Interview mit Claude Turmes im Tageblatt

"Wir wurden als Luxemburger nie gefragt, ob wir die Reaktoren dort überhaupt wollten”

Interview: Cédric Feyereisen (Tageblatt)

Tageblatt: Herr Turmes, der Bürgermeister von Cattenom, Bernard Zenner, wünscht sich zwei weitere Kernreaktoren in seiner Gemeinde. Was halten Sie davon?

Claude Turmes: Absolut nichts. Allgemein kann man sagen, dass neue Atomreaktoren nur verlorene Zeit und verlorenes Geld sind. Das ist eine Technologie, die zu spät kommt für den Klimaschutz. Jetzt in Atomenergie zu investieren, ist drei- bis viermal teurer als Windoder Solarenergie.

Tageblatt: Warum wünscht sich der Bürgermeister dann diese Reaktoren?

Claude Turmes: Ich glaube, dass er sich irgendwie ein bisschen profilieren will.

Tageblatt: Einer seiner Argumente ist, dass das Atomkraftwerk Arbeitsplätze schafft.

Claude Turmes: Wenn morgen Cattenom zugemacht wird, dann finden die Angestellten ohne Problem eine neue Arbeit. Jemand, der als Sicherheitspersonal bei einem Atomkraftwerk arbeitet, den kann ich überall in der Industrie einsetzen. Das sind sehr gut ausgebildete Menschen und die Großregion gehört zu den dynamischsten Arbeitsmärkten.

Tageblatt: Stehen Sie denn in Kontakt mit dem Bürgermeister bzw. überhaupt mit Cattenom? Wie ist Ihr Verhältnis mit den Betreibern?

Claude Turmes: EDF und auch die Franzosen auf nationalem Niveau geben uns keine Informationen. Es ist also keine gute Nachbarschaftsbeziehung. Wir wurden als Luxemburger ja auch nie gefragt, ob wir die Reaktoren dort überhaupt wollten.

Tageblatt: Das heißt, wie funktioniert die Kommunikation?

Claude Turmes: Es ist so, dass wir verschiedene Sachen aus der Presse erfahren.

Da diese, nicht kooperative Herangehensweise von Frankreich schon mehrere Jahre so geht, haben wir uns ein paar Menschen in Frankreich aufgebaut, die Teil der Anti-Atom-Bewegung sind. Über diese Personen kommen wir eher an Informationen als über die französischen Behörden. Und wir arbeiten auch mit Roger Spautz von Greenpeace zusammen.

Tageblatt: Nehmen wir an, der Wunsch von Herrn Zenner würde erfüllt werden. Was könnte Luxemburg dann überhaupt dagegen unternehmen?

Claude Turmes: Also ich gehe sowieso davon aus, dass es extrem unwahrscheinlich ist. Erstens wird die Mosel durch den Klimawandel mit der Zeit immer weniger Wasser tragen.

Deswegen ergibt die Idee, einen Reaktor dort in 10 oder 15 Jahren zu bauen, wenig Sinn. Wenn sie neue Kraftwerke bauen, dann eher beim Meer. Man muss wissen, dass Atomkraftwerke in Frankreich zwölf Prozent des französischen Wasserverbrauchs ausmachen. Das ist eine andere große Achillesferse der Atomenergie: Es ist die wasserintensivste Energieform, die es gibt.

Das zweite Problem ist, dass der Standort Cattenom mit Luxemburg und Deutschland zwei Nachbarn hat, die politisch eine komplett andere Meinung haben. Sie würden also politischen Streit mit den beiden Ländern bekommen.

Tageblatt: EDF hat dem Tageblatt gegenüber auch erwähnt, dass die Unterstützung der regionalen Verwaltungen ein entscheidender Faktor bei der Auswahl der potenziellen Standorte sei. Werden Sie noch weiter Druck aufbauen?

Claude Turmes: Ich glaube, EDF weiß, wie Deutschland und Luxemburg zur Atomkraft und Cattenom stehen. Wie gesagt, wir schätzen die Wahrscheinlichkeit weiterer Reaktoren in Cattenom als gering ein. Wir hatten auch vor kurzem noch Kontakt mit dem deutschen Umweltministerium. Sie schätzen das auch als unwahrscheinliches Szenario ein. Deswegen konzentrieren wir uns auch auf das, was realer ist: Vier Reaktoren, die anfangen, altersschwach zu werden und Risse bekommen. Das ist unsere Hauptsorge, das ist wirklich gefährlich und da arbeiten wir sehr eng mit den deutschen Behörden zusammen, um uns eine von Frankreich unabhängige Expertise zu besorgen.

Tageblatt: EDF hat dem Tageblatt geschrieben, dass Cattenom ein "junges Kraftwerk" sei, das "sehr leistungsfähig ist und sicher operiert." Kraftwerke hätten keine Altersgrenze und müssten nur eine zehnjährige Inspektion absolvieren.

Claude Turmes: Das ist eine sehr kapitalistische, finanztechnische Überlegung, um seine Investitionen gutzureden. Ich bin froh, dass die "Autorité de sûreté nucléaire" (ASN) in Frankreich und auch das "Institut de radioprotection et de sûreté nucléaire" (IRSN) das nicht so sehen.

Die Risse, die in den vergangenen anderthalb Jahren entdeckt wurden, werden von den französischen Atomsicherheitsbehörden extrem ernst genommen. Sie müssen EDF eigentlich ständig in ihre Schranken verweisen, weil EDF versucht, mit diesen Reaktoren eine Gewinnoptimierung zu machen.

Tageblatt: Sie haben gesagt, Sie würden eine unabhängige Expertise in Auftrag geben. Was kann denn nachher damit gemacht werden? Kann Luxemburg tatsächlich etwas bewirken?

Claude Turmes: Bei der Laufzeitverlängerung werden wir alle juristischen politischen Möglichkeiten, die haben, zu hundert Prozent nutzen. EDF und die aktuelle französische Regierung sind sehr eigenartig unterwegs, sodass wir uns nicht auf sie verlassen können. Deswegen suchen wir nach einer Allianz mit Deutschland.

Tageblatt: Haben Sie ein Beispiel für diese juristischen und politischen Möglichkeiten?

Claude Turmes: Die Verlängerung von Cattenom kommt jetzt Ende des Jahres bzw. 2024 auf uns zu. Wir sind jetzt dabei, uns zu überlegen, was die beste juristische und technische Strategie ist. Und wir sind auch dabei, uns das nötige Knowhow über Berater, Expertisen und das Wissen des deutschen Umweltministeriums anzueignen. In den vergangenen Wochen hatten wir intensiveren Kontakt mit ihnen.

Tageblatt: Deutschland hat jetzt die eigenen Atomkraftwerke abgeschaltet. Gleichzeitig verbrennen sie aber noch Kohle. Ist das der richtige, der grüne Weg?

Claude Turmes: Die Ironie der Perversion dieser Situation ist, dass Deutschland diesen Winter 12.000 MW Kohle laufen ließen, weil Frankreich Risse in seinen Atomkraftwerken hatte. Die deutschen Kohlekraftwerke laufen, weil Frankreich seit Jahrzehnten eine verfehlte Energiepolitik betreibt. Frankreich ist das Land, das das Ziel der erneuerbaren Energien am meisten verfehlt hat. Frankreich fehlen 20.000 bis 25.000 MW Energieproduktion — und das ist genau die Leistung, die Frankreich heute haben könnte, wenn es seine Solarenergie so ausgebaut hätte, wie das von der europäischen Direktive vorgesehen war. Und das war eigentlich eine Obligation für Frankreich. Was mich am meisten an dieser Debatte stört, ist, dass Frankreich sich nicht mal dafür bedankt, dass Deutschland Europa diesen Winter vor einem Blackout gerettet hat.

Tageblatt: Deutschland hätte die Atomkraftwerke jetzt trotzdem noch weiterlaufen lassen können - das wäre dann klimafreundlicher als die Kohleproduktion.

Claude Turmes: Deutschland hat eine konsequente Strategie, um erneuerbare Energien auszubauen. Vergangenes Jahr war in Deutschland ein Rekordjahr für erneuerbare Investitionen. Der Energieminister Habeck hat ein Ziel von 80 Prozent erneuerbaren Energien. Die Habeck-Maßnahmen laufen ja gegensätzlich zu den Merkel-Maßnahmen. Er hat den Kohleausstieg von 2035/38 auf 2030 nach vorne geschoben. Deutschland geht jetzt den Weg, den wir auch als richtig empfinden: Es wird schnell und massiv in Solar- und Windenergie investiert. Das, was mir sehr viel Freude bereiten wird, ist, dass wir am Montag in einer Woche mit dem Premierminister nach Ostende gehen. Dort ist eine Versammlung mit den Staatsoberhäuptern der Nordseeländer und der baltischen Länder zum Thema Off-Shore-Wind. In den nächsten zehn bis 15 Jahren werden wir Offshore-Windparks bauen, die zehn-, 15-, 20-mal so viel Strom produzieren werden wie das, was sich von möglichen Atomreaktoren erträumt wurde. Ich bin resolut auf der Seite von Deutschland. Das, was sie machen, ist das, was uns dem Klimaschutz jetzt näher bringt.

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