Interview mit Jean Asselborn im Deutschlandfunk

"Die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts muss wieder Priorität haben"

Interview: Deutschlandfunk (Dirk Müller)

Deutschlandfunk: Herr Asselborn, sind Sie Partei?

Jean Asselborn: Sind Sie Partei? Das heißt, ist die Europäische Union Partei?

Deutschlandfunk: Nein, Sie!

Jean Asselborn: Ja, sicher! Ich bin Partei in dem Sinne, dass selbstverständlich jetzt die Gewalt gestoppt werden muss, aber dass wir uns dann direkt wieder mit der Substanz dieses Problems auseinandersetzen müssen. Das haben wir in den letzten Jahren nicht mehr gemacht, auch als Europäische Union.

Deutschlandfunk: Sind Sie propalästinensisch?

Jean Asselborn: Nein, ich bin promenschlich. Ich bin weder propalästinensisch, noch proisraelisch. Ich bin promenschlich. Ich weiß, wer am meisten da leidet, und ich weiß, dass es auch einen anderen Weg gibt, um dieses Problem zu lösen, das wir Israel-Palästina nennen, was einen Friedensprozess braucht und wo die internationale Gemeinschaft sich wieder einbringen muss.

Deutschlandfunk: Netanjahus Siedlungspolitik ist ein Krebsgeschwür, haben Sie gesagt. Würden Sie das noch mal sagen?

Jean Asselborn: Ja! Das ist die Realität! – Wissen Sie, ob wir Deutsche sind, Luxemburger, Europäer, wir haben uns die Frage zu stellen, was sind die Ursachen, warum 2008/9, 2014, 2021 dieses selbe Szenario sich wiederholt. Wir können nicht daran vorbeikommen, dass wir festhalten, dass die Palästinenser seit 1967, seit 54 Jahren unter Okkupation leben – im Westjordanland, in Ostjerusalem, in Gaza sogar noch eingesperrt sind. Und wir müssen auch der Tatsache wirklich in die Augen schauen, dass es seit 2014 – das war John Kerry, der noch einen Anlauf gemacht hat – keinen Hoffnungsschimmer mehr gibt zu einer Zwei-Staaten-Lösung oder zu einem Prozess, der Israelis erlaubt, in Israel in Ruhe und Frieden, in Würde zu leben, mit Jerusalem als Hauptstadt, und den Palästinensern Palästina in den Grenzen von _67 mit Ostjerusalem als Hauptstadt gibt.

Deutschlandfunk: Benjamin Netanjahu ist schuld?

Jean Asselborn: Wissen Sie, Netanjahu hat eine ganz große Schuld, denn unter Trump ist zusammengearbeitet worden, um alles kaputtzuschlagen was irgendwelche Hoffnung, was Motivation für die Menschen in Palästina erlaubt hat. Seine Siedlungspolitik ist, wie ich das gesagt habe. Da wird Ar um Ar Hektar und Hektar den Palästinensern weggenommen. Die Häuser, die nicht passen, werden demoliert. Es kommt soweit, wie wir das gesehen haben in Ostjerusalem, in Sheikh Jarrah, dass israelische Siedler die Fahne auf das Haus der Palästinenser setzen und sagen, verschwindet jetzt hier. Das heißt, die Angst, dass auch die Palästinenser in Ostjerusalem nicht mehr geduldet werden, ist ganz groß, und das ist etwas, glaube ich, wo immer mehr auch von Premierminister Netanjahu auf den Knopf gedrückt wird, um die Palästinenser zu erniedrigen, und das führt zu dem, was wir jetzt haben. Die Raketen von Hamas, das ist das Zeichen, dass hier etwas geschieht, was länger nicht geduldet werden kann.

Deutschlandfunk: Ist für Sie eine Reaktion? – Berechtigt?

Jean Asselborn: Nein! Es gibt keine Justifikation, keine Berechtigung, dass man aus Gaza Raketen auf Israel schießt. Es gibt keine Berechtigung dafür. Natürlich, wir müssen aber schauen, um das mal klar zu sagen: In Gaza leben Palästinenser. Wären das Deutsche, Franzosen, Luxemburger, die hier seit Jahren und Jahren eingesperrt sind, ohne Motivation, ohne zu sehen, dass es irgendein Herauskommen aus dieser Situation gibt, dass dann die Menschen wie Hamas, die es fertigbringen, die Palästinenser natürlich davon zu überzeugen, dass nur Gewalt hilft, dass das dann funktioniert. Das ist etwas, was wir nicht weiter so ertragen können, und ich glaube, dass es in Israel auch sehr, sehr viele Menschen gibt, die mit dieser Situation nicht einverstanden sind. Ich glaube, in den letzten Jahren haben wir nur Iran gesehen, Iran, Saudi-Arabien, und wir haben eigentlich als internationale Gemeinschaft, auch als Europäische Union das Problem der paar Millionen Palästinenser hinten angedrückt an die dritte, vierte Stelle. Das ist etwas, was wir in der Substanz wirklich wieder als Priorität sehen müssen, Integrität in dieser Region wiederherzustellen.

Deutschlandfunk: Haben Sie sich kritisch gegenüber dem Iran in den vergangenen Tagen auch geäußert, die das Ganze unterstützen, die Raketen unterstützen, die Waffenlieferungen unterstützen, die Logistik unterstützen, die finanziell unterstützen?

Jean Asselborn: Ja! Es ist ja ganz klar, dass das nicht geht, dass das überhaupt nicht zu tolerieren ist und dass das kriminelle Akte sind, und dass die, die hinter der Hamas stehen und Waffen liefern, dass das für mich Menschen sind: das sind Terroristen. Das ist ganz klar! Nur das Problem ist: Es genügt ja nicht, dass wir sagen, Hamas, Hamas, Hamas. Es gibt ja etwas dahinter, was tiefer ist. Es ist ja nicht der erste Krieg, der ausbricht. Ich habe das ja gesagt. Es war 2008/2009, es war 2014 und es ist jetzt. Und wissen Sie, die jungen Palästinenser, die damals bei der zweiten Intifada im Jahre 2000 protestiert haben auf dem Tempelberg, jetzt protestieren ihre Kinder da und die Situation ist noch immer die gleiche. Wir müssen in der Welt, aber auch als Europäer und ich hoffe auch als Amerikaner sehen, dass Gerechtigkeit zwischen Israel und Palästina etwas ist, dem wir uns annehmen müssen.

Deutschlandfunk: Herr Asselborn, "Krebsgeschwür" haben Sie gesagt. Sie haben noch was gesagt: Vergleich der Siedlungspolitik ist genauso wie die Annexion der Krim. Für Sie auch noch immer gültig?

Jean Asselborn: Nein, Sie verwechseln da ein wenig.

Deutschlandfunk: Wurde kritisiert, habe ich nachgelesen.

Jean Asselborn: Letztes Jahr stand im Raum, dass Herr Netanjahu vorhat, Gebiete aus dem Westjordanland zu annektieren. Das Gebiete aus dem Westjordanland, das heißt in der Region von Ramallah. Ich habe gesagt, wenn Israel das macht, dann gibt es keinen Unterschied zwischen Annexion von Gebieten im Westjordanland und das, was geschehen ist auf der Krim. Das habe ich gesagt und dazu stehe ich auch noch immer.

Deutschlandfunk: Da hat Heiko Maas gesagt, sehe ich nicht so. Haben Sie da Meinungsverschiedenheiten mit dem deutschen Außenminister?

Jean Asselborn: Der deutsche Außenminister – ich weiß ja, welche Last auf dem deutschen Außenminister liegt, auf jedem deutschen Außenminister liegt. Aber wenn er das anders sieht, gut. Annexion, ob es auf der Krim ist oder ob es im Westjordanland ist, da sehe ich keinen Unterschied in der Sache.

Deutschlandfunk: Was meinen Sie mit der Last? Das heißt, die Deutschen können keine objektive Israel-Politik machen?

Jean Asselborn: Die Deutschen sind natürlich – das muss man ja wissen; ich bin seit 17 Jahren dabei und ich habe von Joschka Fischer bis zu Heiko Maas, aber natürlich auch Herrn Steinmeier gesehen, wie schwierig es ist, und ich verstehe das auch alles. Aber wissen Sie, wir müssen aufpassen. Wenn wir ein Problem haben mit Berlusconi, sind wir nicht gegen die Italiener. Wenn wir die Politik von Herrn Netanjahu kritisieren, in der Sache der Siedlungspolitik zum Beispiel, dann sind wir ja nicht gegen Israel und wir sind bestimmt keine Menschen – ich will das Wort nicht sagen –, die etwas gegen die Juden haben. Wir sind dafür, die Menschen, die das kritisieren, sind dafür, dass in Israel dieser Friedensprozess endlich wieder auf die Beine kommt und dass wir rational an die Sache herangehen und im Kopf wissen – und das hat auch Bundespräsident Steinmeier gesagt –, dass wir sehr schnell ein Instrument wieder schaffen müssen, und da sehe ich auch wie er, dass das Quartett, das heißt Amerika, Europa, Russland und die UNO, wieder sich zusammensetzt und schaut, dass Israelis und Palästinenser sich wieder an einen Tisch setzen können. Ich weiß, dass wir Wahlen brauchen in Palästina, und ich weiß aber auch, dass wir eine Regierung brauchen in Israel. Ich weiß das alles, aber der Rahmen muss wieder geschaffen werden.

Deutschlandfunk: Das ist ja schon oft passiert. Das Nahost-Quartett haben Sie angesprochen. Trotzdem noch mal meine Frage: Sind Sie der Meinung, dass die deutsche Politik, die deutsche Außenpolitik zu sehr Rücksicht nimmt auf Israel?

Jean Asselborn: Die deutsche Politik muss ja Rücksicht nehmen wie auch die Luxemburger Politik und wie alle europäische Politik Rücksicht nehmen auf Israel. Es geht ja nicht darum, dass wir das Existenzrecht von Israel in Frage stellen.

Deutschlandfunk: Das tut ja keiner in Europa.

Jean Asselborn: Herr Müller, Präsident Abbas hat nie das Existenzrecht von Israel in Frage gestellt. Und wissen Sie, es ist noch etwas geschehen: diese Abraham-Verträge, wo die Lage zwischen Israel und verschiedenen arabischen Ländern sich verbessert hat. Das ist gut! Aber die Lage zwischen Israel und Palästina hat sich verschlechtert dadurch und das ist auch die Kritik, die ich damals angebracht habe, dass es gut ist, wenn wirtschaftlich zwischen den Emiraten und dem Sudan und Marokko und anderen Ländern eine bessere Beziehung ist mit Israel.

Und noch einmal zu den Deutschen. Sie sehen das ja sehr deutsch und das verstehe ich auch alles.

Deutschlandfunk: Sie können das nicht klar beantworten? Das heißt, das ist Ihnen nicht zu israel-einseitig, die deutsche Politik?

Jean Asselborn: Was heißt israel-einseitig? Ich habe Ihnen gesagt, ich bin nicht Proisraeli, ich bin nicht Propalästinenser. Ich bin pro Menschlichkeit, pro Rechte, pro internationales Recht. Und ich glaube, die Deutschen sind auch dafür. Die Herangehensweise eines Deutschen – das verstehe ich total – ist eine andere wie die eines Luxemburgers oder eines Belgiers.

Deutschlandfunk: Geben Sie mir noch eine Frage, Herr Asselborn. – Ist Viktor Orbán, nachdem er jüngst das gemeinsame Papier der Europäischen Union, diese Resolution blockiert hat, ist er zu sehr proisraelisch?

Jean Asselborn: Nein, er ist total antieuropäisch. Wissen Sie, wenn wir es nicht mehr fertigbringen, in einer solchen Situation eine Position zu 27 zu haben, dass wir wenigstens die Feuerpause bekommen, dass ein Waffenstillstand herkommt, wenn wir das nicht fertigbringen, dann sind wir außenpolitisch zu vergleichen mit Grönland. In Grönland schmelzen die Gletscher und bei uns schmilzt die Glaubwürdigkeit der Außenpolitik, und das ist sehr, sehr schlimm. Das tut einem weh! Wenn man lange dabei ist, dann sieht man – das habe ich noch nie gesehen in 17 Jahren –, wenn zum Beispiel ein Krieg ist in Myanmar oder wenn Krieg ist in Syrien oder im Jemen, dass wir als Europäische Union es nicht mal fertigbringen, einen Waffenstillstand zu fragen. Das ist sehr, sehr, sehr schlimm! Das ist schlimm für die Glaubwürdigkeit der europäischen Außenpolitik.

Deutschlandfunk: Warum macht Viktor Orbán das? Weil er sehr, sehr eng an Benjamin Netanjahu heranrücken möchte?

Jean Asselborn: Das auch, aber er macht es, weil er antieuropäisch ist. Das ist dieses Illiberale. Wie lange schleppen wir diese Last von Viktor Orbán noch mit?

Deutschlandfunk: Solange er demokratisch gewählt wird in Ungarn.

Jean Asselborn: Ja, sicher! Aber es gibt auch Verträge und wissen Sie, was in den Verträgen der Europäischen Union steht. Da steht drin, dass außenpolitisch jedes Land seine Pflicht zu tun hat, dass wir es zusammen fertigbringen, eine kohärente gemeinsame Außenpolitik herzustellen. Orbán macht genau das Gegenteil und verschiedene andere verstecken sich hinter ihm.

Deutschlandfunk: Wir haben nicht mehr viel Zeit; ich frage Sie das trotzdem. Beim Thema Wahlen fällt vielen jetzt noch ein, mir auch, Mahmud Abbas. Den haben Sie eben erwähnt. Mit dem reden Sie ja auch häufiger. Wann hat der wieder Lust, Wahlen abzuhalten? Seit 15 Jahren passiert das nämlich nicht.

Jean Asselborn: So ganz einfach ist das auch nicht.

Deutschlandfunk: Wahlen abhalten ist nicht so einfach?

Jean Asselborn: Sagen wir es so: Die Palästinenser müssen Wahlen abhalten. Das ist ganz, ganz klar. Dass es Probleme gibt in Ostjerusalem, das stimmt, aber das ist keine Ursache, keine Wahlen zu machen. 93 Prozent der Palästinenser waren eingeschrieben und viele junge Menschen, die noch nie gewählt haben. Die Frustration im Allgemeinen hat auch damit zu tun – ganz klar. Es genügt natürlich nicht, wie Sie richtig sagen, Wahlen abzuhalten. In Israel wurden jetzt vier Wahlen in zwei Jahren abgehalten und es steht noch immer keine feste Regierung. Ich will das alles nicht vergleichen.

Deutschlandfunk: Aber das zu machen, ist ja nicht schlecht. Sie sind ja auch nach wie vor dafür.

Jean Asselborn: Ja, klar bin ich dafür! Sie können mir das Gegenteil nicht in den Mund legen.

Deutschlandfunk: Nein, war nicht meine Absicht. Dann hätten wir das aber auch geklärt, Herr Asselborn, denn in wenigen Sekunden kommen hier die Nachrichten.

 

Quelle: Deutschlandfunk

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