage ist noch wackelig. Erst wenn wir Bilanz ziehen, wird sich zeigen, welche Maßnahme welche Wirkung gehabt hat.

Luxemburger Wort: Seit vergangenem Montag wird geimpft. Damit ist die Pandemie aber noch längst nicht vorbei. Wie wollen Sie die Menschen bei der Stange halten, damit sie weiterhin die Abstands- und Hygieneregeln respektieren?

Paulette Lenert: Diese Problematik bereitet uns in der Tat Sorgen. Wir setzen auf Aufklärung und auf eine transparente Kommunikation. Zunächst müssen wir die Menschen motivieren, dass sie sich impfen lassen. Wir haben Podcasts in den sozialen Netzwerken lanciert, wo die Leute Fragen stellen können. Es gibt auch eine Reihe von Webinars für Mitarbeiter aus dem Gesundheitssektor. Das Interesse ist groß. Es ist wichtig, dass wir das Gesundheitspersonal mit an Bord bekommen. Es sind ja unter anderem die Ärzte und die Apotheker, an die sich die Menschen mit ihren Fragen wenden werden.

Luxemburger Wort: Noch eine persönliche Frage. Hätten Sie das Gesundheitsministerium im vergangenen Februar übernommen, wenn Sie gewusst hätten, was auf Sie zukommen würde?

Paulette Lenert: Nein, wenn ich gewusst hätte, was kommt, hätte ich zu meinem Vorgänger gesagt: Etienne, Du bleibst! (lacht) Als neue Ressortleiterin in eine solche Krise hineinzustolpern, ist nicht einfach. Niemand konnte sich auch nur andeutungsweise vorstellen, was auf uns zukommen würde. Noch im Frühjahr hätte ich nicht gedacht, dass die Krise zu einem derartigen Dauerstress führen würde. Als die Zahlen zurückgingen, habe ich gehofft, das Schlimmste wäre vorbei. Doch auch in den Sommermonaten war nicht an Erholung zu denken. Zuerst stiegen die Neuinfektionen wieder an. Und dann mussten wir uns auch noch neu aufstellen und uns auf den Herbst und den Winter vorbereiten.

Luxemburger Wort: Hat die Wucht der zweiten Welle Sie überrascht?

Paulette Lenert: Ja, ich glaube niemand hat damit gerechnet, dass die zweite Welle derart heftig ausfallen würde. Auch die meisten Wissenschaftler nicht. Ich war zudem überzeugt, dass wir nach den Vorbereitungsarbeiten vom Sommer gut aufgestellt wären. Zurzeit bereiten die möglichen Folgen der Feiertage mir große Sorgen. Die Maßnahmen vom November zeigen Wirkung, wir sind aber noch nicht da, wo wir hin wollen. Es wäre schrecklich, wenn die Situation im Januar wieder kippen würde. Ich hoffe, dass die durch den Impfstoff ausgelöste Euphorie zusammen mit den rückläufigen Zahlen nicht dazu führt, dass die Menschen nachlässig werden.

Luxemburger Wort: In den Umfragen erreichen Sie Traumwerte. Wie empfinden Sie Ihr gutes Resultat?

Paulette Lenert: Natürlich freue ich mich über mein gutes Abschneiden in den Umfragen. In dieser Krise müssen die Entscheidungen ungeheuer schnell getroffen werden, ich bin mir nie sicher, ob ich richtig liege oder nicht. Wir arbeiten weiterhin auf Basis von Hypothesen, nichts ist wirklich sicher. Es gab von Anfang an Kritik an unserer Strategie. Irgendwie war nie etwas gut. Deshalb sehe ich in den Umfragen eine Art Bestätigung, dass ich in all den Monaten nicht alles falsch gemacht haben kann. Die guten Werte haben mich motiviert.

Zum letzten Mal aktualisiert am