Interview mit Jean Asselborn im Telecran

"Keine Mühen scheuen"

Interview: Telecran (Jeff Karier)

Telecran: Herr Minister Asselborn: Wie hat sich die Situation in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban verändert?

Jean Asselborn: Ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Taliban befindet sich Afghanistan in einer großen humanitären und wirtschaftlichen Krise. Das Land war schon vorher wirtschaftlich schwach entwickelt und auf externe Hilfe angewiesen, die bis zu 75 Prozent des Staatshaushaltes der Republik Afghanistan ausgemacht hat. Während die humanitäre Hilfe weiterläuft, sind die Entwicklungszahlungen an die afghanische Regierung seit der Machtübernahme eingestellt. Zudem leidet das Land derzeit unter schweren Dürren, die die Menschen in Teilen Afghanistans in die Armut getrieben haben. Heute sind geschätzte 23 Millionen Afghanen vom Hungertod bedroht. Hier ist die Weltgemeinschaft gefordert, verstärkt humanitäre Hilfe zu leisten. Auch Luxemburg beteiligt sich an diesen Bemühungen. So hat die Regierung letztes Jahr zum Beispiel beschlossen, die humanitäre Unterstützung von den ursprünglich geplanten 2,5 Millionen Euro auf 8,1 Millionen Euro zu erhöhen. Seit der Machtübernahme bezeichnen die Taliban die Wiederherstellung der Sicherheit im Land als Priorität. Berichten zufolge scheint es, als ob das Land jetzt teilweise sicherer sei als in den vergangenen Jahrzehnten. Jedoch bedroht die Willkür der Taliban das Leben von Millionen Afghanen. Besonders die Rechte der Frauen und Mädchen werden systematisch eingeschränkt. Anders als in den 90er Jahren dürfen jetzt einige Frauen arbeiten, jedoch begrenzen strenge Vorschriften oft die Berufsausübung. Auch bleibt abzuwarten, ob die Ankündigung der Taliban, Mädchen im neuen Schuljahrwieder den Zugang zur Bildung zu gewährleisten, in die Realität umgesetzt werden wird.

Telecran: Mit Blick auf die Sanktionen und die wirtschaftliche Notlage des Landes: Riskiert der Westen mit dieser Strategie nicht, dass am Ende in erster Linie die Bevölkerung und nicht die Taliban getroffen wird?

Jean Asselborn: Die UN-Sanktionen, die durch die Resolution 1988 (2011) des UNO­-Sicherheitsrats verhängt wurden, richten sich nicht gegen die Taliban als solche, sondern konkret gegen individuelle Personen und Einrichtungen, die für eine Bedrohung des Friedens, der Stabilität und der Sicherheit in Afghanistan verantwortlich sind. Ich begrüße ausdrücklich die Entscheidung des UNO-Sicherheitsrats vom 22. Dezember 2021, Ausnahmen von den Sanktionen für humanitäre Aktivitäten zu erlassen. Die EU hat diese Entscheidung auch Anfang des Jahres unverzüglich umgesetzt. Dies ist ein wichtiger Schritt, um negative Auswirkungen auf die Bevölkerung zu vermeiden.

Telecran: Wie kann der Westen auf einen positiven Wandel in Afghanistan hinarbeiten, ohne erneut militärisch aktiv zu werden und ohne die Position der Taliban zu stärken?

Jean Asselborn: Nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 war die Europäische Union sich einig, Verantwortung für die legitimen Bestrebungen des afghanischen Volkes nach Frieden, Sicherheit, Würde und sozioökonomischer Entwicklung zu übernehmen. Wir dürfen keine Mühen scheuen, um zu den internationalen Bemühungen beizutragen, die Errungenschaften der letzten 20Jahre zu bewahren, insbesondere die Rechte von Frauen, Mädchen, Kindern und Minderheiten, den Zugang zu Gesundheit und Bildung sowie die Pressefreiheit. Der Rat der Europäischen Union hat sich auf fünf Benchmarks für Strategien und Maßnahmen unter dem von den Taliban ernannten geschäftsführenden Kabinett geeinigt, die als Leitprinzipien für das künftige Engagement dienen sollen, ohne den Taliban Legitimität zu verleihen. So stellt zum Beispiel die Forderung nach Schutz und Achtung aller Menschenrechte, insbesondere der Rechte von Frauen und Mädchen, ein Grundprinzip für jegliches Engagement gegenüber den Taliban dar. Die EU setzt auch weiterhin auf Dialogbereitschaft und knüpft in Gesprächen mit den Taliban die Wiederaufnahme der Entwicklungshilfe an die Einhaltung der Menschenrechte. In diesem Sinn haben in Oslo Gespräche zwischen Taliban und UNO­Vertretern, auch mit EU-Diplomaten, stattgefunden. Seit Januar baut die EU auch wieder eine Minimalpräsenz vor Ort in Kabul auf, mit dem Ziel, humanitäre Hilfe im Land zu erleichtern und die aktuelle Notlage zu überwachen. Dieser Schritt darf auf keinen Fall als Zeichen der Anerkennung der Taliban-Regierung verstanden werden. Die EU wird keinen Botschafter nach Kabul entsenden.

Telecran: In Afghanistan werden täglich Menschen Opfer von Minen und anderen Sprengsätzen. Wie sehen die Bemühungen aus, diese tödlichen Kriegsreste zu beseitigen?

Jean Asselborn: Afghanistan leidet seit der Besetzung des Landes durch die Sowjetunion unter einer der größten Kontaminationen durch Landminen weltweit. Zusammengerechnet fast 200 Quadratkilometer des Landes gelten offiziell seit 2020 als kontaminiert. Dabei handelt es sich nicht nur um Antipersonen-Minen, sondern auch um Kriegsreste, als "Explosive remnants of war", ERWs, bezeichnet, und immer öfter um sogenannte "Improvised explosive devices", IEDs, also sozusagen hausgemachte Minen, die vor allem von nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen hergestellt und eingesetzt wurden und werden. Die Kontamination steigt hauptsächlich durch IEDs weiter und nur etwa 25 bis30 Quadratkilometer pro Jahr werden aktuell beseitigt. Die Anstrengungen, um diese Minen zu beseitigen, werden zwar weiterhin unternommen, vor allem mithilfe der UNO und verschiedener Nichtregierungs-Organisationen,– auch nach der Übernahme der Taliban – jedoch wurden alleine für 2020 1474 Opfer aufgezeichnet – die Dunkelziffer ist wohl noch höher. Von allen Minenopfern in Afghanistan sind fast zwei Drittel Zivilisten, wovon ein sehr großer Teil Kinder sind. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen inzwischen IEDs zum Opfer fallen, was nochmal verdeutlicht, dass diese Art von Minen aktuell ein sehr großes Problem darstellen. Seit 1989 sind in Afghanistan insgesamt 40.850 Zivilisten durch Minen getötet oder verletzt worden. 2020 waren 98,8 Prozent aller ziviler Opfer von Minen aller Art auf IEDs und ERWs zurückzuführen, im selben Jahr lag der Anteil von Kindern, die ERWs zum Opfer fielen, bei über 72 Prozent. Im September 2021 hat das "United Nations Emergency Mine Action Coordination Center for Afghanistan", welches unabhängig von der de facto Regierung ist, die Verantwortung für die Bekämpfung des Minen-Problems in Afghanistan übernommen. Dies erlaubt es, diese wichtige humanitäre Arbeit weiterzuführen. Luxemburg investiert jedes Jahr erhebliche Summen in die sogenannte "Mine action", die Beseitigung von Minen. Dies wird vor allem durch unsere humanitäre Aktion und durch unseren Verteidigungshaushalt finanziert. In rezenten Jahren hat sich diese Hilfe auf den Irak und Laos konzentriert, zwei Länder, die ebenfalls enorm unter den Folgen von Kontamination durch Minen und ERWs leiden. Für uns ist klar, dass Landminen und ähnliche Waffen unmenschlich und nicht zu tolerieren sind. Daher hat Luxemburg natürlich alle einschlägigen Konventionen unterzeichnet, allen voran die Ottawa-Konvention gegen Landminen und die Oslo-Konvention gegen Streubomben. Wir werden auch weiterhin alle Anstrengungen unternehmen, diese Waffen und ihren Einsatz zu ächten, und uns an der Beseitigung der Minenweltweit beteiligen.

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