Interview mit Jean Asselborn im Tageblatt

"Im Moment sind wir noch etwas ratlos"

Interview: Tageblatt (Birgit Marschall)

Tageblatt: Herr Asselborn, wieist die Situation in Afghanistanaktuell zu bewerten?

Jean Asselborn: Wenn die Taliban wiederholen, was sie vor20 Jahren schon getan haben, die massive Verletzung von Menschenrechten, die Diskriminierung von Frauen und Mädchen, dann ist das der GAU, der größtmögliche Unfall, den wir gerade erleben. Weder die Amerikaner noch die Europäer haben aber voraussehen können, dass die Taliban in nur einer Woche das Land zurückerobern würden.

Tageblatt: Welche Fehler hat der Westen in Afghanistan gemacht?

Jean Asselborn: Der Sinn des Einsatzes der westlichen Streitkräfte in Afghanistan war für uns Europäer immer der Schutz der Menschenrechte. Wir wollten nicht dabei zusehen, dass Frauen und Mädchen wie Menschen zweiter Klasse, wie Untermenschen behandelt werden. Wo wären wir heute, wenn der Westenvor 20 Jahren nicht eingegriffen hätte? Von daher hat der schon Sinn gehabt. Ich habe in Afghanistan sehr couragierte, mutige Frauen getroffen, die eine Lebensweise haben wollten, die sich an unseren westlichen Werten orientiert.

Tageblatt: Welche Konsequenz muss der Westen jetzt aus der Entwicklung ziehen?

Jean Asselborn: Wir müssen erkennen, dass unser bisheriger westlicher Ansatz, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Länder wie Afghanistan, Mali oder andere Länder exportieren zu wollen, einfach nicht funktioniert. Durch die westliche Außenpolitik muss nach der Machtübernahme der Taliban ein Ruck gehen: Wir müssen uns überlegen, ob wir einemanderen Volk überhaupt Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufzwingen können. Das ist eine kapitale Frage, die sich der Westen jetzt stellen muss, ohne zugleich in Fatalismus zu verfallen. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nicht auf Länder transferierbar, die eine ganz andere Geschichte, Mentalität und Tradition haben als wir. Diese Lehre müssen wir aus Afghanistan ziehen.

Tageblatt: Was kann der Westen denn jetzt überhaupt noch tun?

Jean Asselborn: Zuschauen und Nichtstun ist jedenfalls nicht die Alternative. Ich gebe zu, dass wir im Moment noch etwas ratlos sind. Klar ist aber, dass der internationale Druck auf die Taliban in diesem Moment unbedingt aufrechterhalten werden muss. Die Menschenrechte dürfen nicht mit Füßen getreten werden. Eine Regierung der Taliban, die die Menschenrechte nicht respektiert, kann von der EU nicht akzeptiert werden. 50Prozent der Menschen in Afghanistan bedürfen internationaler Hilfe! Ohne diese Hilfe würde das Chaos im Land noch viel schlimmer. Darum hoffe ich, dass die Taliban gelernt haben, dass sie die Menschenrechte wahren müssen.

Tageblatt: Wie kann der Rest der Welt der Hälfte der afghanischen Bevölkerung von außen helfen?

Jean Asselborn: Die EU steuert bereits unheimlich viel Geld und Material zur humanitären Hilfe bei. Das ist der einzige Hebel, den wir im Moment noch haben, um die Taliban zu beeinflussen. Wir brauchen China und Russland dabei mit am Tisch.

Tageblatt: Aber China und Russland sind doch vor allem an den Bodenschätzen interessiert, weniger an den Menschenrechten...

Jean Asselborn: Ja, klar. Russland leidet aber sehr unter dem Opium-Handel aus Afghanistan. Ich kann mir auch nichtvorstellen, dass China eine Taliban-Regierung unterstützt, die die gesamte Region destabilisiert und die Menschenrechte mit Füßen tritt. Wir sind in einer Phase, in der wir die Hoffnung nicht aufgeben dürfen. Wir dürfen die Welt jetzt nichtaufteilen in westliche und nichtwestliche Interessen. Wir brauchen eine starke Kooperation mit Russland und China.

Tageblatt: US-Präsident Joe Biden hat gesagt, künftig würden die USA nirgends mehr einmarschieren, sondern den Terror nur noch gezielt bekämpfen durch kurze militärische Aktionen. Ist das der Weg, den der Westen gehen muss?

Jean Asselborn: Terrorismus darf man sich nichtentwickeln lassen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat am Montag fast dasselbe gesagt wie Joe Biden. Was Amerikaangeht: Ich kann verstehen, dass man nach 20 Jahren in Afghanistan Schluss machen möchte. Es ist sicher kritisch zu sehen, wie schnell dieser Truppenabzug vollzogen wurde. Aber als Europäer müssen wir auch eingestehen, dass der Einsatz der USA in Afghanistan viel, viel größer und teurer war als unserer. Es ist zu einfach, jetzt einfach den Amerikanern die Schuld für das Desaster in Afghanistan zu geben.

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