Interview mit Corinne Cahen in der Revue

"Instrumente für das Zusammenleben"

Interview: Revue (Stefan Kunzmann)

Revue: Die Reform des Integrationsgesetzes soll noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. Handelt es sich um einen Paradigmenwechsel?

Corinne Cahen: Eigentlich schon. Ich würde es aber nicht als Paradigmenwechsel bezeichnen, sondern als Anpassung an das Leben von heute. Ein Gesetz wird zu einem Moment verfasst, in dem die Welt gerade ist, wie sie ist. Es muss also immer in seinem zeitlichen Kontext gesehen werden. Das heißt, man kann nicht sagen, dass vorher alles falsch war, wenn man ein Gesetz ändert. Wahrscheinlich war es zu jenem Zeitpunkt, als es geschrieben wurde, das richtige.

Revue: Das alte, noch bestehende Gesetz ist aus dem Jahr 2008.

Corinne Cahen: Genau, aber die Welt hat sich in den vergangenen 15 Jahren stark verändert. Heute besteht die Hälfte der Bevölkerung aus Nicht-Luxemburgern. Wenn man diese fragt, sind sie sehr froh, hier zu leben. Auch das Zusammenleben unter den Luxemburgern hat sich verändert. Uns war wichtig, ein Instrument zu finden, mit dem die Menschen leben können. Dafür haben wir mit unseren Partnern eng zusammengearbeitet. Wir wollen, dass die Menschen sich ins gesellschaftliche Leben einbringen und nicht nur Konsumenten sind.

Revue: Meinen Sie mit den Partnern die zivilgesellschaftlichen Organisationen wie ASTI und CLAE? Die haben das, "Vivre-ensemble" längst auf ihre Fahnen geschrieben, bevor es von der Regierung ernst genommen wurde.

Corinne Cahen:  Ich habe es jedenfalls ernst genommen. Ich hatte viele Gespräche etwa mit Laura Zuccoli (Anm. d. Red.: ehemalige ASTI-Präsidentin) geführt und ging auf das Terrain, um besser verstehen zu können, wer sich eigentlich integrieren muss in Luxemburg. Wir haben zwar unsere gemeinsamen Sprachen und unsere "Mammesprooch". Aber es geht nicht zuletzt darum, wie wir das Zusammenleben organisieren und die gemeinsame Zukunft in unserem Land gestalten können. Ich ziehe gerne den Vergleich mit Luxemburger Studenten: Die einen studieren in Deutschland, andere in Belgien oder in Drittländern. Nach dem Studium kehren sie nach Luxemburg zurück und bringen ein enormes Wissen mit. Das alles kommt hier zusammen. So wie im Leben. Wir haben unterschiedliche Familien, Großeltern, Religionen und Hintergründe, verschiedene "vécus", wie man auf Französisch sagt. Das ist eine riesige Chance, um eine Exzellenz zu erhalten. Um diese Chance zu nutzen, muss man es aber organisieren. Das kann nur funktionieren, wenn wir einander kennen.

Revue: Es wird oft behauptet, dass das Zusammenleben mehr ein Nebeneinander als ein Miteinander sei. Kann Letzteres durch ein Gesetz erreicht werden?

Corinne Cahen: Das Gesetz kann Instrumente in die Hand geben. Ein Gesetz ist auch nur so gut, wie es nachher "gelebt" wird. Am Ende ist man nur so stark wie die Akteure sich einbringen. Dieses Gesetz gibt etwa den Gemeinden Instrumente in die Hand, und zwar den "Commissions communales du vivre-ensemble interculturel".

Revue: Was verändert sich dadurch konkret?

Corinne Cahen: Wir werden nicht mehr zwischen Statuten unterscheiden, zwischen Flüchtlingen oder Nichtflüchtlingen, Grenzgängern oder Luxemburgern, sondern möchten, dass alle zusammenkommen. Ein Kollege von Ihnen hat mich gefragt, ob auch alle davon profitieren. Nein, natürlich nicht. Aber sie können es in Anspruch nehmen. Zurzeit haben wir noch den "Contrat d'accueil et d'intégration" (CAI). Der ist nur für Nicht-Luxemburger. Nun haben wir aber zweitausend Brasilianer, die Luxemburger sind. Die kommen hier an, sprechen kein Wort Luxemburgisch und wussten wahrscheinlich vor einem Jahr noch nicht einmal, wo Luxemburg liegt. Diese haben im Moment keinen Anspruch auf dieses Programm. Das ist nicht richtig. Man sollte nicht nach der Nationalität schauen, sondern nach dem Interesse. Es können Grenzgänger genauso kommen wie Flüchtlinge, Expats ebenso wie Luxemburger. Dann ist auch die Hemmschwelle schneller verschwunden. Natürlich wird dann nicht jeder zum Beispiel die Nationalbibliothek aufsuchen. Aber jeder kann diese Module, die wir im ganzen Land anbieten, nutzen, um zum Beispiel etwas über die luxemburgische Geschichte zu lernen.

Revue: Wie sieht das auf Gemeindeebene aus?

Corinne Cahen: Die Gemeinden sollen den "pacte communal du vivre-ensemble interculturel" unterschreiben, um mitzumachen, und dabei helfen, den nationalen Aktionsplan zum Zusammenleben umzusetzen. Sie bekommen darüber hinaus fünf Euro pro Einwohner der Gemeinde oder Grenzgänger, der in dieser arbeitet und den "Pacte citoyen" unterschrieben hat. *

Revue: Welche Aufgabe fällt den genannten Kommissionen zu?

Corinne Cahen: Wir werden da sicherlich das Rad nicht neu erfinden. Aber die jetzigen Integrationskommissionen und zukünftigen "commissions communales du vivre-ensemble inter-culturel" werden eine große Bedeutung haben, auch um der Politik zu sagen, welche Instrumente gebraucht werden. Die Gemeinden sind schließlich nicht alle gleich. Die Kommissionen sind dazu da, um das Zusammenleben in der Gemeinde zu organisieren. Am einfachsten ist das, und das ist natürlich ein Klischee, über Essen und Trinken. Die Kommissionen sind auch beim "Festival des migrations, des cultures et de la citoyenneté" präsent und gehen auf die Besucher zu, um mit ihnen zu reden. Es muss aber auch insistiert werden, denn das Aufeinander-zugehen reicht oft nicht aus. Dann gibt es verschiedene Nachbarschafts-Apps. Zum Beispiel bei mir im Viertel habe ich dadurch Leute kennengelernt, die schon lange dort wohnen, die ich aber noch nie gesehen habe.

Revue: Wie sieht das Zusammenspiel mit den Gemeinden dann konkret aus?

Corinne Cahen: Mit 32 Gemeinden haben wir schon den Pakt vom Zusammenleben unterschrieben. Im Gesetz steht, dass wir als Regierung den Gemeinden helfen. Wir zahlen 30.000 Euro pro Jahr, damit sich ein Beamter um das Zusammenleben kümmert. Und wir stellen selbst Leute zur Verfügung. In den Gemeinden, die das bisher unterschrieben haben, funktioniert das gut. In Steinfort zum Beispiel. Oder in Bech, wo die Zahl der eingeschriebenen Nicht-Luxemburger bei den Wahlen am höchsten ist. Die haben einfach eine Toute-boite mit einem personalisierten Brief an jeden Ausländer gemacht — und haben jetzt einen Anteil von über 30 Prozent.

Revue: Wie ist generell der Stand der Dinge bei den Einschreibungen in die Wählerlisten?

Corinne Cahen:  Im ganzen Land sind wir momentan bei 11,7 Prozent. Das ist noch zu wenig. 2011 hatten wir elf Prozent, 2017 hatten wir 22 Prozent. Seither haben aber viele die doppelte Staatsbürgerschaft bekommen. Unter diesen 22 Prozent, die eh interessiert waren, sind jetzt viele, die sich nicht mehr einschreiben brauchen.

Revue: Ein Problem war, dass die Einschreibefrist zu kurz war und lange vor den Wahlen ablief.

Corinne Cahen: Ja, es waren drei Monate vor den Wahlen. Das war sehr lang. Viele schreiben sich erst ein, wenn sie die Wahlen spüren. Jetzt kann man sich bis 17. April einschreiben, also knapp zwei Monate davor. Auch die Frist, dass man mindestens fünf Jahre hier gewohnt haben musste, um sich eintragen zu können, ist nun weggefallen. Ich bin zuversichtlich. Allerdings stellte ich oft fest, dass viele Menschen nicht einmal in ihrem Heimatland gewählt haben, weil es dort keine Wahlpflicht gibt.

Revue: Wie können Menschen möglichst aller Schichten zum gesellschaftlichen Engagement bewogen werden?

Corinne Cahen: Erstens sind die Multiplikatoren wichtig. Zweitens halte ich es für wichtig, in allen Schichten den Menschen zu sagen, dass es darauf ankommt, "da zu leben, wo man lebt". Wenn man weggeht, dann soll man das mitnehmen, ob es Sprachkenntnisse, soziale Fähigkeiten oder Freunde sind. Wir müssen alle mehr "open minded" sein. Dabei spielen die Schichten keine Rolle, das gilt für jeden. Auch wenn jemand sagt, dass er nur für ein paar Jahre hier ist.

Revue: Der "Conseil national des étrangers" (CNE) soll abgeschafft werden.

Corinne Cahen: Er wird durch einen "Conseil supérieur du vivre-ensemble interculturel" ersetzt. Ich bin fest der Meinung, dass zwei nicht automatisch die gleiche Meinung haben, nur weil sie die gleiche Nationalität vertreten. Das CNE hat nie richtig funktioniert. Das Konzept der Nationalität ist nicht mehr aktuell. Wir wollen Leute in dem Conseil supérieur, die engagiert sind. Alle, die auf Gemeindeebene in einer der genannten Kommissionen engagiert sind, können sich zur Wahl stellen, um in den Conseil supérieur zu kommen. Egal, welche Nationalität sie haben.

Revue: Welche Rolle spielt die Sprache in dem neuen Gesetz?

Corinne Cahen: Eine Sprache ist ja nicht nur dafür da, um miteinander zu sprechen, sondern auch dafür da, um den kulturellen Hintergrund von jemandem zu verstehen. Eine Sprache ist auch eine Kultur. Man versteht, wie jemand in einem Land denkt und wie ein Land funktioniert. Es muss nicht jeder fließend Luxemburgisch sprechen, aber zumindest ein Minimum versuchen zu sprechen und zu verstehen, wie das Land tickt, was seine Mentalität ist.

Revue: Wie kann das Gesetz dazu beitragen, Rassismus und Vorurteile zu bekämpfen?

Corinne Cahen: Wir hatten eine Studie darüber in Auftrag gegeben (Anm.d. Red.: von LISER und CEFIS unter dem Titel "Le racisme et les discriminations ethno-raciales au Luxembourg"), bei der herauskam, dass der Rassismus vor allem in den drei Bereichen Arbeit, Schule und Wohnungssuche auftritt. Das neue Gesetz besagt, dass Rassismus und Diskriminierung auf jedem Niveau bekämpft werden. Zum Beispiel in Kursen. Wir haben alle Vorurteile. Oft wissen wir es nicht einmal. Wir müssen also an uns selbst arbeiten und lernen, damit umzugehen, wenn zum Beispiel rassistische Sprüche fallen. Der Plan d'action racisme wird hoffentlich Ende des Jahres stehen.

Revue: Wie soll der konkret aussehen?

Corinne Cahen: Ich bin der Meinung, dass etwa Immobilienagenturen eine entsprechende Charta unterschreiben müssten. Aber das muss alles noch in Zusammenarbeit mit den Organisationen und anderen Ministerien ausgearbeitet werden. Darüber laufen jetzt die Gespräche. Ich bin zuversichtlich. Es ist schließlich in unserem Interesse, dass es ein vollständiger Aktionsplan wird.

* Ein zusätzliches Instrument, ergänzt den "pacte communal du vivre-ensemble interculturel"; ist aber abgekoppelt vom nationalen Aktionsplan.

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