Interview mit Jean Asselborn im Deutschlandfunk

"Sie hat eher den Aschermittwoch gemocht als den Rosenmontag"

Interview: Deutschlandfunk (Stephanie Rohde)

Deutschlandfunk: Merkel hat Ungarn ungewöhnlich klar kritisiert, hat sich bei ihrer spontanen Russland-Initiative verspekuliert — wird Merkel sich jetzt auf den letzten Metern selbst untreu?

Jean Asselborn: Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass sie total recht hat, was Orban angeht, total. Und zweitens, mit Russland, glaube ich, da ist ein kleiner Fehler unterlaufen in der Regie. Der Europäische Rat ist eigentlich ein wenig schwächer geworden, weil die Außenminister nicht mehr dabei sind. Ich glaube, wenn Herr Macron und Madame Merkel mit den Außenministern geredet hätten, hätten sie eingesehen, dass jetzt nicht der Moment ist, um diese Initiative durchzubekommen. Das ist ein wenig schade, aber...

Deutschlandfunk: Entschuldigen Sie, aber Angela Merkel ist ja nicht bekannt für so spontane Schnellschüsse, wieso passiert ihr jetzt so ein Fehler?

Jean Asselborn: Der Fehler, glaube ich, liegt darin, dass Biden jetzt Putin gesehen hat und dass wir in der Europäischen Union — das versteht man ja auch — eigentlich dasselbe hinbekommen müssen. Wir teilen diesen Kontinent mit Russland und müssten dann auch Gespräche auf höchster Ebene fertigbringen, aber die Situation der Amerikaner ist nicht die Situation der Europäer. Das ist schiefgegangen, aber das war vorauszusehen. Als ich hörte, dass diese Initiative jetzt im letzten Moment kommen sollte, habe ich mir gedacht, das wird nicht durchgehen, und das war auch so.

Deutschlandfunk: War das vielleicht der Versuch von Merkel, ein Vermächtnis zu hinterlassen, also diese Mahnung, bleibt mit Russland im Gespräch?

Jean Asselborn: Das braucht sie ja nicht. Die hat ja in der ganzen Zeit, die 16 Jahre, wo sie da war — sie spricht Russisch, Putin spricht Deutsch, und ich glaube, dieser Kanal war immer offen, auch natürlich wenn die Resultate nicht die waren, die man sich erhofft hat, auf beiden Seiten, aber vor allem auf europäischer Seite.

Deutschlandfunk: Lassen Sie uns drauf schauen, wie Merkel sich auch über die Jahre verändert hat. Also da kann man denken an die Austeritätspolitik nach der Eurokrise, an die Flüchtlingsfrage mit dem Türkei-Deal, die Annexion der Krim durch Russland, den Brexit, jetzt die Corona-Pandemie. Ist Merkel in dieser Zeit von einer zurückhaltenden Vermittlerin zu einer dominanten Verwalterin geworden?

Jean Asselborn: Ich kann nicht global auf diese Frage antworten, ich kann nur sehen, wie das anfing, als sie kam damals. Die Schwierigkeit war ja, dass die Franzosen und die Holländer nein gesagt haben zum Verfassungsvertrag. Wir standen vor einem Scherbenhaufen, jahrzehntelange Arbeit war praktisch umsonst. Merkel hat ja angefangen mit Chirac, ein sehr jovialer Mensch, der noch die Hand geküsst hat, so wie früher in Wien, aber aus Chirac wurde dann sehr schnell Sarkozy, ein ziemlich unwirscher Mensch, der sehr agitiert war. Sie musste sich durchsetzen damals mit Frank Steinmeier als Außenminister, dass man überhaupt diesen Lissaboner Vertrag bekommen konnte. Sarkozy hat immer gesagt, wir wollen einen kleinen Vertrag, einen "petit traité", und sie hat sich glücklicherweise durchgesetzt. Das war, glaube ich, der Einstieg in die Europäische Union, und der war richtig. Dann kam natürlich schnell die Finanzkrise, das war ein harter Brocken.

Deutschlandfunk: Merkel hat ja auf dem ersten EU-Gipfel 2005 ziemlich am Anfang auch gesagt, Deutschland müsse als Erstes auch seine eigenen Interessen vertreten. Der deutsche Soziologe Ulrich Beck, der hat Merkel attestiert, sie errichte ein deutsches Europa. Haben Sie das damals auch so erlebt, dass die deutschen Interessen auf einmal sehr dominant vertreten wurden?

Jean Asselborn: Hab ich eigentlich nicht so gesehen. Ich glaube, dass Merkel, die deutschen Regierungen, würde ich sagen, immer gesehen haben, dass Deutsche, sagen wir mal falscher Patriotismus, und sogar Deutschland als größtes Land in der Europäischen Union nicht fähig sind, all diese Herausforderungen zu meistern. Sie hat das vielleicht am Anfang, wenn sie das gesagt hat, ich habe das nicht mehr im Kopf, wenn sie das gesagt hat, sie hat aber in den 16 Jahren, das kann ich sagen, ganz anders agiert. Ich glaube, es waren zwei Sachen, die ihr schwer, schwer auf den Magen geschlagen sind. Das ist Brexit und das ist natürlich auch die Wahl von Trump, als der ganze Multilateralismus, die internationale Zusammenarbeit eingebrochen ist. Das hat ihr wehgetan, und ich glaube, dagegen hat sie auch angekämpft.

Deutschlandfunk: Wie würden Sie das denn beurteilen, ist Merkel stark geworden, weil die anderen Partner vielleicht auch so schwach waren, wenn wir uns jetzt zum Beispiel die Eurokrise anschauen?

Jean Asselborn: Das würde ich nicht so sehen. Die Eurokrise, das fing ja an, wenn ich richtig informiert noch bin, 2008. Damals haben die Deutschen sich gegen eine gemeinsame Wirtschaftspolitik gewehrt, das stimmt. Merkel hat damals deutsch reagiert: Man muss erwirtschaften, sparen und dann investieren. Die Franzosen, die Südländer haben eher gedacht, man erwirtschaftet, und wenn es nicht genügt mit dem Sparen, dann kann man leihen gehen und dann eben investieren. Sie wissen, dass Deutschland zu dieser Zeit mit dem Euro sehr, sehr stark geworden im Export. Schauen Sie sich die deutschen Autos an, die in Europa verkauft wurden, sie haben von da an der Champions League gespielt, und dann auf einmal kam der Druck auf den Euro. Wissen Sie, dieses Bild von Deauville, das muss man im Kopf haben, von 2010, als Merkel und Sarkozy sich unter einem Regenschirm begegnet sind und dann, hatten sie beide beschlossen, jetzt die Sanktionsmechanismen durch Vertragsänderungen viel stärker zu machen, also der Stabilitätspakt, und das ging nicht. Damals hat Jean-Claude Juncker als Eurogruppenchef gesagt, so nicht, mit diesem Stil, und das kam dann zu Änderungen leicht. Aber auch hier hat Merkel versucht und es auch hinbekommen, glaube ich, als Ziel, dass keiner verloren ging — weder Griechenland noch Irland, Spanien, Portugal gingen verloren im Euro. Sie hat uns natürlich manchmal sehr genervt mit diesem Karlsruhe, das ist aber, glaube ich, trotzdem dann gut über die Bühne gegangen.

Deutschlandfunk: Frankreich wollte ja gemeinsam mit Deutschland eine Renaissance für Europa auf den Weg bringen, allerdings hat Merkel Macron da lange hängen gelassen, zumindest seine Vorschläge nicht beantwortet und auch nie den Enthusiasmus aufgebracht wie Macron. Es gibt ja diesen Ausdruck, dass jemand ein großer Europäer ist. Ist Merkel eine eher kleine Europäerin?

Jean Asselborn: Das ist, glaube ich, falsch dargestellt. Sie hat effektiv lange gezögert, auf den Vorschlag von Macron, das stimmt, überhaupt die deutsche Regierung, aber das wurde ja dann was. Ich bin noch immer überzeugt, dass Merkel immer wusste, dass Deutschland nur, sagen wir mal, auch für sich selbst stark wäre, wenn Europa stark ist. Nehmen wir zum Beispiel die Migrationskrise, da hat sie unbedingt das Allerrichtige gemacht. Sie hat sich nicht wie Orban und andere mit Stacheldraht dagegen gewehrt, dass Menschen aus diesem Krieg nach Europa gedrängt sind, und sie hat die Türen geöffnet. Das war, glaube ich, das einzige Richtige, ohne das wäre die Europäische Union explodiert, es wäre zum Krieg gekommen auf dem Balkan wieder. Natürlich hat sie auch — und das ist ja immer mit Frankreich im Vergleich — an das Bild Deutschlands gedacht, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine Katastrophe, und dieses Bild zu verbessern, war natürlich auch eines ihrer Ansinnen. Natürlich hat sie auch als Konsequenz ertragen müssen, dass diese AfD entstanden ist, aber ich glaube, dieser Verein wird sich nicht halten, denn ich bin fest davon überzeugt, dass er verdunsten wird, weil die Deutschen ja ihre Geschichte kennen. Die Deutschen kennen ihre Geschichte, die Franzosen kennen ihre Geschichte, alle anderen Länder auch, aber Merkel hat nie auf falschen Patriotismus, wie ich gesagt habe, gesetzt, sie hat immer das Europäische gepredigt, und ich glaube, das hat sie ausgezeichnet.

Deutschlandfunk: Herr Asselborn, eine fiese Frage: Was wird Ihnen nicht fehlen an Angela Merkel?

Jean Asselborn: Nicht fehlen? Ich glaube, der Europäischen Union wird etwas fehlen, aber niemand ist unersetzbar. Ich glaube, dass sie, wenn ich sie als Person so sehe, als Politikerin, sie war keine Geizige, sie war auch keine Frugale, sie war protestantisch-nüchtern, auch als Politikerin. Ich glaube, wenn man so sagen darf, sie hat eher den Aschermittwoch gemocht als den Rosenmontag, aber sie hat auch immer eine Balance gehalten zwischen dieser Verbissenheit, diesem Ernst in ihrer Politik und auch Humor, das hatte sie auch. Ich glaube, dass sie schon Europa geprägt hat. Manchmal hat sie natürlich — war sie vielleicht etwas pedantisch, aber man muss ja, Sie haben das ja gesagt, auch auf der Zeitschiene das Ganze sehen. Sie hat sich schon sehr verdient gemacht, um die Europäer zusammenzuhalten und Europa auch zu helfen, dass die Orbans dieses Europas, das heißt, die die Rechtsstaatlichkeit mit Füßen treten, dass die nicht die Oberhand bekommen, und das ist sehr wichtig gewesen.

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