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Interview mit Paulette Lenert im Telecran "Ich bin kein Machtmensch"
Interview: Telecran (Martina Folscheid)
Telecran: Frau Ministerin, Ende Dezember blickt man traditionell auf das vergangene Jahr zurück. Wann haben Sie das erste Mal aufgeatmet und gedacht, jetzt sind wir in Sachen Corona aus dem Gröbsten raus?
Paulette Lenert: Eigentlich sind wir ja von einer Krise in die nächste geraten mit der Ankündigung des Ukraine-Kriegs. Auch wenn man vorher bereits damit rechnete, dass ein Krieg bevorstehen könnte, hatte ich sofort das Gefühl, dass da etwas noch Schlimmeres auf uns zukommt als das Corona-Virus. Bis dahin verließ ich mich, was Corona anbelangt, auf das optimistische Szenario, dass sich die Lage mit der Omikron-Variante stabilisieren würde. Wir sind auch heute noch nicht in der Normalität angelangt, haben zum Beispiel immer noch die "réserve sanitaire" aktiviert.
Aber ich kann mich nun nicht ständig damit verrückt machen, was sein wird, wenn eine neue Variante auftritt. Sodass es mir bei Ausbruch des Krieges vorkam wie ein "Switch" im Kopf, mit allen Konsequenzen, die sich ergaben, wirtschaftlich gesehen zum Beispiel. Es war wie ein Waten von der einen Krise in die nächste — natürlich auch bedingt dadurch, dass ich Vizepremierministerin bin und dadurch eine andere Verantwortung habe, als wenn ich nur Gesundheitsministerin wäre. Uns steht weiterhin eine schwierige Zeit bevor. Es werden keine einfachen Jahre. Das Ausmaß ist historisch, selbst wenn der Krieg in nächster Zeit enden sollte.
Telecran: Haben Sie für 2023 gute Vorsätze gefasst?
Paulette Lenert: In dieser Hinsicht stelle ich mir die Frage, was ich aus der Covid-Krise gelernt habe und was ich in die Zukunft mitnehmen kann: einen ruhigen Kopf zu bewahren und mich allen Themen mit einer gewissen Sachlichkeit zu nähern. Ich nehme mit, dass man vorher unmöglich Geglaubtes bewältigen kann. Wenn man bedenkt, was man alles mitgemacht hat noch vor nicht allzu langer Zeit. All die Restriktionen, das ist so irreal. Jetzt fühlt sich alles wieder so normal an - vor nicht allzu langer Zeit fuhr kein Auto, war alles geschlossen, flog kein Flugzeug. Ich sage mir, was auch immer kommt, schwierige Zeiten muss man eben bewältigen.
Telecran: Was haben Sie sich persönlich vorgenommen?
Paulette Lenert: Mehr Sport, mehr Bewegung in meinen Alltag einzubauen. Ich weiß, wie wichtig es gerade in einem stressigen Beruf ist, sich diese Zeit zuzugestehen, weil sie eine wichtige Investition ist. Aber es ist dennoch nicht einfach für mich.
Telecran: Laut aktuellem Politmonitor schneiden Sie zum wiederholten Mal bei den Wählern sehr gut ab. Was empfinden Sie, wenn Sie an die bevorstehenden Parlamentswahlen im Oktober denken?
Paulette Lenert: Dass der Oktober schneller kommt als erwartet. (lacht) Das Superwahljahr mit Kommunal- und Parlamentswahlen beschäftigt uns als Partei gerade sehr. Wir werden Anfang des Jahres Klarheit schaffen, wie wir uns aufstellen.
Telecran: Ich brauche Sie also jetzt nicht zu fragen, ob Sie als Spitzenkandidatin der LSAP mit in die Wahlen gehen?
Paulette Lenert: Es ist eine Möglichkeit. Es ist nicht so, dass ich es mir gar nicht vorstellen kann. Aber mir wurde die Frage nun schon so oft gestellt, es ist bald an der Zeit, bekannt zu geben, wie wir uns als Partei aufstellen. Ich empfinde die Frage immer als so einen extremen Fokus auf meine Person. Also: Ich bin sehr engagiert in der Partei und auch als Vizepremier, um die Wahlen vorzubereiten.
Telecran: Wenn Sie Premierministerin würden: Was würden Sie als erstes angehen?
Paulette Lenert: Unsere Partei ist dabei, ihre Programme mit den Prioritäten festzulegen. Darum sehe ich mich schlecht in der Lage, eine persönliche Priorität zu nennen. Was mir jedoch sehr am Herzen liegt, ist die "simplification administrative", die administrative Vereinfachung, die im Grunde auch meinen Sprung hinaus aus der Magistratur motiviert hat. Allein wenn ich sehe, wie langsam manche Projekte im Bereich Logement voranschreiten, kann ich daraus nur schlussfolgern, dass administrative Vereinfachung Priorität genießen muss. Daraus kann in meinen Augen nur etwas werden, wenn sie Chefsache ist. So wie sie auch der ehemalige Premierminister Jean-Claude Juncker zur Chefsache erklärt hatte (Paulette Lenert nahm 2012 das Angebot Tunckers an, ihm bei der "simplification administrative" zu helfen; nach den Neuwahlen nahm sich der neue Minister für den öffentlichen Dienst, Dan Kersch der administrativen Vereinfachung an und übergab Lenert die Leitung des Institut national d'administration publique, Anm. d. Red.).
Telecran: Hört sich nach einem trockenen Thema an...
Paulette Lenert: Die Leute finden das immer ein bisschen trocken, ja. Aber das ist das A und O. Wenn ich sehe, dass die Prozeduren unserer Spital-Projekte zehn, fünfzehn Jahre benötigen! Das ist doch enorm! Viele Probleme in diesem Land gründen darin, dass wir sehr schnell gewachsen sind. Darum stehen wir uns in der Art und Weise, wie wir Sachen angehen, zum Teil selbst im Weg, sei es beim Bauen oder auch bei Infrastrukturprojekten. Wir müssen innovativ sein und überlegen, wie wir in den Bereichen, die wesentlich, die kritisch sind für unser Land, mit Taskforces arbeiten können, um Prozeduren zu beschleunigen. Das kann nur ressortübergreifend funktionieren. Das ist zum Beispiel ein Thema, das ich in Premier-Hand sehen würde. Ganz gleich, ob ich das nun bin oder jemand anderes.
Telecran: Sollte sich also nicht ein bestimmtes Ministerium damit befassen?
Paulette Lenert: Nein, das muss transversal erfolgen. Aber einer muss die Führung haben. Administrative Vereinfachung ist eine schwierige Aufgabe, weil sie sich gegen Gewohnheiten und bisherige Regeln richtet. Und sie muss von Menschen umgesetzt werden, die ja beileibe keine schlechte Arbeit gemacht haben bisher. Diese gehen dann unter Umständen in die Defensive, rechtfertigen sich. Um da eine konstruktive Dynamik hineinzubringen, bei der jeder Lust hat mitzudenken... Schwierig. Eng damit verbunden ist die Digitalisierung. Sie ist da, aber noch nicht so richtig. Da ist noch extrem viel Luft nach oben.
Telecran: Gibt es ein Land, das Sie in dieser Hinsicht als Vorbild betrachten?
Paulette Lenert: Ja, Estland zum Beispiel. Dort herrschten natürlich andere Voraussetzungen, sie haben bei Null angefangen. Anders sieht es aus, wenn man wie in Luxemburg auf alten Traditionen aufbauen und Veränderungen umsetzen muss. Estland ist sehr radikal vorgegangen. Wir hingegen haben eher eingetretene Pfade, die vieles verkomplizieren. Zum Beispiel all die Genehmigungen, die man für etwas braucht. Da bleibt viel zu tun.
Telecran: Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg beim Politmonitor?
Paulette Lenert: Ich weiß es nicht. Vielleicht weil ich eine sachliche Art und Weise habe, an Dinge heranzugehen. Ich denke, es ist ein gewisses Vertrauen vorhanden. Man sagt mir oft, ich würde nicht reden wie eine Politikerin, oder auch, dass ich mehr Kante zeigen müsse. Vielleicht ist es aber genau das, was die Menschen in Krisenzeiten beruhigt. Ich bin nicht unbedingt ein Streithahn.
Telecran: Sind Sie ein Machtmensch?
Paulette Lenert: Jein. Ich mag es schon, wenn die Dinge so laufen, wie ich sie mir vorstelle. Aber ob ich deswegen ein Machtmensch bin? Ich arbeite gern im Team, bin nicht hierarchisch. Macht ist für mich absolut kein Selbstzweck. Ich würde mich als entschlossen bezeichnen. Wenn ich etwas im Kopf habe, dann setze ich mich dafür ein. Aber im Konsens, ich bin, wie gesagt, kein Streithahn. Darum bin ich vermutlich dann letztendlich doch kein Machtmensch. Wenn etwas nicht funktioniert, versuche ich die Überlegung des Gegenübers stets zu verstehen. Kann auch sein, dass dies mich auszeichnet: Ich höre zu. Machtmenschen sind für mich Menschen, die andauernd ihre Meinung herausposaunen. So bin ich nicht. Ich höre mir alle Argumente an.
Telecran: Sie würden also nie um der Macht willen ganz vorne stehen wollen?
Paulette Lenert: Nein, ich fühle mich auch ganz wohl in der zweiten Reihe. Es reizt mich nicht, in der ersten Front zu stehen. Es reizt mich, meine Arbeit zu machen. Ich scheue mich nicht davor, Verantwortung zu übernehmen. Aber ich habe mich zum Beispiel auch ganz wohl als Beraterin gefühlt, wo ich auch meine Ideen einbringen konnte, ohne diejenige zu sein, die ganz vorne steht.
Telecran: Aber dennoch: Wenn jetzt ganz Luxemburg sagen würde, es will Sie als Premierministerin, würden Sie diesen Auftrag annehmen?
Paulette Lenert: Ja, schon. Klar, ich gehe ja auch mit in die Wahlen. Ich habe gelernt, Verantwortung zu übernehmen in einem Gebiet, das vorher nicht meins war. Ich bin ins kalte Wasser gesprungen. So etwas ist eine harte Erfahrung, aber es bereitet mir keine Angst, im Gegenteil. Ich finde es motivierend, Verantwortung zu übernehmen. Ich werde jedoch nicht von dem Gedanken beherrscht, dass es schön wäre, Premierministerin zu werden. (lacht) So ein Beruf hat auch Schattenseiten, er greift schon sehr ins Privatleben ein. Aber es gehört nun mal dazu, in der Hinsicht Abstriche zu machen.
Telecran: Könnten Sie sich denn im Gegensatz dazu auch vorstellen, nochmal in Ihren alten Beruf zurückzukehren?
Paulette Lenert: Nein. Nicht in genau denselben jedenfalls. Ich bin ein Mensch, der immer gerne Neues ausprobiert. Aber die Juristerei fehlt mir manchmal. Ich war irgendwie schon froh, raus zu sein, weil es doch eine Welt für sich ist, wenn man sich rein in der Juristerei bewegt, und auch noch speziell im Gericht. Das ist schon eine Welt abseits des alltäglichen Lebens. Aber nun vermisse ich es manchmal, ein Dossier so richtig juristisch zu bearbeiten. Dafür fehlt in meinem Beruf die Zeit, wo enormer Druck herrscht. Dennoch bin ich eigentlich in meinem ganzen Leben noch nie rückwärts gegangen. Ich beschreite lieber neue Wege.
Telecran: Wenn Sie auf Ihre bisherige Amtszeit als Gesundheitsministerin blicken, was verbuchen Sie als Erfolg?
Paulette Lenert: Dass wir vieles, was wir ganz spontan in der Krise auf den Weg gebracht haben, auch beibehalten haben, wie zum Beispiel die Telekonsultation. Dann wurde bei der Vergütung der Bereitschaftsdienste der Ärzte eine Einigung erzielt. Nicht jeder ist bis ins letzte Detail damit zufrieden, aber immerhin ist es ein Paradigmenwechsel, dass diese valorisiert werden. Auf dem Gebiet der sozialen Gesundheit haben wir in der Krise viel getan für Menschen am Rande der Gesellschaft, Substitutionsprogramme für Suchtkranke beispielsweise, oder die Aufstockung von Auffangstrukturen für Obdachlose. Und wir haben diese nach der Krise beibehalten. Darüber bin ich sehr froh.
Telecran: Was hätten Sie in Ihren Augen besser meistern können?
Paulette Lenert: Vielleicht den Übergang in die Normalität, wobei ich auch nicht wüsste, wie ich es hätte besser machen können. Es herrschte eine extreme Solidarität im Gesundheitssystem während der Krise. Und ich finde, dass danach verschiedene Themen politisch extrem scharf besetzt wurden.
Telecran: Welche zum Beispiel?
Paulette Lenert: Die Diskussionen rund um die IRM-Geräte zum Beispiel, die waren sehr politisch motiviert. Die Reflexionen über eine Umstellung auf ambulante Untersuchungen hatten ja schon vor der Krise begonnen, der Gesundheitstisch hatte das bearbeitet. Und nicht etwa, weil in Grevenmacher ein IRM in Betrieb genommen wurde, fing ich hier an, daran zu arbeiten. Das war schon brutal. So etwas kannte ich nicht aus der Zeit der Krise. Da arbeitete jeder mit jedem zusammen, der Zusammenhalt war groß. Jetzt hat man das Gefühl, dass vieles tendenziös aufbereitet und dargestellt wird. Da frage ich mich, ob ich den Moment verpasst habe, die positive Atmosphäre in die Normalität zu transferieren. Aber das ist wohl das politische Spiel, das ich so bisher nicht kannte, weil ich ja quasi in der Krise meine Arbeit als Ministerin aufnahm.
Telecran: Der Ärztemangel ist akut wie nie. Eine Studie Ihres Ministeriums von 2019 besagt, dass bis 2030 rund 70 Prozent der Ärzte, die zu dem Zeitpunkt tätig waren, in Rente gegangen sind. Wie wollen Sie die Lücken schließen?
Paulette Lenert: Es gibt keine Wunderlösung, weder in Luxemburg noch in anderen Ländern. Man muss auf verschiedenen Ebenen ansetzen, um die Attraktivität des Berufs, nicht nur des Arztberufs, sondern aller medizinischen Berufe, zu erhöhen. Eine große Rolle spielt die Work-Life-Balance, dann die Digitalisierung, um das Arbeiten zu vereinfachen, wo es geht. Bedeutend ist darum das Gesetzesprojekt, das die Gesellschaftsform der Ärzte betrifft. Darin sehe ich die Zukunft. Das Modell, dass ein Mediziner allein eine Praxis betreibt, ist in meinen Augen überlebt. Heutzutage gibt es andere Anforderungen, dass Kollegen sich abwechseln können zum Beispiel. Oder auch dass sie gemeinsam in benötigte Technologien investieren.
Telecran: Sie meinen den Zusammenschluss zu Zentren für Primärversorgung?
Paulette Lenert: Genau, den multidisziplinären Zusammenschluss, also nicht nur Ärzte mit Ärzten, sondern auch zum Beispiel Ärzte mit Physiotherapeuten. Das Gesetzesprojekt ist wie gesagt unterwegs. Ich wüsste nicht, wie wir den Aspekt Work-Life-Balance anders angehen könnten.
Telecran: Können Sie sich vorstellen, wie andere Länder auch, im Rahmen von Programmen Personal im Ausland zu rekrutieren?
Paulette Lenert: Ja, absolut. Wir sind keine Insel, im Gegenteil. Wir haben die gleichen Probleme wie andere Länder. Man muss sämtliche Möglichkeiten ins Auge fassen und schauen, was Sinn macht. Wir hatten einen fruchtbaren Austausch mit Ärzten, wie Ärzten in der Spezialisierung, Apotheken und Gesundheitsfachkräften am Gesundheitstisch, es war sehr inspirierend für den nationalen Gesundheitsplan, der Anfang des Jahres fertiggestellt sein wird und in dem wir die Ideen aus der Praxis aufgreifen werden. Es waren viele gute Ideen. Aber wer behauptet, den "magic touch" zu haben, der blufft.