Interview mit Xavier Bettel in der Neue Luzerner Zeitung "Ich glaube nicht, dass wir im Kriegsrausch sind"

Interview: Neue Luzerner Zeitung (Remo Hess)

Neue Luzerner Zeitung: Als Premier haben Sie sich stets um Ausgleich und eine gute Beziehung zu Russland bemüht. Auch nach dem Angriff auf die Ukraine haben Sie noch regelmäßig mit Wladimir Putin telefoniert. War das im Rückblick naiv?

Xavier Bettel: Nein. Als kleines Land ist Luxemburg von Natur aus Brückenbauer. Weil ich einen guten Kontakt sowohl zu Präsident Selenski als auch zu Putin hatte, habe ich mich um Dialog bemüht. Es ging darum, nichts unversucht zu lassen. Aber dann musste ich feststellen, dass Putin nicht ernsthaft an einem Frieden interessiert ist. Das hat mich schwer enttäuscht. Spätestens nach Butscha war für mich "Game over".

Neue Luzerner Zeitung: Sollte man heute noch mit Putin sprechen?

Xavier Bettel: Ja, unbedingt. Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron tun das auch. Aber wer vor allem miteinander sprechen sollte, sind US-Präsident Joe ­Biden und Chinas Präsident Xi Jinping. Xi hat einen Einfluss auf Putin, wie ihn niemand sonst haben kann.

Neue Luzerner Zeitung: Luxemburg ist zwar Nato-Mitglied, hat aber nur eine Armee von 800 Soldaten. Was können Sie konkret für die Ukraine tun?

Xavier Bettel: Viel. Wir haben für 75 Millionen Euro Waffen und Ausrüstung geliefert, das sind über 16 Prozent unseres Verteidigungsbudgets. Gleich zu Beginn des Krieges haben wir schnell gehandelt, als es zum Beispiel einen akuten Mangel an Panzerabwehrwaffen gab. Dazu haben wir 4500 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, was viel ist im Vergleich zu unser Einwohnerzahl.

Neue Luzerner Zeitung: Im Gegensatz zu Luxemburg bleibt die Schweiz neutral. Können Sie diese Haltung verstehen?

Xavier Bettel: Das ist Sache der Schweiz. Aber die Neutralität bezieht sich ja vor allem auf das Militärische. Wenn es darum geht, international Position zu beziehen, steht die Schweiz klar auf der richtigen Seite.

Neue Luzerner Zeitung: Bundespräsident Alain Berset, den Sie persönlich gut kennen, hat davon gesprochen, dass in gewissen Kreisen im Westen eine Art "Kriegsrausch" herrschen würde. Sehen Sie das auch so?

Xavier Bettel: Am vergangenen Samstag hatten wir Memorial Day in Luxemburg zum Gedenken an die 1000 US-Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs hier gestorben sind. 99,9 Prozent von denen wussten nicht einmal, wo Luxemburg ist. Ich glaube nicht, dass wir im Kriegsrausch sind. Putin führt Krieg gegen unsere Werte, das sollten wir nicht vergessen. Ich sehe vor allem ein starkes Gefühl der internationalen Solidarität mit der Ukraine.

Neue Luzerner Zeitung: Als luxemburgischer ­Premier sitzen Sie mit den Staats- und Regierungschefs der 26 anderen EU-Länder am Tisch. Können Sie als Kleinstaat Ihre Interessen da durchsetzen oder nicken Sie nur noch ab, was die Großen entscheiden?

Xavier Bettel: Es geht ja nie darum, sich durchzusetzen. Es geht darum, Kompromisse zu finden. Dabei hilft, dass der Europäischen Rat einstimmig entscheidet. Das dauert manchmal lange; beim Corona-Wiederaufbaufonds haben wir fünf Tage lang diskutiert. Aber es lohnt sich. Das Prinzip "ein Land, eine Stimme" finde ich schon richtig, was Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs angeht. Das gilt allerdings nicht für den Großteil der EU-Gesetzgebung, wo laut Vertrag mit qualifizierter Mehrheit im Rat und im Mitbestimmungsverfahren mit dem EU-Parlament entschieden wird.

Neue Luzerner Zeitung: Bei der Steuerpolitik ist Luxemburg die Einstimmigkeit wichtig. Bei der Außenpolitik wollen Sie aber das Mehrheitsprinzip. Ist das nicht klassisches Rosinenpicken?

Xavier Bettel: Nein. Das eine richtet sich nach draußen und das andere nach drinnen. Wir sind ein starker Kontinent mit über 500 Millionen Leuten und eine Wirtschaftsmacht. Trotzdem sind wir auf dem internationalen Parkett nur ein Hund, der bellen kann, aber nicht beißt. Das müssen wir ändern. Bei Steuerfragen hingegen geht es um Innenpolitik, da müssen wir kompromissfähig bleiben. Schlussendlich stehen wir im Finanzbereich auch in Konkurrenz gegenüber Ländern wie Großbritannien und der Schweiz. Da dürfen wir uns nicht selbst schwächen.

Neue Luzerner Zeitung: Stichwort Schweiz: Die Schweiz ist wirtschaftlich stark in Europa integriert. Politisch aber sitzen wir nicht mit am Tisch. Würden Sie der Schweiz raten, der EU beizutreten, um direkt ­Einfluss zu nehmen?

Xavier Bettel: Das ist wie bei der Neutralität, das muss die Schweiz selbst entscheiden. Wenn sich die Schweiz dazu entschließt der EU beizutreten und das Volk in einer Abstimmung dazu Ja sagt, dann würde ich mich natürlich darüber freuen. Wir Luxemburger mögen die Schweizer!

Neue Luzerner Zeitung: Sie würden sich wünschen, in der Schweiz einen engeren Partner zu haben?

Xavier Bettel: Die Beziehungen sind jetzt schon gut. Sie können nur verbessert werden. Mir ist bewusst, dass das Verhältnis nicht immer einfach ist. Ich habe darüber schon vor zehn Jahren mit dem damaligen Präsidenten Didier Burkhalter diskutiert, und der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat es auch probiert. Es geht zwei Schritte nach vorn und einen zurück. In der EU ist wichtig, dass alle die gleichen Spielregeln haben. Die EU-Kommission sollte mit der Schweiz weiterverhandeln, damit eine Lösung gefunden wird.

Neue Luzerner Zeitung: Wie die Schweiz ist Luxemburg ein Land mit einer hohen Zahl an Zuwanderern. Gleichzeitig ist der Platz beschränkt. Haben Sie schon mal daran gedacht, die Zuwanderung zu begrenzen?

Xavier Bettel: Ohne Zuwanderung würde es Luxemburg gar nicht geben. Beispiel Covid: 60 oder 70 Prozent des Pflegepersonals kommen aus dem Ausland. Man kann nicht sagen, ich brauche diese Menschen in der Pandemie, aber am nächsten Tag nicht mehr. Aber ja, wir brauchen ein nachhaltiges Wachstum und kein Wettrennen. Es geht nicht nur um Arbeitsplätze, sondern auch um Ressourcen.

Neue Luzerner Zeitung: Ein anderes Problem ist die Gleichheit. Luxemburg hat den höchsten Mindestlohn in Europa und das höchste Pro-Kopf-Einkommen. Trotzdem können sich viele das Leben nicht mehr leisten.

Xavier Bettel: Das Problem sind die Wohnkosten, die zum Teil mehr als die Hälfte des Einkommens auffressen. Es gibt kein Geheimrezept, aber wir müssen uns überlegen, ob wir nicht massiv in den sozialen Wohnungsbau investieren wollen. Zum Beispiel in Wohnungen, wo ein junges Paar oder eine junge Familie leben können und wo die Mieten zehn Jahre lang begrenzt wären. In dieser Zeit können sich Familien dann ein Startkapital ansparen für eine eigene Wohnung. Da könnte ich auch als liberaler Politiker dahinterstehen.

Neue Luzerner Zeitung: Immer mehr Luxemburger arbeiten in der Verwaltung oder staatsnahen Betrieben, wo sie durch den Sprachenparagraf geschützt sind. Kritiker sagen, in Luxemburg entwickle sich zunehmend eine Zweiklassengesellschaft, eine Art "Katar Europas".

Xavier Bettel: Es ist auch für Ausländer sehr gut möglich, Luxemburgisch zu lernen. Alle Sprachkurse sind voll, und wir haben sehr viele Staatsangestellte, die nicht Luxemburger sind. Davon abgesehen finde ich es das Natürlichste, dass in Luxemburg die Dienstleistungen auch auf Luxemburgisch angeboten werden. In der Schweiz ist es doch genau dasselbe. In Luxemburg haben wir mit Deutsch, Französisch und Luxemburgisch drei Sprachen, und ich finde, wir dürfen verlangen, dass die Beamten diese auch beherrschen.

Neue Luzerner Zeitung: Sie sind einer der ersten Staats- und Regierungschefs, die offen homosexuell leben. Wie ist es da eigentlich, mit jemandem wie Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Orbán am Tisch zu sitzen, der zu Hause gleichgeschlechtlich lebenden Menschen das Leben schwermacht?

Xavier Bettel: Man muss ihm sagen, dass es keine Wahl war. Ich bin nicht am Morgen aufgestanden und habe entschieden, jetzt bin ich mal schwul. Ich bin so geboren worden und ich musste mich selbst erst akzeptieren, was schwer genug war. Man kann sich nicht auswählen, schwul oder lesbisch zu sein. Aber man kann wählen, homophob zu sein oder nicht.

Neue Luzerner Zeitung: Wie reagiert Orbán, wenn Sie ihm das sagen?

Xavier Bettel: Bei einem Treffen des Europäischen Rats in Brüssel habe ich ihm einmal gesagt: Viktor, erinnerst Du Dich noch an unser Mittagessen zusammen mit meinem Mann und mir in Budapest vor drei Jahren? Da hat er genickt, worauf ich ihm gesagt habe: Viktor, ich erkenne Dich nicht wieder! Daraufhin blieb er stumm.

Neue Luzerner Zeitung: Ungarn ist nicht das einzige EU-Land, wo es diese Anti-LGBTQ-Tendenzen gibt. Gibt Ihnen das zu denken?

Xavier Bettel: Heute sind es die Schwulen und die Lesben. Gestern waren es die Juden, morgen sind es die Menschen mit einer Behinderung. Ich bin nicht der schwule Regierungschef. Ich bin Regierungschef und ich bin schwul. Aber ich werde mich immer dafür einsetzen, dass man Menschen nicht in eine Schublade steckt, egal um welche Minderheit es geht.

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BETTEL Xavier

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