Interview mit Paulette Lenert im Télécran

"Arbeit wie im Zeitraffer"

Interview: Télécran (Martina Folscheid)

Télécran: Frau Ministerin, am 1. März 2020 gab es in Luxemburg die erste bestätigte Corona-Infektion. Welches Fazit ziehen Sie ein Jahr später?

Paulette Lenert: Es ist unglaublich, wie viel in ein Jahr hineinpasst. An Erkenntnissen, an Arbeit, an Erfahrungen. Es war ein Jahr, in dem man Dinge erlebt hat, die man in einer viel längeren zeitlichen Periode normalerweise nicht zusammenbekommt. Eine Arbeit wie im Zeitraffer sozusagen.

Télécran: Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was hätten Sie im Nachhinein anders gemacht bei der Bekämpfung der Pandemie?

Paulette Lenert: Das weiß ich nicht. Um auf diese Frage zu antworten, benötige ich mehr Abstand. Meiner Meinung nach kann man etwas erst analysieren, wenn man Distanz dazu hat, wenn es hinter einem liegt. Dann sieht man es klar. Im Moment ist es das Handeln, das alles bestimmt. Ich glaube, irgendeinen Moment, wo man sagen würde, in dem haben wir was verpasst, den gab es in Luxemburg nicht. Wir haben es irgendwie hingekriegt, mehr oder weniger gut, aber so einen richtig verpassten Moment hatten wir keinen.

Télécran: Geht das Impfen in Luxemburg denn schnell genug voran?

Paulette Lenert: Ja, Luxemburg sitzt mit all seinen europäischen Partnern in demselben Boot. Ich habe nicht das Gefühl, dass wir schlechter wegkommen wie die anderen Länder. Wir haben mit denselben Problemen und Herausforderungen zu kämpfen. Wir sind halt von den Impfstofflieferungen abhängig. Aber ich bin zuversichtlich. Wir erhalten ja die Lieferungen, die uns proportional zur Bevölkerungszahl zugesprochen, wurden. Ich finde es beruhigend für alle europäischen Bürger, dass es einen Schlüssel gibt, der objektiv die Zuteilung regelt. Luxemburg hat keine drastische Verzögerung zu anderen Ländern zu beklagen.

Télécran: Werden Sie an der Option festhalten, jedem die zweite Impfdosis zu reservieren, auch wenn die Situation sich durch die Mutationen verschlechtern sollte?

Paulette Lenert: Ja, das werden wir. Es sei denn, wir kämen so sehr in Bedrängnis, dass die Wissenschaftler uns von der Risikobewertung her raten würden, vorerst nur jeweils eine Dosis zu verabreichen. Aber ich bin der Meinung, wenn man der Bevölkerung sagt, dass jeder eine zweite Dosis erhält, dann hat auch jeder ein Recht darauf. Die ersten Länder, die das anders gehandhabt haben, stehen jetzt schon vor dem Problem, sagen zu müssen: Sorry, die zweite Dosis bekommt ihr jetzt erst mal nicht. Das finde ich unfair und nicht korrekt. Man hat schließlich eine Verpflichtung gegenüber den Menschen, sie haben sich unter der Maßgabe impfen gelassen, dass sie zwei Dosen erhalten. Dann ist es auch unsere Aufgabe, dies sicherzustellen.

Télécran: Halten Sie das System mit Einladungen und Terminvergabe für flexibel genug?

Paulette Lenert: Auf diese Weise wissen wir natürlich nicht genau im Voraus, wie viele Menschen sich einen Termin holen. Dies ist möglicherweise weniger effizient, als jedem einfach einen Termin und eine Uhrzeit zuzuteilen, aber ich denke, das wird sich einpendeln. Unsere Logistikkette funktioniert jedenfalls nach Plan. Insofern bin ich nicht unzufrieden, im Gegenteil. Im Moment verschicken wir die Einladungen, sobald wir eine schriftliche Bestätigung von der Lieferung des Impfstoffs haben. Das hat bis jetzt immer geklappt. Wenn wir Dosen übrig haben, gehen diese an die Altenheime. Es läuft alles nach Plan.

Télécran: Hatten Sie schon mal den Gedanken, dass es besser gewesen wäre, sich vom europäischen Solidargedanken zu verabschieden und bilaterale Verträge mit den Impfstoffherstellern abzuschließen?

Paulette Lenert: Nein, so habe ich nie gedacht. Erstens von der Expertise her, wir haben keine Arzneimittelagentur hierzulande. Und ich bin ganz froh, dass wir auf die Expertise der Europäischen Arzneimittelagentur EMA zurückgreifen können bei den Zulassungen. Und auch hinsichtlich der Verhandlungen bin ich fest davon überzeugt, dass wir in dem globalen "Run", den es nun auf die Impfstoffe gibt, sicherlich keine so gute Verhandlungsposition gehabt hätten wie Europa als Ganzes. Luxemburg ist immer ein Befürworter von mehr gemeinsamen Aktionen gewesen, und ich finde es eigentlich schade, dass jetzt so auf die Europäische Kommission eingedroschen wird, weil es zum ersten Mal wirklich funktioniert hat, gemeinsam zu handeln. Und die Mitgliedsländer halten sich auch daran.

Télécran: Wobei Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sich schon den Vorwurf gefallen lassen musste, sie habe zu langsam agiert...

Paulette Lenert: Ich weiß es nicht, aber ich denke jedenfalls nicht, dass wir das allein so hinbekommen hätten zu verhandeln.

Télécran: Im Pflegesektor und auch zum Teil unter den Ärzten existiert eine nicht unerhebliche Impfskepsis. Was wollen Sie dagegen tun? Von diesen Berufsgruppen geht' eine hohe Signalwirkung aus...

Paulette Lenert: Noch ist diese Phase nicht abgeschlossen. Wir haben zum Beispiel auf den Weg gebracht, dass die Pflegekräfte in den Altenheimen sich auch dort vor Ort von den mobilen Teams impfen lassen können, die die Bewohner impfen. Das kommt anscheinend sehr gut an. Die Berufstätigen dort arbeiten in Schichten, viele von ihnen, vor allem Grenzgänger, haben lange Anfahrtswege. Ich glaube schon, dass es eine Hürde ist, sich dann auch noch übers Internet einen Termin zu organisieren und nach der Arbeit ein Impfzentrum aufzusuchen. Diese Einschätzung scheint sich zu bestätigen vom ersten Feedback her.

Télécran: In anderen Ländern wurde bereits hitzig über das Thema Impfpflicht diskutiert. Käme diese für Sie in Frage?

Paulette Lenert: Nein. Das wäre das falsche Signal. Die Menschen sollen sich aus Überzeugung impfen lassen. Die Gesellschaft ist ohnehin schon polarisiert, und darum wäre dies in meinen Augen genau der falsche Weg. Am wichtigsten ist es, dass die vulnerablen Personen sich impfen lassen wollen, und das ist derzeit der Fall. In den Altenheimen liegt die Bereitschaft bei 86 Prozent, und das ist beruhigend.

Télécran: Wie stehen Sie zu den Diskussionen, dass Privatunternehmen wie Reise oder Konzertveranstalter auf die Idee kommen könnten, einen Impfpass zu verlangen?

Paulette Lenert: Wir werden es von öffentlicher Seite ja nicht fordern, das ist klar. Was Privatunternehmen angeht, dazu möchte ich mich derzeit nicht äußern.

Télécran: Halten Sie es für möglich, dass nochmal Grenzschließungen auf uns zukommen?

Paulette Lenert: Die Situation ist momentan in unseren Nachbarländern, zum Beispiel in Deutschland, politisch betrachtet extrem angespannt. Ich hoffe nicht, dass dies nochmal auf uns zukommt. Wir sind sehr bemüht, im Dialog zu bleiben. Doch wir hatten von Anfang an das Problem, dass wir viel testen und nach wie vor mehr Fälle finden als andere Länder. Es ist nun mal eine Tatsache! Je mehr man testet, desto höher ist der Inzidenzwert. Das macht uns Sorgen und wir versuchen immer wieder, auf diesen Zusammenhang hinzuweisen. Inzwischen ziehen viele Länder nach, die Teststrategien werden überall hochgefahren. Luxemburg ist nach wie vor mit großem Abstand führend. Es ist nicht fair, dafür bestraft zu werden.

Télécran: Sie schließen Grenzschließungen also nicht aus?

Paulette Lenert: Ehrlich gesagt kann man nichts ausschließen, wir sind noch lange nicht durch die Krise. Der Druck ist in allen Ländern präsent. Hierzulande haben wir die Zahlen vorerst ganz gut senken können. Dass in anderen Ländern, in denen die Zahlen wieder steigen, solche Themen wie Grenzschließungen auf die Agenda kommen, ist ein Fakt.

Télécran: Was halten Sie von Österreichs Strategie, unter strengen Bedingungen zu lockern? Zum Beispiel Frisörbesuche mit negativem Testergebnis, Tragepflicht von FFP2-Masken im Einzelhandel...

Paulette Lenert: Das ist eine nuancierte Strategie, so wie wir sie ja eigentlich auch haben. In Luxemburg ist auch vieles geöffnet im Vergleich zu anderen Ländern. Im Kultur- und Sportbereich, quasi überall außer im Hotel- und Gaststättengewerbe, weil die Aktivität des Essens ein ungeschützter Bereich ist. Essen mit Maske geht nun mal nicht. Ansonsten verfolgen wir das Ziel: Normalität ja, aber mit strengen Auflagen. So sieht Luxemburgs Weg aus, eben nicht zu sagen, jeder muss zuhause bleiben. Sondern man darf Dinge in sehr kleinem Kreis tun oder eben auf Distanz. Nehmen wir als Beispiel die Kinos, wo ein Abstand von zwei Metern und Maskenpflicht einzuhalten ist. Diese Strategie trägt zur Beruhigung in der Bevölkerung bei. Zu drastische Maßnahmen wie zum Beispiel eine sehr frühe Ausgangssperre können erdrückend wirken und sollten nur in extremen Situationen zum Einsatz kommen. Was es für einen Stress bedeuten muss, den Job, Einkaufen und Freizeitaktivitäten an der frischen Luft bis 18 Uhr erledigt haben zu müssen... Wenn man zu radikale Maßnahmen verhängt, ist das wie ein Kochtopf...

Télécran: ... in dem das Wasser brodelt und irgendwann riskiert überzukochen?

Paulette Lenert: Ja, ich will nicht wissen, wie es sich anfühlt, Teenager-Kinder zu haben, die um 18 Uhr zuhause sein müssen! Oder auch das Kulturangebot. Es ist ja hierzulande alles nur im kleinen Rahmen möglich, aber es gibt den Menschen Luft zum Atmen. Gepaart mit strengen Auflagen ist das meiner Ansicht nach der Weg durch die Krise. Es sei denn, alles kommt wieder anders als geplant...

Télécran: Warum werden FFP2-Masken in Luxemburg nicht zur Pflicht gemacht?

Paulette Lenert: Die Gesundheitsdirektion hat eine klare Richtlinie ausgegeben, die das Tragen von FFP2-Masken empfiehlt. Wir tun uns jedoch schwer damit, es zur Pflicht zu machen. Weil es zum Beispiel in einem Krankenhaus nicht zum Standard gehört, dort sind es stattdessen die chirurgischen Masken. Was immer etwas in Vergessenheit gerät in dieser Debatte: Wir befinden uns nicht mehr am Anfang der Krise, wo diese Schutzutensilien weder im Handel noch in der Apotheke erhältlich waren. Das mag nun provokativ klingen, aber ich sage mir: Wenn es draußen kalt ist, ziehe ich Mütze, Schal und Stiefel an. Und dann sage ich auch nicht: Der Staat muss mir meine Stiefel bezahlen. Wir empfehlen sie, man kriegt sie zu kaufen und viele Institutionen bieten sie auch gratis an. Also in der jetzigen Situation mit einem Virus, das sehr präsent ist, mit Mutationen, möchten wir schon, dass die Bevölkerung versteht, dass es einen Unterschied zwischen einer Stoff-, einer chirurgischen und einer FFP2-Maske gibt. Und daraus soll jeder für sich seine Schlüsse ziehen.

Télécran: Sie haben im August in einem Télécran-Interview gesagt, die Pandemie habe Sie noch geduldiger gemacht. Stehen Sie immer noch hinter dieser Aussage?

Paulette Lenert: (lacht) Oh, meine Nerven sind definitiv strapaziert. Aber objektiv gesehen bin ich wahrscheinlich noch geduldiger geworden. Natürlich gibt es bei einer nervlichen Belastung Grenzen, bei jedem Menschen. Aber trotzdem, man lernt immer besser damit umzugehen. Entweder zerbricht man daran oder man wird stabiler. Also so schnell haut mich nichts um. Dennoch: Mein Team und ich, wir sind alle nur Menschen und die Pandemie währt nun schon eine lange Zeit. Das nagt schon an einem.

Télécran: Gibt es für Sie noch Momente am Tag, an denen Sie nicht an Corona denken?

Paulette Lenert: (lacht) Ja. Nachts denke ich nicht daran. Das kriege ich ganz gut hin. Ich schalte eigentlich jeden Tag ab, das ist ein Ritual. Wenn ich das nicht mehr habe, dann kann ich auch nicht mehr funktionieren.

Télécran: Sie haben also keine schlaflosen Nächte wegen Corona?

Paulette Lenert: Nein, eigentlich nicht. Es gibt den Tag, um über etwas nachzudenken, und ich mache mir auch viele Sorgen. Aber irgendwann muss man sie weglegen, sonst fressen sie einen auf.

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