Interview mit Claude Turmes im Luxemburger Wort

"Wir sind in einer Kriegssituation"

Interview: Luxemburger Wort (March Schlammes, Thomas Klein)

Luxemburger Wort: Claude Turmes, Sie waren diese Woche auf Energiemission in Norwegen. Mit welchen Erkenntnissen kehren Sie zurück?

Claude Turmes: Norwegen hat zugesagt, seine Gasexporte nach Europa weiter zu steigern. Das Land ist auch ein wichtiger Partner in der Energiewende. Die neue norwegische Regierung hat beschlossen, zusätzliche Offshore-Wind-Kapazitäten von 30 000 Megawatt aufzubauen. Das ist Strom für 25 Millionen Menschen; und Norwegen hat 5,4 Millionen Einwohner. Daneben wird das Land in der Energiewende ein immens wichtiger industriepolitischer Akteur sein, der enormes technisches Know-how mitbringt. Auch können sie sehr günstig Strom produzieren. Neben Spanien und Portugal wird Norwegen daher das erste europäische Land sein, das Wasserstoff wirtschaftlich herstellen kann. Daher ist es gut, dass wir über das Mobilitätsministerium und über den Flughafen Findel schon erste Kooperationsprojekte haben, um norwegischen Wasserstoff in Luxemburg nutzen zu können. Luxemburg wird immer ein Stromimportland sein. Daher versuchen wir, neben Dänemark, mit dem wir ja schon eine Kooperation eingegangen sind, mit Norwegen eine weitere strukturelle Zusammenarbeit im Bereich des grünen Wasserstoffs, bei Strom und E-Fuels zu vereinbaren.

Luxemburger Wort: Sie sprechen es an, Luxemburg ist für einen Großteil seiner Energie auf Importe angewiesen. Gibt es keine Sorgen, dass die europäische Solidarität bei der Energieversorgung ähnlich schnell über Bord geworfen wird wie zu Beginn der Corona-Krise?

Claude Turmes: Solche Entwicklungen muss man antizipieren. Das haben wir getan. Wir haben einen gemeinsamen Gasmarkt mit Belgien. Seit Beginn der Krise haben wir eine "Crisis Group" zusammen mit der belgischen Regierung, in der Notfallpläne abgesprochen werden. Von der belgischen Seite haben wir die Zusicherung, dass wir gemeinsam reagieren. Beim Strom haben wir das Gleiche mit Deutschland. In dem Rahmen war der Stresstest, den Deutschland gemacht hat, sowohl für den deutschen als auch für den luxemburgischen Strommarkt. Dabei wurden auch extreme Szenarien modelliert, bei denen es zu regionalen Engpässen kommen könnte - das aber vor allem in Bayern, nicht in Luxemburg.

Luxemburger Wort: Frankreich setzt auf Atomkraft. Dort gibt es auch massive Schwierigkeiten mit den Anlagen. Der Stromnetzbetreiber RTE spricht sogar schon davon, dass geplante Blackouts notwendig werden könnten. Inwieweit würde das Luxemburg betreffen?

Claude Turmes: In der Tat hat Frankreich massive Probleme mit dem Betrieb seiner AKW und einen enormen Rückstand beim Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir werden im öffentlichen Netz über Deutschland beliefert. Einige Industriebetriebe wie ArcelorMittal in Luxemburg können aber aus Belgien oder Frankreich beliefert werden. Die haben jetzt beschlossen, weil ihnen Frankreich zu unsicher war, dass sie ihre Energie zu 100 Prozent aus dem belgischen Netz beziehen. Auf mein Betreiben hin erstellt der Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber jetzt schon eine Modellierung der Stromnachfrage für Deutschland, Frankreich, Benelux, Österreich und die Schweiz, die normalerweise erst im Dezember gemacht wird. Spätestens Ende September bekommen wir daher robuste, zahlenbasierte Aussagen darüber, ob es im europäischen Stromnetz eventuell knapp werden könnte und ob weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen.

Luxemburger Wort: Was bereitet Ihnen zurzeit mehr Sorgen: Die Versorgungssicherung bei Gas und Strom oder die Preisentwicklung?

Claude Turmes: Ich habe sogar drei Sorgen: An erster Stelle steht die Versorgungssicherheit, die mich täglich beschäftigt. Das Zweite ist die Preisentwicklung, die dramatisch ist und wo auch klar ist, dass wir den Haushalten und den Betrieben helfen müssen. Die dritte Sorge betrifft den Klimaschutz. Wenn man sich die Situation weltweit anschaut, beispielsweise die rezenten, verheerenden Unwetter in Pakistan, können wir es uns trotz der akuten Energiekrise nicht leisten, nur einen Schritt im Klimaschutz zurückzugehen.

Luxemburger Wort: Aber besteht nicht dennoch die Gefahr, dass der Klimaschutz zurückstecken muss, wenn die Länder sich auf die Versorgungssicherheit konzentrieren müssen?

Claude Turmes: In unserer Regierung nicht. Der Ausbau der erneuerbaren Energien wird konsequent Weiterbetrieben. Dies ist neben Klimaschutz auch ein wichtiger Beitrag zu unserer Versorgungssicherheit. Daneben haben wir zum Beispiel den Tankrabatt nicht weitergeführt, weil er sozial ungerecht ist, dem Budget nichts bringt und weil er kontraproduktiv für den Klimaschutz ist. Die 2021 eingeführte CO2-Steuer steht auch nicht zur Disposition. Aufgrund der Energiekrise laufen ein paar Kohlekraftwerke länger, aber umso mehr müssen dann in den Folgejahren an Emissionen eingespart werden. Darum ist es auch so wichtig, dass alle Länder in Europa die erneuerbaren Energien schneller ausbauen.

Luxemburger Wort: Andererseits leiden gerade energieintensive Industriebetriebe unter den hohen Preisen. ArcelorMittal zum Beispiel hat den Betrieb von zwei Werken eingestellt. Wie kann verhindert werden, dass die Energieknappheit zu einer Deindustrialisierung führt?

Claude Turmes: Wir müssen in Europa kurzfristig alles Mögliche und Sinnvolle tun, um die Gas- und Strompreise zu senken. Haushalte und Unternehmen in Luxemburg wollen wir durch gezielte Unterstützung so gut es geht durch die Krise bringen und sie bei der Umstellung auf erneuerbare Energien begleiten. Hierbei werden wir die Möglichkeiten nutzen, die wir im Rahmen der europäischen Regelung der Staatsbeihilfe haben, die unbedingt vereinfacht werden müssen. Hier in Luxemburg haben wir in der Tripartite bereits beschlossen, eine Kreditlinie von 500 Millionen Euro bereitzustellen.

Luxemburger Wort: Wenn nun die Förderung der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz forciert wird: Wie realistisch ist eine rasche, praktische Umsetzung, von der Genehmigung bis zur Einrichtung? Es sind ja jetzt schon deutliche Engpässe zu beobachten.

Claude Turmes: Klimapolitik heißt ja im Endeffekt nichts anderes, als massive Investitionen zu tätigen und neue Arbeitsplätze zu schaffen, um Häuser zu isolieren oder Solaranlagen zu installieren. Für die Handwerksbetriebe haben wir daher fantastische Aussichten für die nächsten Jahre. Die Unternehmen reagieren, machen Weiterbildungen und bemühen sich, um Fachkräfte einzustellen. Wir sind als Regierung im ständigen Austausch mit den Betrieben, um zu erfahren, was wir tun können, das Handwerk attraktiver zu gestalten. Zudem arbeiten wir mit dem Umweltministerium derzeit an einer Vereinfachung der Prozeduren im Bereich von Wind- und Solarenergie. Gerade bei Photovoltaik, Wärmepumpen und energetischer Sanierung geht mein Appell aber auch an die Gemeinden, ihre Genehmigungsprozeduren konsequent zu vereinfachen.

Luxemburger Wort: Betreiber von Windkraft und Solaranlagen machen bei den hohen Strompreisen enorm hohe Gewinne. Die EU-Kommission hat diese Woche eine Übergewinnsteuer ins Gespräch gebracht. Ist dies ein sinnvolles Instrument, um die Preise runterzubekommen?

Claude Turmes: Ich gehen davon aus, dass wir eine Mehrheit für eine Übergewinnsteuer bekommen werden. Da wäre dann relativ schnell umsetzbar. Die Europäische Kommission sollte dazu ein paar Vorgaben machen, damit das einheitlich umgesetzt wird in der EU. Dann muss geklärt werden, wie die Einnahmen, die dadurch erzielt werden, wieder an die Verbraucher und die Unternehmen zurückgegeben werden.

Luxemburger Wort: Muss nicht über eine Reform der Architektur des europäischen Strommarktes nachgedacht werden? Im Moment bestimmt der teuerste Erzeugungsweg den Strompreis. Spricht irgendetwas dafür, das "Merit-Order"-Prinzip beizubehalten?

Claude Turmes: Die Diskussion ist wichtig. Anderseits ist das Design des Marktes dafür verantwortlich, dass der Strom in Europa immer dahin fließt, wo er gerade gebraucht wird. Die Funktionsfähigkeit des Marktes ist ohnehin derzeit gestört und ich muss bei jedem Eingriff in den Markt immens aufpassen. Wir sind in einer angespannten Situation. Es ist, als wenn ich einen Patienten am offenen Herz operiere und dieser gleichzeitig eine Immunschwäche hat. Da muss man aufpassen, dass nicht die Herzoperation gelingt, der Patient aber trotzdem stirbt. "Patient tot" im Strombereich heißt: Die Grenzen werden geschlossen. Das wäre für ein Energie-Importland wie Luxemburg fatal und das werde ich mit aller Kraft verhindern.

Luxemburger Wort: Wie ist Ihre Einschätzung, wie lange die Energiekrise andauern wird?

Claude Turmes: Wir sind in einer Kriegssituation. Putin hat einen brutalen Überfall auf die Ukraine gestartet. Daneben führt er einen Energiekrieg gegen Europa. Der dritte Krieg findet in den sozialen Medien statt, wo die Russen Desinformationskampagnen betreiben, um die Menschen auf die Straßen zu treiben, wie zuletzt in Tschechien gesehen. Das ist eine außergewöhnliche Situation. Wir müssen uns darauf einstellen, dass das Jahre dauert. Zum Beispiel beim Gas war Europa zu 40 Prozent abhängig von Russland. Um diese Menge organisiert und günstig zu ersetzen, braucht es mehr als ein paar Monate. Aktuell müssen wir Gas zu Preisen kaufen, zu denen wir es normalerweise nicht einkaufen würden. Putin hat vorige Woche mit der Bazooka in den Gasmarkt geschossen, aber ich frage mich, ob er damit nicht sein letztes Pulver verschossen hat. Er hat die Lieferung über Nord Stream 1 eingestellt und Gazprom hat seine langfristigen Lieferverträge gekündigt. Alles, was er machen konnte, um die Gaspreise hochzudrücken, hat er vergangene Woche getan. Interessant ist, dass die Preise zunächst hochgeschnellt sind, aber seither fallen. Auch, weil die Märkte sehen, dass Europa seine Gasspeicher schneller füllt, als jeder vorher angenommen hatte. Es kann also sein, dass Putin an den Grenzen seiner Schädigungsmacht angelangt ist und wir langsam in eine andere Situation kommen. Es ist aber noch zu früh, um das wirklich zu beurteilen. Beim Gas sind wir aber heute weniger erpressbar wie noch vor sechs Monaten.

Luxemburger Wort: Das Ziel ist ja, 15 Prozent einzusparen. Wir groß ist denn die Zuversicht, dass das auf freiwilliger Basis erfolgen kann?

Claude Turmes: Erst einmal muss man klarstellen, dass unsere Gas-Versorgungssituation nicht mit jener in Deutschland zu vergleichen ist. Derzeit gibt es keine akute Gefahr eines Versorgungsproblems. Sparen ist dennoch sehr wichtig, denn es hilft den Preisdruck auf den Märkten zu reduzieren, ein Beitrag zur Verbesserung der Versorgungssicherheit und aus Klimaschutzgründen immer angebracht. Uns war wichtig, möglichst viele Akteure an Bord zu bekommen. Beim Staat machen wir unsere Hausaufgaben mit der Beschränkung auf 20 Grad Celsius und der Reduzierung der Beleuchtung in öffentlichen Gebäuden. Das sind die wesentlichen Stellschrauben. Die Gemeinden haben ihre eigene Dynamik. Wir sind da in einer guten Ausgangsposition mit dem Klimapakt und unseren Klimaberater. Es gibt wohl kein anderes Land in Europa, in dem 100 Prozent der Gemeinden bereits in einer strukturellen Zusammenarbeit sind, um Energie zu sparen. Die Zusammenarbeit zwischen den Ministerien und den Wirtschaftsverbänden funktioniert auch sehr gut. Es ist sehr gut, dass wir innerhalb weniger Monate einen so breiten Schulterschluss hinbekommen haben. Wenn alle wichtigen Akteure in der luxemburgischen Gesellschaft mitmachen, sollte ich als Privatperson auch meinen Teil beitragen. Ich setze ich auf gemeinschaftliches Engagement statt einer Sparpolizei.

Luxemburger Wort: Ist die Energiekrise nicht auch eine soziale Frage? Wenn ich ohnehin kein Geld habe, spare ich Strom schon aus Notwendigkeit. Mit einem sechsteiligen Gehalt kann ich schon eher eine höhere Rechnung in Kauf nehmen.

Claude Turmes: Unser Slogan ist: zusammensparen und zusammenhalten. Es geht darum, solidarisch zu sein. Gas spare ich natürlich für mein eigenes Portemonnaie ein, aber auch, weil das eine kollektive, nationale und europäische Anstrengung ist für unsere Versorgungssicherheit. Wenn wir da in Europa nicht hinkriegen, bleiben wir erpressbar durch Putin. Der zweite Aspekt ist "zusammenhalten". Uns ist bewusst, dass wir aufgrund der aktuellen Gaspreise zusätzliche Maßnahmen zur Unterstützung benötigen. Wir brauchen weitere gezielte Hilfen für die Haushalte und für die Betriebe. Wir haben uns bereits mit den Sozialpartnern getroffen, um zu sehen, ob die beschlossenen Maßnahmen ausreichen.

Luxemburger Wort: Politik soll eigentlich vorausschauend wirken: Rückblickend betrachtet war es alles andere als vorausschauend, dass auch in Luxemburg in jüngerer Vergangenheit Erdgas als Energiequelle gefördert worden ist, Gemeinden erhielten beispielsweise Fördermittel, wenn sie Gasleitungen verlegten.

Claude Turmes: Gas war bis vor zwei, drei Jahren auch klimapolitisch eine sinnvolle Option. Wir sehen aber jetzt, dass die Klimaveränderung viel schneller und brutaler Konsequenzen hat als auch Klimawissenschaftler zuvor angenommen. Wir müssen also noch schneller von fossilen Energien weg. Der größte Fehler war aber, sich in die extreme Abhängigkeit von Russland zu begeben. Die Entscheidungen zu Nord Stream 2 kam ja nach der Krim-Annexion 2014. Wir haben das von Anfang an für einen Fehler gehalten. Das ist vor allem die Folge der Politik der Merkel-Regierung in Deutschland. Man sollte nie mehr als 20 Prozent Abhängigkeit von einem Lieferanten haben. Das gilt vor allem, weil wir in den nächsten Jahren in ein ganz anderes geopolitisches Fahrwasser kommen.

Luxemburger Wort: Wie sieht es mit der Versorgung bei Benzin und Diesel aus?

Claude Turmes: Die Situation in Bezug auf Benzin ist in Europa und in Luxemburg derzeit stabil. Beim Diesel gilt das Embargo für russische Importe ab Dezember. Das haben wir bewusst so gewählt, damit die Raffinerien genügend Zeit haben, um anderswo Öl zu kaufen. Da sieht es nach meinem aktuellen Kenntnisstand derzeit stabil aus. Wenn sich daran etwas ändern sollte, müssten wir als EU nochmals aktiv werden.

Luxemburger Wort: Seit Wochen werden die Bürger dazu aufgerufen, Energie zu sparen. Welche Maßnahmen ergreifen Sie persönlich?

Claude Turmes: Ich habe eine Wärmepumpe zuhause. Das heißt aber nicht, dass wir nicht trotzdem auch beim Heizen oder Warmwasser sparen. Ich versuche, mich so viel wie möglich mit dem Fahrrad fortzubewegen. Seit September habe ich als Dienstwagen kein Hybridauto mehr, sondern ein vollelektrisches Fahrzeug.

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