Interview mit Jean Asselborn in der Revue

"Wachsam bleiben!"

Interview: Revue (Stefan Kunzmann)

Revue: Herr Asselborn, wir haben noch die Bilder vom 6. Januar, als Anhänger von US-Präsident Donald Trump das Kapitol stürmten, den Kongress der Vereinigten Staaten, vor Augen. Sehen Sie die US-amerikanische Demokratie in Gefahr?

Jean Asselborn: Am 6. Januar wurde sichtbar, was fundamentale und wiederholte Lügen in der Politik letztendlich bewirken können. Aber diese Ereignisse sind nicht aus heiterem Himmel gekommen. Die vier Jahre der Trumpschen Präsidentschaft waren von systematischen Angriffen gegen die Demokratie und deren Werte geprägt. Die Geschehnisse am Kapitol wurden durch die konstante Relativierung und Untergrabung der Wahrheit, die Aushöhlung des Vertrauens der Bevölkerung in die Demokratie und ihre Institutionen ausgelöst, sowie auch die damit einhergehende Bevormundung und Verteufelung der freien Presse. Die Geschehnisse am Kapitol, hinterlassen einen sehr bitteren Nachgeschmack. Die Gefahr für die Demokratie ist nicht gänzlich vom Tisch, auch wenn wir diesmal mit einem blauen Auge davongekommen sind. Es sind Hemmschwellen überschritten worden und es bleibt zu fürchten, dass die Anhänger Trumps auch in Zukunft nicht vor illegalen Aktionen zurückschrecken werden. Die Republikanische Partei muss sich hier klar positionieren. Das Problem muss also behandelt werden, und zwar gründlich. Ich bin davon überzeugt, dass die Umsetzung der Prioritäten des zukünftigen Präsidenten dazu beitragen wird, sowie auch zur nationalen Versöhnung.

Revue: Die beiden amerikanischen Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt sprechen in ihrem Buch "Wie Demokratien sterben" von ungeschriebenen Normen als Leitplanken der Demokratie. Diese seien nach und nach ausgehöhlt worden. Sehen Sie das auch so?

Jean Asselborn: Die Demokratie ist nicht ein für alle Mal gegeben. Was uns die Geschehnisse in den USA vor Augen geführt haben, ist, dass die Demokratie immer neu erstritten werden muss. Dessen waren sich schon die Gründerväter der amerikanischen Demokratie bewusst, als sie die Kontrolle der Machthaber in die Verfassung verankert haben und den Machtmissbrauch durch ein System von "checks and balances" zu verhindern versucht haben. Aber solide Institutionen alleine können nicht alles regeln. Ein gesundes Demokratieverständnis erfordert Toleranz, gegenseitigen Respekt und letztlich auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl: alles Werte, die Trump durch seine polarisierende Rhetorik auszuhöhlen versucht hat. Fest steht, dass Demokratien sich erneuern und an neue Gegebenheiten anpassen müssen. In diesem Zusammenhang muss man sich auch die Frage stellen, wie wir in Zukunft mit neuen Technologien umgehen, ohne dabei die Meinungsfreiheit anzufechten. Die sozialen Medien können eine große Herausforderung für die Demokratien darstellen.

Revue: Auch in anderen Regionen der Welt haben wir es mit einem Erstarken der Autokraten zu tun. Selbst in der Europäischen Union, wie in Polen und Ungarn, sind Regierungen dabei, demokratische Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien abzubauen. Sind die Staaten, in denen diese Werte noch aufrechterhalten werden, machtlos dagegen?

Jean Asselborn: Ich würde jetzt nicht unbedingt einen direkten Zusammenhang von den Zwischenfällen in den USA und den Problemen im Bereich der Rechtstaatlichkeit in verschiedenen Ländern der EU sehen. Fakt ist aber sicherlich, dass die von Ihnen genannten Länder gerne den Schulterschluss zu Präsident Trump gesucht haben oder sich sogar angebiedert haben, um außenpolitisch stärker oder zumindest wer>Jger isoliert zu erscheinen. Dies hat man auch in der zögerlichen Art und Weise gesehen, wie man zum Beispiel in Warschau auf die Wahl Joe Bidens reagierte oder wie man die rezenten Ereignisse in Washington kommentierte.

Revue: Polens Regierung und auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hielten zu Trump.

Jean Asselborn: Joe Biden hat schon in der Vergangenheit seine Bedenken über die Entwicklung im Bereich der Rechtsstaatlichkeit in Polen ausgedrückt. Es ist sicherlich nicht von Nachteil, dass wir jetzt in den USA einen Präsidenten haben werden, der unsere Sorgen diesbezüglich teilt. In der EU ist die Zahl der Staaten, die uns im Bereich der Rechtsstaatlichkeit Sorgen bereiten, zum Glück doch sehr begrenzt, was nicht heißt, dass wir das Phänomen auf die leichte Schulter nehmen. Das Problem war, dass eine solche Situation nicht voraussehbar war. Staaten müssen sehr hohe Standards aufweisen, um der EU beitreten zu können. Eine Situation, in der diese Standards dann nach Beitritt ausgehöhlt werden, war schlicht nicht vorgesehen. Darum hat es eine Weile gedauert, bis wir hier ein wirksames Mittel gefunden haben dem entgegenzutreten. Ich würde also nicht sagen, dass die EU hier machtlos ist. Aber die Entscheidungsfindung ist manchmal schwerfällig.

Revue: Hat die Europäische Union zu viel Geduld gehabt und zu lange gezögert, um gegen die Regierungen in Polen und Ungarn vorzugehen?

Jean Asselborn: Die Erosion der Rechtsstaatlichkeit in Ländern wie Polen und Ungarn ist leider keine neue Entwicklung. Wir haben uns in der EU in der Tat lange schwergetan damit umzugehen. Wir haben sicherlich den Rechtsstaatsdialog, und es wurden "Artikel 7"-Verfahren (mit dem Verletzungen der EU-Grundwerte durch einen Mitgliedstaat sanktioniert werden, Grundlage ist der EU-Vertrag; Anm. d. Red) eingeleitet, aber dies hat bisher nicht die erwünschten Resultate gebracht. Die Kommission hat mehrere Verfahren vor dem europäischen Gerichtshof angestrengt. Darüber haben auch die Mitgliedstaaten mit dem neuen Rechtsstaatsmechanismus im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens klare Grenzen aufgezeigt. Nach langen, zähen Verhandlungen haben wir es fertiggebracht, einen Mechanismus auf die Beine zu stellen, der unsere fundamentalen Werte schützt. Wir wollen in Zukunft sicherstellen können, dass dort, wo EU-Fördergelder hinfließen, auch unsere gemeinsamen Grundwerte geteilt werden. Ein Mitgliedstaat, der gegen die europäischen Werte verstößt, muss jetzt damit rechnen, dass Konsequenzen drohen, wenn dieser Verstoß sich unmittelbar auf die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz der finanziellen Interessen der Union auszuwirken droht. Der Europäischen Kommission in ihrer Rolle als Wächterin der Verträge obliegt es, Verstöße festzustellen und diese dem Europäischen Parlament und dem Rat mitzuteilen. Des Weiteren obliegt ihr die Entscheidung, dem Rat geeignete Maßnahmen vorzuschlagen. Der Rat kann sie dann mit qualifizierter Mehrheit verabschieden. Dies ist ein klarer Fortschritt. Falls ein Mitgliedstaat dies wünscht, kann sich der Europäische Rat mit der Frage beschäftigen, ohne den Prozess jedoch blockieren zu können. Falls der Europäische Gerichtshof über etwaige Maßnahmen zu entscheiden hat, so wird die Entscheidung der Kommission bis zur Urteilsfindung ausgesetzt. Dies ist in groben Zügen der Kompromiss, der im Haushaltsstreit gefunden wurde. Man muss diese Art von Entscheidungsfindung nicht schön finden — aber ich hoffe, dass wir damit in dieser Debatte einen entscheidenden Schritt vorangekommen sind.

Revue: War Europa zu zahm gegenüber Trump?

Jean Asselborn: Das glaube ich nicht. Im Handelsbereich haben wir unsere Interessen klar verteidigt. So erhob die EU zum Beispiel Strafzölle auf Importe amerikanischer Produkte — als Reaktion auf die US-Zusatzzölle auf Stahl und Aluminiumprodukte der rechtswidrigen US-Subventionen für Boeing. Wir haben dennoch versucht, pragmatisch die Kooperation in verschiedenen Bereichen aufrecht zu erhalten. Europa hat trotzdem in den letzten Jahren einige wichtige Lektionen gelernt. Zum einen dürfen wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass die USA es immer irgendwie richten werden. Wir müssen anfangen, uns mehr auf uns selbst zu verlassen und auch zum Teil eigenständiger in unserer Außenpolitik werden. Zum anderen bleiben die USA einer der wichtigsten Partner der EU. Es ist ein Balanceakt. Jetzt wird es darum gehen nach vorne zu schauen und die Möglichkeiten, welche die zukünftige Biden-Administration öffnet, zu nutzen. Ich freue mich darauf, bei vielen internationalen Themen wieder enger zusammenzuarbeiten.

Revue: Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sah es eine Zeit lang nach einem Siegeszug der Demokratien westlicher Prägung aus. Zugleich nahmen aber nationalistische Tendenzen insbesondere in den früheren Ostblockstaaten zu. Saß der Westen einem Irrglauben auf?

Jean Asselborn: Von einem Irrglauben kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein. Im Gegenteil, die EU hat eine enorme Anziehungskraft auf die Staaten des ehemaligen Ostblocks ausgeübt und darauf können wir stolz sein. Was die Staaten angeht, die in der Zwischenzeit der EU beigetreten sind, so sehe ich es doch als Erfolg, dass wir jetzt eine große demokratische Familie sind. In Familien gibt es immer Streitereien, damit muss man umgehen können. Wichtig ist, dass sich die EU und die demokratischen Werte nach wie vor eines großen Zuspruchs in der Bevölkerung erfreuen. Hierfür müssen wir uns weiter einsetzen. Auch ist dies keine Selbstverständlichkeit im Zeitalter von Populismus und Fake-News. So haben wir lernen müssen, unsere demokratischen Werte und Errungenschaften zu schützen. Die im Rahmen des Aktionsplans gegen Desinformation vom September 2018 ergriffenen Maßnahmen haben dazu beigetragen, Angriffe zu verhindern und Desinformationsversuche aufzudecken. Doch Desinformation ist eine sich ständig wandelnde Herausforderung. Es muss noch mehr getan werden, um die demokratischen Prozesse und Institutionen der Union vor Desinformation und Manipulation zu schützen.

Revue: In Westeuropa selbst kam es zum Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen. Darauf passt das Bild von der Aushöhlung der Demokratie ja besonders gut: In Italien wurde der Rechtspopulist Matteo Salvini Innenminister, in Österreich trat die FPÖ ihren Siegeszug an. Wurde die Demokratie auch hier ausgehöhlt?

Jean Asselborn: Ich würde im Zusammenhang mit Italien nicht von einer Aushöhlung der Demokratie sprechen. Im Gegenteil, hier hat sich die Wehrhaftigkeit eines demokratischen Systems gegen populistische Anremplungen gezeigt, auch wenn dies länger dauerte, als ich mir gewünscht hätte. Auch in Österreich wurde die FPÖ enttarnt und entzaubert. Mit Stammtischparolen und populistischen Gehabe kann man vielleicht in einigen Ländern Wahlen gewinnen. Das heißt aber noch lange nicht, dass man ' regierungsfähig ist oder der Regierungsverantwortung gerecht wird. Erschreckend ist, dass solch windige Gestalten es tatsächlich vereinzelt schaffen, die Menschen über ihre wahre Natur zu täuschen und es so schaffen, sich in Regierungsverantwortung zu mogeln. Dies ist in einer Demokratie nicht zu vermeiden und gehört sogar dazu. Es ist an den Bürgern zu entscheiden, wer sie vertritt und wer die Regierung stellt. Wenn dann eine rechtspopulistische Partei es so schafft, in Regierungsverantwortung zu kommen, müssen alle jene, die die demokratischen Werte hochhalten, Paroli bieten und glaubhafte Alternativen aufzeigen. Den Praxistest bestehen die Wenigsten.

Revue: Sind die etablierten Parteien nicht selbst schuld? Einige eiferten den Rechtspopulisten nach oder koalierten mit ihnen, wie etwa Österreichs konservativer Bundeskanzler Sebastian Kurz. Aber auch den Sozialdemokraten fiel nicht viel ein.

Jean Asselborn: Soziale und demokratische Werte sind in unserer Zeit wichtiger denn je. Allerdings ist es richtig, dass manch einer sich eher nach kurzfristigen Zugewinnen in den Wahlumfragen gerichtet hat, als resolut demokratische Werte zu verteidigen. Hier darf es keine Anbiederungen geben. Man muss standhaft bleiben. Man kann also teilweise von einer Selbstschuld sprechen in dem Sinne, dass man es den Rechtspopulisten zu einfach gemacht hat — im Glauben, dass ihre simplifizierenden Thesen nicht fruchten werden. Es hat sich gezeigt, dass diese nicht stimmen. Man muss sich also damit auseinandersetzen und darf ihnen nicht das Feld überlassen. Es gilt, die Gefahren der populistischen Tendenzen aufzuzeigen, und gleichzeitig glaubhafte Alternativen vorzuschlagen. Die Ereignisse in den USA, aber auch in Großbritannien, in Österreich mit Strache, in Italien mit Salvini und anderswo haben uns die Gefahren und Konsequenzen einer solchen Politik aufgezeigt. Die Zeiten, als Steve Ban-non (Ex-Berater von Trump, Anm. d. Red.) noch durch Europa tourte, um mit AfD, Front National und Konsorten die nationalistischen Organisationen in der EU zum Sieg bei den Europawahlen zu führen, sind vorbei. Dies war zum Glück ein Strohfeuer. Der Bogen wurde überspannt. Es hat sich gezeigt, dass die Bürger sich nicht für dumm verkaufen lassen.

Revue: Die Rechtspopulisten von AfD bis Marine Le Pen spielen aber nach wie vor mit ihren Muskeln. Erstere sind in Deutschland stärkste Oppositionspartei — und Le Pen konnte zwar 2017 noch von Macron in Schach gehalten werden. Aber auch ein weiteres Mal?

Jean Asselborn: Der Aufstieg der rechtspopulistischen Blender ist ins Stocken geraten. Die AfD setzt ihren Negativtrend in den Umfragen fort und steht kurz vor der Implosion. In den letzten Monaten haben diese Gesellen ihr wahres Gesicht mehrmals ungewollt offenbart. Ähnlich ist es mit Le Pen. Ihr ist es nicht gelungen, ihre Wählerbasis zu erweitern. Sie geht weiterhin mit Konzepten aus der Mottenkiste hausieren. Aber selbst sie hat mittlerweile eingesehen, dass ein Austritt aus dem Euro oder aus der EU eine Schnapsidee ist. Ich traue den Franzosen doch mehr zu, als sich von rechtsextremen Rattenfängern verführen zu lassen. Aber es heißt, wachsam bleiben".

Revue: Sind die Vorkommnisse vom 6. Januar in Washington und der versuchte Sturm des Reichstagsgebäudes in Berlin im August letzten Jahres sowie die rechtsextreme Gewalt in Deutschland und anderen Ländern nicht Zeichen einer Radikalisierung?

Jean Asselborn: Eine Radikalisierung liegt zweifelsohne vor. Unklar ist, gegen was sich diese Radikalisierung richtet. Hätte man die Masse vor dem Kapitol gefragt, ihre Forderungen auf einem Blatt Papier zusammenzutragen, so glaube ich nicht, dass hier viel Sinnvolles herausgekommen wäre. Gleiches gilt für die Gesellen, die zum Sturm auf das Reichstagsgebäude angesetzt hatten. Es ist immer einfach, alles zu kritisieren oder schlechtzureden. Dies ist auch kein neues Phänomen. Neu ist die Radikalisierung. Hier haben Menschen sich aus der demokratischen politischen Auseinandersetzung verabschiedet, sind nicht mehr zugänglich für rationale Argumente. Man muss dies ernst nehmen, da es zu einer Gefahr für die Demokratie werden kann. Wir müssen diese Menschen wieder erreichen und sie auf den Boden der rechtsstaatlichen Auseinandersetzung zurückbringen. Über die Politik eines Landes muss in Wahlen entschieden werden und eben nicht auf der Straße.

Revue: Ist der Brexit nicht ein Anzeichen dafür, dass die EU an Strahlkraft eingebüßt hat? Ist er womöglich ein Vorzeichen ihres Verfalls?

Jean Asselborn: Nein, das Gegenteil ist der Fall. So sehr ich den Austritt Großbritanniens auch bedauere, so hat dieser schwierige Scheidungsprozess jedoch auch dazu beigetragen, den Bürgern in der EU die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft vor Augen zu führen. Viele der Errungenschaften der EU wurden oft als selbstverständlich wahrgenommen, als ob es nicht anders sein könnte. Nun, es kann anders sein und auch wieder anders werden, wie das Vereinigte Königreich gezeigt hat. Der Einigungsprozess ist also nicht unumkehrbar. Wem die EU nicht mehr gefällt, dem steht es frei auszutreten. Es ist nicht von ungefähr, dass nun in vielen Ländern die EU-kritischen Stimmen, die mit einem Austritt ihres eigenen Landes aus der EU geliebäugelt haben, mittlerweile verstummt sind. Der Brexit hat klar gezeigt, dass wir nur gemeinsam stark sind, um Krisen zu bewältigen. Auf dieser neuen Einigkeit und auf dieser Einsicht gilt es nun die EU weiterzuentwickeln. Die Bürger werden im Rahmen der "Konferenz zur Zukunft Europas"* die Richtung mitbestimmen können. Es gilt also nun auch, den Brexit hinter uns zu lassen und die EU gemeinsam für zukünftige Herausforderungen fit zu machen.

Revue: Dazu gehört ein starkes Auftreten gegenüber Autokraten wie Putin oder. Erdogan.

Jean Asselborn: Die innere Einigkeit der EU hat viele überrascht. Auch wenn es außenpolitisch immer wieder einzelne Misstöne aus Budapest oder von andernorts gibt, so ist die EU allgemein auf Kurs geblieben. Wir sind ein berechenbarer, prinzipientreuer und glaubhafter Partner. Das ist unsere Stärke. Wir können der Türkei oder Russland ihr Verhalten nicht diktieren. Wir können aber den Preis, festlegen, der ihr Verhalten hat. Gegenüber der Türkei wurden klar die roten Linien aufgezeigt. Die EU setzt sich klar für die Verteidigung ihrer Interessen und der Interessen ihrer Mitgliedstaaten sowie für die Aufrechterhaltung der regionalen Stabilität ein. In diesem Zusammenhang sind weitere Sanktionen angesichts der nicht genehmigten Bohrtätigkeiten der Türkei im östlichen Mittelmeer in Vorbereitung. Auch wird über eine Ausweitung der aktuellen Maßnahmen gesprochen, sollte die Türkei nicht einlenken.

Revue: Kann man mit Politikern wie Trump überhaupt noch Diplomatie betreiben?

Jean Asselborn: Auch wenn die moderne Diplomatie gerade mit tiefgreifenden Veränderungen konfrontiert wird, ist sie unbestritten weiterhin das wichtigste Instrument der luxemburgischen Außenpolitik. Der sachliche und respektvolle Dialog sowie das gegenseitige Verständnis sind in unserem Beruf von zentraler Bedeutung, auch — oder soll ich sagen vor allem — wenn es darum geht, etwaige Differenzen zu überbrücken. Leider muss ich feststellen, dass es in den letzten Jahren zu einer Verrohung im öffentlichen politischen Diskurs gekommen ist. Der Multilateralismus ist unter Druck geraten. Dies hatte sicherlich auch einen Einfluss auf die jeweiligen Zielsetzungen und Handlungsmuster einiger Regierungen und dementsprechend einen direkten Einfluss auf die Natur klassischer diplomatischer Beziehungen. Selbstverständlich ist es ebenso Teil unseres Berufs, schwierigere Themen anzusprechen, bei denen man auch mal anecken muss, aber davor darf man sich nicht scheuen. Doch die Diplomatie ist keine Momentaufnahme und kann nicht auf einzelne Personen reduziert werden. Sie ist ein unersetzlicher und dauerhafter Prozess, der die notwendigen Voraussetzungen schafft, um friedlich Differenzen auszutragen und gemeinsame Lösungsansätze zu erarbeiten.

Revue: Wie groß sind Ihre Hoffnungen in Joe Biden?

Jean Asselborn: Meine Hoffnungen in den neuen Präsidenten der USA sind groß und ich freue mich auf einen regelrechten Neuanfang nach vier Jahren unverantwortlicher Außenpolitik. Biden hat angekündigt, dass die USA sich auf multilateraler Ebene neu engagieren. Er wird hoffentlich eine ganze Reihe von Entscheidungen von Trump rückgängig machen. Biden hat den Kampf gegen die Pandemie zu seiner ersten und allergrößten Priorität erklärt. Die USA werden unter anderem wieder mit der Weltgesundheitsorganisation zusammenarbeiten. Ich bin überzeugt, dass in naher Zukunft Amerika und Europa gemeinsam das Coronavirus bekämpfen werden und mit vereinten Kräften die Pandemie verdrängen. Wir haben, in diesem Bereich, eine Vorreiterrolle, die nur gemeinsam gemeistert werden kann mit guter Koordinierung bei der Materialbeschaffung und bei der Impfung. Biden will ebenfalls dem Pariser, Klimavertrag wieder beitreten, was auch notwendige Fortschritte in diesem Bereich ermöglichen wird. Und ich hoffe, dass dank der neuen Administration wieder. Bewegung in die Abrüstungsverhandlungen kommt und dass die Atomverhandlungen mit dem Iran wieder in Gang kommen. Wir haben auf allen Seiten ein gemeinsames Interesse an einer sicheren Welt mit weniger Aufrüstung und Atomwaffen.

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