Interview mit Xavier Bettel im Télécran

"Mir ist wichtig, die Kaufkraft zu stärken"

Interview: Télécran (Martina Folscheid)

Télécran: Herr Premierminister, mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die verbleibenden vier Monate bis zu den Parlamentswahlen?

Xavier Bettel: Ich bin weder zuversichtlich noch ängstlich. Und auch nicht nervös oder gestresst. Ich habe ein ruhiges Gewissen. Hinter mir liegt die Covid-Krise, in der Inflations- und Energiekrise befinden wir uns immer noch. Es gab schwere Entscheidungen zu treffen, ich habe meine Verantwortung übernommen. Nun müssen die Leute mir sagen, ob sie mit der Art und Weise einverstanden sind, wie ich gearbeitet habe.

Télécran: CSV-Spitzenkandidat Luc Frieden sagte auf dem CSV-Konvent am 25. März, aus dieser Regierung sei die Luft raus. Wie lebendig ist sie denn in Ihren Augen?

Xavier Bettel: Ich kann Ihnen versichern, dass die Luft aus dieser Regierung nicht raus ist. Im Gegenteil, es herrscht große Motivation, zusammenzuarbeiten.

Télécran: LSAP-Spitzenkandidatin Paulette Lenert sprach in einem Télécran-Interview Ende Dezember vergangenen Jahres von der administrativen Vereinfachung als oberster Priorität, sollte sie Premierministerin werden - Sie sprachen sich im RTL-Neujahrsinterview dagegen aus. Welches wäre Ihre oberste Priorität?

Xavier Bettel: Luxemburg ist mit einer Inflationskrise konfrontiert, die den Menschen ein großes Loch ins Portemonnaie reißt. Dann die Energiesituation, die sehr fragil ist, der Krieg in der Ukraine, die Wettbewerbsherausforderungen für die Zukunft, das alles hat für mich Priorität. Eine administrative Vereinfachung ist auch wichtig. Ich sage nicht, dass wir sie nicht vorantreiben sollten. Aber mir ist am wichtigsten, die Kaufkraft zu stärken, damit die Betriebe weiter funktionieren können. Wenn es den Bürgern gut geht, geht es der Wirtschaft gut.

Télécran: Wie ist das überhaupt, wenn man in einer Krisenzeit wie der Pandemie Seite an Seite gearbeitet hat, ein Duo war, und nun im Wahlkampf als Konkurrenten gegeneinander antritt?

Xavier Bettel: In der Covidkrise haben wir tatsächlich jeden Tag eine Stunde lang miteinander telefoniert. Der enge Kontakt war wichtig für mich. Ich sehe Paulette Lenert nicht als Konkurrentin, sondern als die Vizepremierministerin meiner Regierung, mit der ich weiterhin arbeiten möchte. Ich kenne ja die Ideen noch nicht, die das Wahlprogramm der LSAP enthalten wird. Ich kann also nicht sagen, welche Ideen ich gut oder nicht gut finde. Aber einen Wahlkampf gegen Personen werde ich nicht führen. Ich habe mit Paulette Lenert ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, das ich auch mit einer Reihe anderer Kollegen habe.

Télécran: 23,3 Prozent im November 2022 - 27,1 Prozent im April 2023: Vor allem die CSV machte zuletzt Umfragen-Terrain gut - bereitet Ihnen dies Sorgen?

Xavier Bettel: Also ich habe jede Umfrage in den vergangenen zehn Jahren verloren. Aber die Wahlen sind zwei Mal gut ausgegangen. Also warte ich einfach ab. Ich werde alles tun, um die Menschen zu überzeugen, dass ich motiviert bin, um meine Arbeit als Premier weiterzuführen.

Télécran: Die vergangenen Jahre mit der Pandemie haben auch hässliche Seiten der Luxemburger Gesellschaft hervorgebracht. Ihre Hausfassade wurde mit Eiern beworfen, in Gesängen wollte man Sie gar hängen. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Xavier Bettel: Ich beschwere mich nicht. Wenn man Politiker ist und Verantwortung übernimmt, dann weiß man, dass man das Amt nicht nur innehat, um zu gefallen, sondern um Verantwortung zu übernehmen. Entscheidungen passen nun mal nicht jedem, so ist das in einer Demokratie. Es ist schwerer für meinen Partner. Er ist mit mir verheiratet, aber er hat nicht beschlossen, in die Politik zu gehen. Am meisten haben mich übrigens die Ereignisse auf dem Weihnachtsmarkt schockiert (am 4. Dezember 2021 stürmten Corona-Gegner den Weihnachtsmarkt in der Hauptstadt, Anm. d. R.). Die Proteste trafen Familien mit Kindern, die in ihrer Freiheit komplett eingeschränkt wurden. Dann die Vergleiche mit dem Holocaust, das alles hat mich mehr getroffen.

Télécran: Wie würden Sie den aktuellen Zustand der Luxemburger Gesellschaft beschreiben?

Xavier Bettel: Gut. Man hat ja gesehen, dass die Zustimmung der Menschen zu den Corona-Maßnahmen groß war. Die Gegner waren in der Minderheit, aber auch diesen Menschen muss man zuhören und ihre Sorgen ernst nehmen - zumindest die, mit denen man diskutieren kann.

Télécran: Haben Sie also nicht den Eindruck, dass auch in Luxemburg sehr konservative oder rechte Kräfte erstarken - so wie in anderen europäischen Ländern?

Xavier Bettel: Ich weiß nicht, ob es konservative oder nicht konservative Menschen waren. Ich weiß nur, dass es Menschen waren, die, berechtigt oder unberechtigt, aber für sie berechtigt Ängste und Sorgen hatten, die sich nicht ernst genug genommen fühlten. Aber andere Menschen bedrohen - das geht zu weit. Für einen liberalen Premierminister war es schwer, Freiheiten einzuschränken. Dies gehörte zu den schwersten Entscheidungen in meiner Laufbahn.

Télécran: Welche Fehler in dieser Legislaturperiode werfen Sie sich vor? Was hätten Sie anders machen können?

Xavier Bettel: Wissen Sie, ich war noch nie von so vielen Experten umgeben wie in der Covidkrise. Jeder wusste, was zu tun sei. Spielplätze öffnen oder schließen, Zusammentreffen an Weihnachten, ja oder nein. Es gab Spezialisten in der Chamber und Abertausende auf Facebook. Vielleicht hätte man rückblickend das ein oder andere anders machen können, aber man hatte die Informationen in dem Moment nicht. Hinterher ist man oft schlauer.

Télécran: Gibt es abgesehen von Covid Punkte, in denen Sie rückblickend anders hätten handeln können?

Xavier Bettel: Ich bin froh, dass wir bei allen Tripartiten mit den Sozialpartnern übereingekommen sind. Vor allem, wenn ich sehe, dass der Sozialdialog in den Nachbarländern nicht perfekt funktioniert. Es gibt keinen Punkt, den wir hätten ganz anders angehen müssen.

Télécran: Worauf sind Sie rückblickend besonders stolz?

Xavier Bettel: Dass wir die Tripartiten, den Sozialdialog bewältigt haben, dass aus der Covidkrise keine Wirtschafts- und Sozialkrise entstanden ist, weil wir viel Geld investiert haben. Weil wir dies taten, konnten wir andere Investitionen natürlich nicht tätigen. Aber ich bedauere nichts, denn es waren in dem Moment die richtigen Entscheidungen. Bei der Energiekrise bekam ich zu hören, der Tankrabatt und die Energiepreisdeckelungen seien das falsche Signal. Stattdessen lautete der Vorschlag, der Bevölkerung auszugeben, sie solle weniger verbrauchen, dann würde das schon gehen. Nein! Wir müssen aufpassen, dass die Inflation einerseits den Menschen nicht zu tief in die Tasche greift und zum anderen die Wirtschaft erlahmen lässt. Ich bin überzeugt, dass die fünf Milliarden Euro, die wir in den zwei Krisen investiert haben, notwendig waren. Ich bereue nichts. Und bin froh, dass wir das so unkompliziert gehandhabt haben — in puncto Energiekrise zum Beispiel ohne Formulare, die jeder ausfüllen und einreichen musste. Es war eine schwere Zeit, aber wir haben zusammengehalten. Das ist eine Stärke dieses Landes.

Télécran: Sie halten nichts von zeitlicher Mandatsbegrenzung. Warum nicht?

Xavier Bettel: Bei dem 2015 abgehaltenen Referendum stimmten knapp 70 Prozent der Bürger gegen eine Mandatsbegrenzung für Minister. Eine klare Botschaft. Die Bevölkerung will keine Begrenzung. Ich stelle momentan fest, und tat dies auch bereits in der Covidkrise, dass meine im Laufe der Jahre gewachsenen internationalen Kontakte Gold wert sind. Dass ich den französischen Präsidenten auf dem Handy anrufen und sagen konnte: Schließen Sie bitte Ihre Grenzen nicht, sonst kann ich unsere Spitäler schließen, weil wir dann kein Pflegepersonal mehr haben. Es hilft, wenn man durch eine lange Amtszeit eine Verbindung zu dem ein oder anderen Regierungs- oder Staatschef aufgebaut hat. Das hatten die anderen Premierminister vor mir auch. Es gehört zu den Traditionen unseres Landes, mit den Nachbarstaaten enge Beziehungen zu pflegen.

Télécran: Wie hat sich die Bedeutung Luxemburgs im europäischen Gefüge in den zwei Legislaturperioden verändert?

Xavier Bettel: Wir haben immer schon auf Zusammenarbeit, Solidarität, gemeinsame Friedensprojekte gepocht, den proeuropäischen Gedanken gepflegt. Wir wissen, was Europa uns bringt. Luxemburg ist kein Fähnchen im Wind, das alle fünf Jahre seine Positionen ändert. Wir sind ein glaubwürdiger europäischer Partner.

Télécran: Ist Luxemburgs Rolle denn bedeutender geworden in den vergangenen Jahren?

Xavier Bettel: Also mir wird immer gesagt, dass Luxemburg traditionell gerne mal "punch over his weight" betreibe, also sich mit Stärkeren anlege. Schon immer, ob unter Premierminister Jacques Santer, Pierre Werner, Jean-Claude Juncker. Und heute sei das auch noch der Fall. Ich kann dazu nur sagen: Wir sind das zweitkleinste Land in Europa. Und haben keine Komplexe aufgrund unserer Größe - im Gegenteil.

Télécran: Sollten Sie nicht erneut Premierminister werden - ist das europäische oder internationale Parkett eine Option für Sie?

Xavier Bettel: Ich muss Ihnen sagen, ich denke momentan nicht darüber nach, ich habe mir die Frage noch nicht gestellt. Mein Ziel ist es, Luxemburgs Premier zu bleiben. Das ist mein Wunsch.

Télécran: Sollten Sie nun nicht erneut Premierminister werden, würden Sie in einer Regierung mit Luc Frieden als Premierminister ein Ministeramt bekleiden wollen?

Xavier Bettel: Also mir geht es um den Inhalt. Ich will nicht Premier bleiben, um Premier zu sein. Mir geht es darum, dass meine Partei gestärkt wird. Aber sollte ich zu dem Wahlprogramm meiner Partei nicht stehen, dann stehe ich für dieses Amt nicht zur Verfügung. Es geht mir nicht um ein Büro oder um einen Titel. Sondern um die Politik, die ich machen kann.

Télécran: Aber welches Ministeramt würde Sie denn reizen?

Xavier Bettel: Pardon, aber ich habe mir diese Frage nicht gestellt. Genau wie ich mir die europäische Frage nicht gestellt habe. Es gibt kein wichtiges oder weniger wichtiges Ministerium. Es geht um das Programm, der Titel ist mir egal. Ich habe auch schon rote Linien angekündigt.

Télécran: Welche sind das?

Xavier Bettel: Die Arbeitszeitverkürzung. Vielleicht sollte man eine Jahresarbeitszeit einführen. Aber nun einfach pauschal eine 38- oder 36-Stunden-Woche festzulegen mit all den Konsequenzen, die das haben würde. Wenn man zum Beispiel bedenkt, dass eine 36-Stunden-Woche automatisch eine Preiserhöhung von zehn Prozent zur Folge hätte...Manch einer tut so, als gäbe es eine Schablone, die auf das ganze Land passt. Das ist falsch! Jeder Sektor ist anders aufgestellt. Man muss mit den Betrieben gemeinsam darüber diskutieren. Zweitens die Erbschaftssteuer, da gibt es ja auch Parteien, die diese fordern. Ich weiß nicht, ob sie sich trauen, dies in ihrem Programm festzuhalten, aber auch dies ist ein Punkt, der mit mir nicht drin ist. Drittens würde ich eine Abschottung Luxemburgs von Europa nicht mitmachen.

Télécran: Wären Sie nochmal gerne Bürgermeister der Stadt Luxemburg? Sie haben einmal gesagt, als Stadtbürgermeister sei alles viel schneller gegangen von den Abläufen her....

Xavier Bettel: Ja, das stimmt. (lacht) Zu der Zeit habe ich ein Telefonat geführt, eine Unterschrift getätigt und dann nahm etwas seinen Lauf. Jetzt gibt es einen wesentlich längeren Instanzenweg: den Regierungsrat, die Chamber, den Staatsrat, dann wieder die Chamber. Das dauert alles viel länger, aber man gestaltet halt ein Land, nicht eine Stadt. Das vermisse ich manchmal schon, weil ich das Prinzip Aktion-Reaktion mag.

Télécran: Vielleicht dann also irgendwann nochmal das Amt des Bürgermeisters?

Xavier Bettel: Ah, das weiß ich nicht. Ich hoffe, nicht so schnell, denn ich bin ja froh da, wo ich bin. (lacht) Ich hoffe, dass es im Oktober gut ausgeht für mich und ich Premier bleibe.

Télécran: Wie unterstützt Ihr Mann Sie in Ihrem Amt? Berät er Sie?

Xavier Bettel: Ja, jeden Tag. Es tut gut, mit jemandem über alles zu sprechen, der nicht dem Mikrokosmos Politik angehört. Es gab zum Beispiel in der Covidkrise vor Weihnachten einmal die Diskussion, ob man Angehörige aus Pflegeheimen für einen Tag mit nach Hause nehmen könne. Ich unterhielt mich mit meinem Mann darüber, und er fragte mich, wie ich der Bevölkerung erklären wolle, dass während 364 Tagen im Jahr Covid vorhanden ist und an einem Tag nicht? Dieses Argument hat mich überzeugt. Und hinterher sah man ja in Italien und anderen Ländern wie Portugal, wozu dies geführt hatte, wie die Infektionszahlen in die Höhe schnellten. Wir hingegen konnten die Restaurants wieder öffnen, weil es keine Welle gab. Der eine Tag Freude hätte vielleicht drei Monate Leid mit sich gebracht. Dies ist ein Beispiel, er ist ein Kamerad. Er ist die Schulter, an die man sich lehnt, wenn man sich nicht gut fühlt. Das Ohr, das man braucht, wenn man reden muss. Ich habe großes Glück, ihn zu haben. Natürlich habe ich tolle Berater und ein super Team. Aber es ist eben auch schön, zuhause jemanden zu haben, mit dem man sich austauschen kann. Das tut gut.

Télécran: Herr Premierminister, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Zum letzten Mal aktualisiert am